NZZ hier Richard Haass 25.12.2022
GASTKOMMENTAR: Zehn Lehren aus der Rückkehr der Geschichte
Das Jahr 2022 wird als Zäsur in die Geschichte eingehen. Die Rückkehr des Krieges nach Europa, die vielen als denkunmöglich galt, hat Illusionen zerstört und Gewissheiten zertrümmert. Der Westen täte gut daran, fortan mit dem Unberechenbaren zu rechnen.
Kaum jemand wird 2022 vermissen. Das Jahr war bestimmt von einer hartnäckigen Pandemie, dem Fortschreiten des Klimawandels, von galoppierender Inflation, einem sich verlangsamenden Wirtschaftswachstum und vor allem dem Ausbruch eines kostspieligen Krieges in Europa und der Sorge über womöglich bald in Asien ausbrechende gewaltsame Konflikte. Einiges davon war zu erwarten, vieles jedoch nicht. Und alles legt Lehren nahe, die zu ignorieren gefährlich wäre.
Erstens gibt es den Krieg zwischen Ländern, den eine ganze Reihe von Wissenschaftern für ein Ding der Vergangenheit hielt, nach wie vor. Was wir derzeit in Europa erleben, ist ein altmodischer imperialer Krieg, in dem der russische Präsident Wladimir Putin versucht, die Ukraine als souveränen, unabhängigen Staat auszutilgen. Putin will sicherstellen, dass ein demokratisches, marktorientiertes, an engen Beziehungen zum Westen interessiertes Land entlang Russlands Grenzen nicht erfolgreich bestehen kann. Es würde zu einem Modell werden, das sich für die Russen als attraktiv erweisen könnte.
Verlust der Illusionen
Freilich hat Putin den schnellen und einfachen Sieg, den er erwartet hatte, nicht erreicht. Vielmehr musste er feststellen, dass seine eigene Armee weniger stark ist und seine Gegner deutlich entschlossener sind, als er und viele im Westen erwartet hatten. Nach zehn Monaten Krieg ist noch immer kein Ende absehbar.
Zweitens ist die Vorstellung, dass wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit ein Bollwerk gegen den Krieg darstelle, weil niemand Interesse daran haben könne, für alle Seiten vorteilhafte Handels- und Investitionsbeziehungen zu destabilisieren, nicht länger haltbar. Politische Erwägungen haben Vorrang. Tatsächlich dürfte die starke Abhängigkeit der Europäischen Union von russischen Energielieferungen Putins Entscheidung zur Invasion sogar beeinflusst haben, indem sie ihn zu dem Schluss verleitete, dass Europa klein beigeben würde.
Die Demokratien stehen vor erheblichen Herausforderungen, doch die Probleme autoritärer Systeme sind womöglich noch grösser.
Drittens ist auch der Wille zur Integration, der jahrzehntelang die westliche Politik gegenüber China beseelte, gescheitert. Auch diese Strategie beruhte auf der Vorstellung, dass Wirtschaftsbeziehungen – zusammen mit dem Austausch auf kultureller, wissenschaftlicher und sonstiger Ebene – die politische Entwicklung bestimmen würden und nicht umgekehrt und dass dies zur Entstehung eines offeneren, stärker marktorientierten China führen würde, das auch eine gemässigte Aussenpolitik verfolgen würde.
Nichts davon hat sich bewahrheitet, obwohl man darüber debattieren kann und sollte, ob der Fehler im Konzept der Integration liegt oder in der Art seiner Umsetzung. Klar ist jedoch, dass Chinas politisches System zunehmend repressiver wird, seine Wirtschaft sich immer stärker in Richtung Staatsdirigismus bewegt und seine Aussenpolitik an Aggressivität zunimmt.
Viertens führen Wirtschaftssanktionen selten zu nennenswerten Verhaltensänderungen, auch wenn sie vielfach das bevorzugte Instrument des Westens und seiner Partner bei Menschenrechtsverstössen oder der Aggression gegen andere Länder sind. Selbst ein so eindeutiger und brutaler Angriff wie Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die meisten Regierungen weltweit nicht dazu gebracht, Russland diplomatisch oder wirtschaftlich zu isolieren. Auch wenn die vom Westen ausgehenden Sanktionen Russlands wirtschaftliche Basis untergraben könnten, haben sie Putin nicht einmal im Ansatz zu einer Änderung seiner Politik bewegt.
