Montag, 12. Dezember 2022

«Bei den Klimaprotesten kommt niemand zu Schaden, man wird nur genervt – das ist legitim»

 Watson hier  INTERVIEW   11.12.2022,Dennis Frasch

Neue Klimaprotestgruppen kleben sich an die Strasse oder bewerfen Kunst mit Suppe, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das sei nicht nur legitim, sondern funktioniere auch, sagt Protestforscher Daniel Mullis.

Herr Mullis, würden Sie sich aus Protest an die Strasse kleben?

Daniel Mullis: Nein. Als Wissenschaftler habe ich eine andere Rolle. Aber ich halte es deswegen nicht per se für falsch.

Also halten sie die aktuellen Klimaproteste für gerechtfertigt?

Ja. Einem guten Protest gelingt es, Aufmerksamkeit zu erregen und eine gesellschaftliche Debatte auszulösen. Das schafft die Klimabewegung. Im besten Fall führt das zu einer Veränderung. Wobei es bei gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie den Klimaprotesten schwierig ist, unmittelbaren Erfolg zu messen.

«Angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen die Welt steht,
muss eine demokratische Gesellschaft das aushalten können.»

Vereine wie Renovate Switzerland erreichen mit zivilem Ungehorsam sehr viel Aufmerksamkeit. Hat es Platz dafür in unserer Gesellschaft?

Diese Art des Protests hat eine lange Tradition und gehört zum klassischen Baukasten von sozialen Bewegungen. Da werden Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten begangen. Aber solange sie sich im Kontext einer demokratischen Debatte bewegen, halte ich das für legitim.

Inwiefern bewegen sich Straftaten im Kontext einer demokratischen Debatte?

Die Aktivisten der aktuellen Klimabewegung greifen nicht zu zivilem Ungehorsam, um Regierungen zu stürzen. Sondern um den Regierenden nahezulegen, dass sie jetzt handeln müssen. Das zeigt ja gerade, dass sie die demokratischen Normen und Prozesse respektieren. Das mag nerven. Aber angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen die Welt steht, muss eine demokratische Gesellschaft das aushalten können.

Der Umstand heiligt also die Mittel.

In dieser Form schon. Es sind aber nicht alle Formen des Protests legitim, nur weil die Lage prekär ist.

Wo zieht man denn die Grenzen?

Ich sehe die Grenzen dort erreicht, wo Menschen gefährdet werden. Aber eine universelle Grenze gibt es nicht. Das kommt immer auch auf den historischen und politischen Rahmen an, in dem protestiert wird.

Die Suffragetten verübten vor über 100 Jahren unzählige Anschläge in London. Am Ende erkämpften sie sich das Frauenstimmrecht. Würden Sie ihnen die Legitimität nachträglich absprechen?

Nein. Aber die Gesellschaft hat sich in den vergangenen 100 Jahren stark verändert. Ich würde behaupten, dass ein Menschenleben heute mehr wert ist als damals. Gewalt wird heute mit Sicherheit weniger als Mittel toleriert. Und es gibt heute in liberalen Demokratien und insbesondere in der Schweiz viel mehr Möglichkeiten, sich politisch hörbar zu machen.

«Die Privilegien der westlichen Gesellschaften stehen auf dem Prüfstand.
Das kann zu heftigen Reaktionen führen.»

Ein weiteres Beispiel: Der Grüne Chaim Nissim, ehemaliges Mitglied des Genfer Kantonsparlaments, beschoss 1982 die AKW-Baustelle von Creys-Malville mit einer Panzerfaust. Legitim oder nicht?

Wie gesagt: Es gibt keine allgemeingültige Regel. Letztlich muss eine Gesellschaft das entscheiden. Nissim selbst legte Wert darauf, dass die Aktion gewaltfrei gewesen und niemand zu Schaden gekommen sei. Das sahen andere verständlicherweise anders. Auch im jetzigen Fall kommen keine Leute zu Schaden. Sie werden nur genervt. Und da kann ich als Protestforscher sagen: Das ist legitim.

Krieg und Pandemie haben dem Klimawandel das Rampenlicht gestohlen. Muss man die Menschen aus ihrem Alltag reissen, um ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Thema zu lenken?

Ohne die Protestaktionen der letzten Wochen und Monate wäre der Klimawandel jetzt nicht so präsent in der gesellschaftlichen Diskussion. In dieser Hinsicht hat ihre Strategie Erfolg.

Aber ist Aufmerksamkeit alles? Den Protestgruppen schlägt eine enorme Welle des Hasses entgegen. Sie werden sogar als Terroristen beschimpft.

