Samstag, 31. Dezember 2022

Ein Land funkt SOS - Deutschland an der Belastungsgrenze

Focus hier  Freitag, 30.12.2022

Schon während der Corona-Pandemie fragte sich das Ausland angesichts der Pannen hierzulande, was in Deutschland los sei. Eine Reise durch ein Land voller Herausforderungen. Von Deutsche-Welle-Autor Oliver Pieper

Bonn, Ende November, Bericht der Bundesnetzagentur: Deutschlands Mobilfunk-Netzbetreiber Telefonica Deutschland, die Deutsche Telekom und Vodafone hatten sich zwar verpflichtet, bis Ende 2022 in 500 bisherigen weißen Flecken neue Funkstationen zu bauen. Geschehen ist das in gerade einmal 95. Knapp drei Prozent der Fläche Deutschlands steckt immer noch im Funkloch, Gebiete, in denen weder 4G/LTE- noch 5G-Funksignale empfangen werden können.

Lüdenscheid, 2. Dezember: Die Brücke der Autobahn 45 in Nordrhein-Westfalen feiert Jahrestag, sie ist seit 365 Tagen für den gesamten Verkehr gesperrt. Die Schäden an der Brücke sind so schwerwiegend, dass sie auch für PKW nicht wieder freigegeben werden kann. Seitdem wurde die Brücke weder gesprengt noch Aufträge für den Neubau vergeben. Pendler fahren seit zwölf Monaten über Umleitungsstrecken und stehen teils stundenlang im Stau. Bundesweit sind 4000 Brücken in einem kritischen Zustand und müssten zügig saniert werden.

Twitter-Eintrag vom 4. Dezember: „Die ICEs Hamburg-Berlin sind so überbucht, dass sie 20-30 Min lang nicht abfahren können. Die Züge fahren nur noch im Schritttempo ein, DB-Personal und Menschen ohne Reservierung sollen wieder raus. Erwachsene Menschen verstecken sich auf dem Klo oder blockieren mit Koffern.“ Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, sagt: „Die Eisenbahner und ich schämen uns für das, was wir der Gesellschaft bieten.“

Lehrermangel, Erziehermangel, Pflegemangel

Hohenstein-Ernstthal, Sachsen, 12. Dezember: Weil der Unterricht ständig ausfällt, schreiben verzweifelte Mütter und Väter dem Kultusminister einen Brandbrief. Der Lehrplan an der Sachsenring-Oberschule: Religion wird nicht mehr unterrichtet. Biologie fällt in der achten Klasse aus. In der Sieben gibt es keinen Unterricht mehr in Musik und Gemeinschaftskunde. In nur drei Fächern wird der Unterricht nicht gekürzt. An deutschen Schulen fehlen bis zu 40.000 Lehrer, Sachsen-Anhalt sucht seine Lehrkräfte jetzt per Speeddating. Zur gleichen Zeit wird eine Studie der Bildungsforscher veröffentlicht: Jeder fünfte Grundschüler erreicht nicht die Mindeststandards für Deutsch und Mathematik.

Rheinberg, 13.Dezember: Weil die städtische Kita krankheitsbedingt zwei Tage schließen muss, und das nicht zum ersten Mal, platzt einer Mutter der Kragen. Sie packt ihren Sohn, marschiert zum Stadthaus, um ihren Sohn beim Bürgermeister zur Betreuung abzugeben. Der unterbricht völlig verdutzt einen Termin, um mit der Mutter zu sprechen. Sie berichtet ihm von einer anderen Mutter, die am Vortag ihre lebensnotwendige Chemotherapie nicht machen konnte, weil sie ihren Sohn nicht in die Betreuung bekommen hat. Über 100.000 Erzieherinnen und Erzieher werden in Deutschland gesucht.

Anonyme Aussage einer Pflegefachkraft in der ZDF-Sendung Frontal, 13. Dezember, über ihre Schicht in der Notaufnahme: „Ich habe erlebt, dass im Verlauf der Wartezeit, die in den Notaufnahmen mittlerweile bis zu 40 Stunden beträgt, man den Patienten in diesen 40 Stunden kaum mehr zu Gesicht bekommt. Und wenn man dann irgendwann ins Zimmer geht, dann liegen die Patienten da und sind gestorben, obwohl sie nicht hätten sterben müssen.“ Auf den Intensivstationen der Krankenhäuser fehlen 50.000 Pflegekräfte.

Kinderkliniken am Limit, Panzer-Desaster, keine Medikamente

Berlin, Hilferuf einer Kinderkrankenschwester, 14. Dezember: „Wir haben einfach kein Personal. In den Jahrzehnten, die ich in der Klinik arbeite, habe ich noch nie so eine hohe Fluktuation in der Pflege und bei den Ärzten erlebt. Wer von uns noch da ist, kraucht auf dem Zahnfleisch, um irgendwie die Versorgung aufrecht zu erhalten.“ Wegen Personalmangels können 40 Prozent der Intensivbetten in den Kinderkliniken nicht belegt werden. Erkrankte Kinder aus Berlin mussten teilweise bis ins 200 Kilometer entfernte Rostock verlegt werden.