Wie weiter mit dem Multilateralismus?
Fünftens sollte man den Begriff der «internationalen Gemeinschaft» entsorgen. Eine derartige Gemeinschaft besteht schlichtweg nicht. Russlands Vetomacht im Sicherheitsrat hat die Vereinten Nationen zur Ohnmacht verdammt, während die jüngste Klimakonferenz in Ägypten ein kläglicher Misserfolg war.
Es gab bisher zudem kaum so etwas wie eine globale Reaktion auf Covid-19 und kaum Vorbereitungen für den Umgang mit der nächsten Pandemie. Der Multilateralismus bleibt wichtig, doch seine Wirksamkeit wird vom Abschluss enger gefasster Vereinbarungen zwischen gleichgesinnten Regierungen abhängen. Ein Multilateralismus nach dem Motto «Alles oder nichts» wird überwiegend nichts bringen.
Sechstens stehen die Demokratien offensichtlich vor erheblichen Herausforderungen, doch die Probleme autoritärer Systeme sind womöglich noch grösser. Ideologie und Überleben eines Regimes bestimmen in derartigen Systemen häufig die Entscheidungsfindung, und autoritäre Führer sträuben sich oft, eine fehlgeschlagene Politik aufzugeben oder Fehler einzugestehen, weil dies als Zeichen der Schwäche angesehen werden und öffentliche Forderungen nach grösseren Veränderungen befeuern könnte. Diese Regime müssen ständig vor der latenten Gefahr von Massenprotesten wie in Russland oder tatsächlichen Protesten wie jüngst in China und derzeit in Iran auf der Hut sein.
Siebtens ist das Potenzial des Internets, Menschen zur kritischen Infragestellung der Regierung zu befähigen, in Demokratien viel grösser als in geschlossenen Systemen. Autoritäre Regime wie in China, Russland und Nordkorea können ihre Gesellschaften abschotten, Inhalte überwachen und zensieren oder beides.
Inzwischen ist auf der Welt eine Art «Splinternet» entstanden, sprich: mehrere separate Internets. Zugleich haben sich in den Demokratien die sozialen Netzwerke als anfällig für die Verbreitung von Lügen und Falschinformationen erwiesen, was die Polarisierung verstärkt und das Regieren deutlich erschwert.
Achtens gibt es noch immer einen «Westen» (ein Begriff, der mehr auf gemeinsamen Werten beruht als auf der Geografie), und Bündnisse bleiben ein wichtiges Ordnungsinstrument. Die USA und ihre transatlantischen Partner in der Nato haben wirkungsvoll auf die russische Aggression gegen die Ukraine reagiert. Die USA haben zudem stärkere Beziehungen im indopazifischen Raum aufgebaut, um der wachsenden Bedrohung durch China zu begegnen. Dies geschah in erster Linie durch die Stärkung von Quad (Australien, Indien, Japan und die USA), Aukus (Australien, Grossbritannien und die USA) und die verstärkte trilaterale Zusammenarbeit mit Japan und Südkorea.
Ohne die USA geht es nicht
Neuntens bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika als Führungsmacht unentbehrlich. Die USA können in der Welt nicht einseitig handeln, wenn sie Einfluss haben wollen, doch wird die Welt gemeinsamen Sicherheits- und sonstigen Herausforderungen nicht geeint begegnen, wenn die USA passiv bleiben oder an den Rand geschoben werden. Häufig bedarf es der amerikanischen Bereitschaft, mit gutem Beispiel voranzugehen, statt aus dem Hintergrund zu agieren.
Und schliesslich müssen wir bescheiden sein, was die Dinge angeht, die wir zu können vermeinen. Es ist eine demütigende Erfahrung, festzustellen, dass nur wenige der obigen Lehren vor einem Jahr vorhersehbar waren. Was wir gelernt haben, ist nicht nur, dass die Geschichte zurück ist, sondern dass sie sich im Guten wie im Schlechten ihre Fähigkeit bewahrt hat, uns zu überraschen. Wir sollten dies im neuen Jahr im Hinterkopf behalten!
Richard Haass ist Präsident des Council on Foreign Relations und der Verfasser des in Kürze erscheinenden Buches «The Bill of Obligations. The Ten Habits of Good Citizens» (Penguin Press, Januar 2023). – Aus dem Englischen von Jan Doolan. – Copyright: Project Syndicate, 2022.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen