NZZ hier Oliver Pfohlmann 21.12.2022
Vielleicht ist Krise die neue Normalität. Aber was macht das mit einer Gesellschaft?
Klimakrise, Pandemie, Krieg, Energieknappheit – nach der Krise ist nicht mehr vor der Krise, weil immer Krise ist: Der Frankfurter Soziologe Stephan Lessenich untersucht in seinem Buch eine «Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs».
Leben im frühen 21. Jahrhundert, das hiess bisher: Nach der Krise ist vor der Krise. Inzwischen aber überlappen sich die Krisen sogar, das Wort von den «multiplen Krisen» macht die Runde. Da ist man gedanklich noch bei der letzten Pandemiewelle und muss plötzlich zur Kenntnis nehmen, dass mitten in Europa Krieg herrscht. Und der Ukraine-Krieg hat mehr als eine weitere Krise ausgelöst: eine Flüchtlings-, eine Weizen-, eine Energie-, eine Inflations- und natürlich auch eine Sicherheitskrise.
Kein Wunder, dass die Nerven blank liegen, zumal im Zeitalter der sozialen Netzwerke, die vor allem als emotionale Durchlauferhitzer fungieren. Kulturwissenschafter sprechen längst von einem neuen «Zeitalter der Nervosität». Konnte man sich etwa in den ersten Wochen der Pandemie noch allen Ernstes fragen: «Wann wird es endlich wieder normal?», so lautet die Frage inzwischen: «Was, wenn es nie wieder normal wird?»
Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt von Stephan Lessenichs lesenswertem Essay «Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Zusammenbruchs». Dem in Frankfurt lehrenden Soziologen geht es um zwei Fragen: Was macht es mit einer Gesellschaft, zumal der deutschen mit ihrer historisch bedingten spezifischen Sehnsucht nach Stabilität und Prosperität, wenn ihre Normalitätsbedürfnisse auf immer neue Weise und immer schneller enttäuscht werden? Und: Wie verändern sich die sozialen Dynamiken, wie reagiert vor allem die gesellschaftliche Mehrheit, die sich zwar für die Definition von Normalität zuständig glaubt, aber plötzlich ein ums andere Mal erleben muss, wie ihr ihre Normalitätskonstruktionen abhandenkommen?
Der Crashkurs namens Pandemie
Dass unsere Vorstellungen von Normalität eine gesellschaftliche Konstruktion und folglich veränderbar sind, ist keine revolutionäre Erkenntnis mehr. Es ist längst kollektives Grundwissen, vermittelt in jenem von uns allen besuchten soziologischen Crashkurs namens Pandemie. Ist es, nur als Beispiel, eigentlich noch «normal», im Supermarkt oder im öV Maske zu tragen – oder ist es schon wieder normal? Zugleich können zwischen dem, was Regeln oder Gesetze festlegen, und dem, was die Menschen im Alltag tun, mitunter Welten liegen.
Diese Erfahrung musste 2016, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, der damalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer machen, als er sich zu der Aussage hinreissen liess, «das Schlimmste» für die deutsche Ausländerpolitik sei «ein fussballspielender, ministrierender Senegalese» – denn nach drei Jahren im Land «wirst du (den) nie wieder abschieben». Stephan Lessenich konstatiert, dass das, was Scheuer als Personifikation einer auf den Kopf gestellten (CSU-)Welt erschien, in vielen bayrischen Dörfern längst sozial akzeptierte Realität ist. Schliesslich freut man sich schon darüber, dass überhaupt noch jemand ministriert. Scheuers Ausruf dagegen sei, so Lessenich, der «Ausdruck von Irritation und Vergewisserungsbedarf» gewesen, die «mehr oder weniger händeringende Suche nach identitärer Bestätigung».
Auf rund 150 Seiten untersucht Lessenich in so komprimierter wie anregender Form die Reaktionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf krisenhafte Veränderungen. Als Beispiele dienen ihm dabei neben der Finanzkrise von 2008, der Migrationskrise von 2015 sowie den Debatten um «Identitätspolitik» vor allem die Klima- und die gegenwärtige Energiekrise. Die letzten beiden werden von Lessenich mit gutem Grund zusammengefasst, ist ihr gemeinsamer Hintergrund doch die selbstverschuldete Abhängigkeit des Westens von fossilen Energieträgern, ungeachtet möglicher Langzeitfolgen.
Deutsche Realitätsverweigerung
Lessenichs Analysen sind nicht durchweg neu. Etliches kennt man in seinen Grundgedanken bereits von Harald Welzer, Hartmut Böhme oder Bernd Ulrich. Aber das macht die Einsichten nicht falsch. Vor allem zeigt der Soziologe ein (gerade für die Angela-Merkel-Ära kennzeichnendes) Muster auf, wonach Krisen von der Politik typischerweise vertagt beziehungsweise mit Geld zum Schein gelöst werden, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren und die Illusion eines «back to normal» aufrechtzuerhalten: nach der Lehman-Pleite durch «gekaufte Zeit» in Form exorbitanter neuer Staatsschulden, nach dem migrationspolitischen Kontrollverlust durch «gekauften Raum» in Form eines fragwürdigen Flüchtlingsabkommens mit der Türkei.
Wie die derzeitige Energiekrise zeige, funktioniere aber selbst dieser Lösungsmodus nicht mehr, so Lessenich. Und schon gar nicht wolle sich die Mehrheitsgesellschaft eingestehen, wie sehr das westliche Wohlstandsmodell – die Basis unseres geliebten «Normalzustandes» – all diese untereinander ja auf vielfache Weise vernetzten, sich gegenseitig verstärkenden Krisen überhaupt erst produziere. In der Tat: Vermutlich verdeutlicht kaum etwas die anhaltende Realitätsverweigerung der deutschen Mehrheitsgesellschaft besser als der Umstand, dass in diesem Land «erst die Hassfigur Putin (. . .) die Einführung eines Tempolimits überhaupt in den Bereich des gesellschaftlich Denkbaren» rücken liess.
Nur folgerichtig sei es daher, dass unser «Wille zur Normalität» immer mehr ins Leere laufe, sich in Selbstbeschwörungsformeln erschöpfe («Wir schaffen das»), die vielzitierte gesellschaftliche Spaltung produziere oder zum Aufstieg von Affektpolitikern à la Trump mit ihren regressiven (und repressiven) Politikvorhaben führe. Tatsächlich laufen deren Politikversprechen typischerweise auf das illusionäre Versprechen hinaus, dass die Rückkehr in eine gute alte Zeit möglich sei. Will man die Botschaft von Lessenichs Gesellschaftsdiagnose auf eine Formel bringen, so könnte man Robert Musil zitieren, der einmal schrieb: «Man soll nach vorwärts reformieren und nicht nach rückwärts.»
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