Dieser Vorwurf ist völlig haltlos und ich halte es für fast ausgeschlossen, dass sich die aktuellen Klimagruppen in diese Richtung bewegen. Aber die Reaktionen zeigen deutlich, dass es um viel geht. Den Menschen wird unmissverständlich aufgezeigt, dass ihr Wohlstand und die damit verbundenen Emissionen nicht zukunftsfähig sind. Die Privilegien der westlichen Gesellschaften stehen auf dem Prüfstand. Das kann zu heftigen Reaktionen führen.

Getreu dem Motto: Getroffene Hunde bellen?

Genau. In Deutschland ist das Auto etwa ein fast unantastbares Heiligtum. Die Proteste auf der Strasse treffen einen Nerv.

Auch in den Medien hagelt es Kritik. Wieso?

Ich sehe momentan eine Art medialen Überbietungswettbewerb – Politiker aus SVP oder CDU/CSU streiten sich um die dramatischsten Aussagen. Die Medien spielen da gerne mit. Die ganze Diskussion über Terrorismus oder den «Klima-RAF» hat sich etwas verselbstständigt. Diese Vorwürfe entbehren jeglicher Evidenz. Ich kaufe den Politikern nicht ab, dass sie das selbst wirklich glauben. Das dient eher der Profilierung.

Politikerinnen werfen den Protestgruppen auch vor, dass man dank ihnen nicht mehr über das Klima spricht, sondern nur noch über Tomatensuppen, Kunst und angeleimte Hände.

Diesen Eindruck teile ich nicht. Im jüngsten Sorgenbarometer steht die Sorge um den Klimawandel wieder an erster Stelle. Ich halte es für etwas platt, wenn Politikerinnen und Politiker bemängeln, dass jetzt nichts mehr gemacht wird fürs Klima. Denn das wäre genau ihre Aufgabe. Sie haben es in der Hand, aus der Diskussion Taten folgen zu lassen und damit dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen.

«Diese Proteste werden uns noch lange begleiten.»

Umfragen zeigen, dass die Proteste von Renovate Switzerland und Co. auf wenig Gegenliebe in der Bevölkerung stossen. Muss ein Protest beliebt sein, um erfolgreich zu sein?

Nein. Stünde ich stundenlang im Stau wegen einer Strassenblockade, wäre ich auch sehr genervt – obwohl ich die Proteste für legitim halte. Dieses Abstraktionsvermögen traue ich auch anderen Personen zu.

2019 färbte Extinction Rebellion die Limmat in Zürich giftgrün. Die Aufmerksamkeit war ihnen danach gewiss. Viel verändert hat sich seither jedoch nicht. Was glauben Sie, wird von dieser Protestwelle bleiben?

Ich glaube, wir erleben erst den Anfang. Diese Proteste werden uns noch lange begleiten. Sie müssen sehen: Es ist für europäische Gesellschaften das erste Mal in sehr langer Zeit, dass ihnen ein Wandel von aussen aufgedrängt wird. Viele gesellschaftliche Umwälzungen hätte es rein theoretisch nicht geben müssen. Der Klimawandel hingegen wird kommen. Dinge werden sich ändern. Ob die Gesellschaft das will oder nicht. Das wird noch zu langanhaltenden Auseinandersetzungen führen. Eine Auswertung wird man dann vielleicht in 30 Jahren machen können.

Die Klimabewegung beruft sich oft auf eine Studie einer Harvard-Professorin, wonach es nur 3,5 Prozent der Bevölkerung benötige, um selbst das repressivste Regime zu stürzen. Was halten Sie davon?

Da bin ich etwas skeptisch. In der Klima-Frage braucht es weit über 3,5 Prozent. Es zeigt sich bereits seit einiger Zeit eine Dissonanz zwischen dem Willen der Bevölkerung für härtere Klimamassnahmen und was die Politik effektiv unternimmt.

Woher kommt diese Dissonanz?

Da kommen wir wieder zurück an den Anfang. Die Politik handelt interessenorientiert, auch mit Blick auf ihre Klientel. Wirkungsvolle Massnahmen fürs Klima würden die Wirtschaft, den Wohlstand und die Privilegien von vielen beeinflussen.

Herr Mullis, letzte Frage: Was bringen diese Proteste eigentlich, wenn sich in Ländern wie China, Indien oder den USA kaum etwas ändert?

Der arabische Frühling startete mit einem einzigen Mann, der sich in einem kleinen Dorf in Tunesien selbst anzündete. Eine kleine Protestgruppe in der Schweiz kann ein grosses mediales Echo erzeugen, Nachahmer in anderen Ländern finden und vielleicht gehen einige europäische Regierungen deswegen in Zukunft anders in Klimaverhandlungen. Das alles ist mühsam und nervig. Aber so funktioniert Demokratie.


Zur Person

Dr. Daniel Mullis stammt aus Bern, lebt und arbeitet mittlerweile aber in Deutschland. Für die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung am Leibniz-Institut forscht er zu sozialen Bewegungen und zivilem Ungehorsam.

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