Berlin, Brandmail von Generalmajor Ruprecht von Butler an den Inspekteur des Heeres nach einer Schießübung, veröffentlicht vom Magazin „Der Spiegel“ am 17. Dezember. Von 18 hochmodernen Schützenpanzern Puma sei kein einziger einsatzbereit: „Sie können sich vorstellen, wie die Truppe die Zuverlässigkeit des Systems Puma nun bewertet, die Einsatzbereitschaft des Fahrzeugs wird trotz aller guten Vorbereitungen zum Lotteriespiel.“

Vor 20 Jahren hatte die Bundeswehr 350 Exemplare des hochmodernen Schützenpanzers bestellt, zu einem Stückpreis von 7,6 Millionen Euro. Heute kostete das Gerät etwa 17 Millionen und ist immer noch nicht kriegstauglich. Und der Puma ist nicht die einzige Baustelle bei der Bundeswehr: Massive Probleme gab es in der jüngeren Vergangenheit unter anderem auch bei Panzerhaubitzen, Sturmgewehren, Hubschraubern oder U-Booten.

Irgendwo in Deutschland, Samstag, 17. Dezember: Ein Kind leidet an Fieber, Halsschmerzen und geröteten Mandeln, in der Bereitschaftspraxis für Kinder erhält die Mutter die Diagnose „Streptokokken A“. Keine der vielen Apotheken, welche die Mutter abtelefoniert, hat das verschriebene Penicillin vorrätig. Der Zustand des Kindes verschlechtert sich von Stunde zu Stunde, die verzweifelte Mutter erhält in einer Online-Sprechstunde das Rezept für ein Ersatzantibiotikum.

Doch auch dies ist in keiner Apotheke zu haben. Am Ende erhält sie das Medikament durch eine fremde Mutter, über eine Whatsapp-Gruppe, die eine noch nicht geöffnete Packung zu Hause hat. Sieben Stunden sind in der Zwischenzeit vergangen. Auf der Lieferengpass-Liste des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte sind 330 Medikamente aufgelistet, vor allem Fiebersäfte für Kinder sind in deutschen Apotheken kaum zu bekommen.

Kalte Klassenzimmer, kranke Ärzte, lahme Digitalisierung

Bergisch Gladbach, Sonntag, 18. Dezember. An einer Realschule fällt die Zentralheizung aus. In allen Räumen fällt die Temperatur auf kühle zehn Grad. Tagelang kann kein Unterricht stattfinden. Am Mittwoch ist die Heizung immer noch kaputt, Prüfungen gibt es nur in ein paar wenigen Räumen der Schule, die behelfsweise mit elektrischen Radiatoren beheizt werden müssen. „Kinder dürfen in der Schule nicht frieren“, hatte die amtierende Vorsitze der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, bereits im Oktober angemahnt.

Twitter-Eintrag aus einer deutschen Klinik, Dienstag, 20. Dezember: „Heute bei mir drei Ärzte krank, plus vier medizinische Assistenten, inklusive Schmerztherapie. [...] Auf Intensivstation viele krank. Morgen Krisensitzung wegen den Feiertagen. Ich habe die Schnauze voll! Ich mache das nicht mehr mit!“ Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, warnt: „Wir dürften beim Personal mittlerweile bei einem Ausfall von neun bis zehn Prozent liegen, das heißt, fast jeder zehnte Mitarbeiter ist erkrankt.“

Donnerstag, 22.Dezember: Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund über ein Gesetz, demzufolge eine Online-Beantragung des Führerscheins bis Ende 2022 in Deutschland möglich sein soll, die Kommunen mit der Digitalisierung aber nicht hinterherkommen: „Wir sind eben ein sehr bürokratisches Land mit einer sehr komplizierten Struktur. Wir haben Ausstattungs- und Personalprobleme. Es genügt ja nicht zu sagen, wir wollen alles online machen. Sie müssen die Leute und Systeme schulen.“ Beim Digitalisierungsgrad der Behörden belegt Deutschland unter 35 europäischen Ländern nur den 21. Platz.

Energiewende zu langsam, Deutsche Bahn auch

Bonn, Donnerstag, 22. Dezember: Die Bundesnetzagentur warnt davor, Wärmepumpen und E-Autos könnten das Stromnetz bald überlasten. Doch die Wartezeiten für die Installation von Wärmepumpen liegen in Deutschland bei drei bis neun Monaten. Lieferprobleme und Fachkräftemangel behindern auch die Energiewende: Es fehlen 17.000 Bauelektriker.

Donnerstag, 22. Dezember, die Rheinische Post zitiert die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Unionsfraktion zur Deutschen Bahn: „Die aktuelle Pünktlichkeitsentwicklung ist nach Auffassung der Bundesregierung nicht zufriedenstellend“. Nur noch 50 bis 60 Prozent der Fernverkehrszüge rollen demnach wie angekündigt in die Bahnhöfe ein. Die Deutsche Bahn war 2022 so unpünktlich wie nie zuvor.


WiWo  hier  von Silke Wettach  29. Dezember 2022

BLICK AUS BRÜSSEL

„Meine Überzeugung, dass in Deutschland wenig funktioniert, sitzt mittlerweile sehr tief“

Ein innovatives Industrieland, in dem alles funktioniert? Das ist lange her. Seit 20 Jahren beobachtet die EU-Korrespondentin der WirtschaftsWoche in Brüssel, wie ihr Geburtsland den Anschluss verliert. Eine Glosse.

Als mein Vater im Sterben lag, brach mein Telefongespräch im Zug laufend ab. Auf der Strecke zwischen den Großstädten München und Stuttgart bestand kein Handy-Empfang. Aber immerhin verkehrte der Zug. Als ich Monate zuvor ans Sterbebett meiner Mutter eilte, fiel der ICE ohne Angabe von Gründen aus.

Drei Jahre ist das her, und seitdem nehme ich Deutschland als Land wahr, in dem immer weniger funktioniert. Die Infrastruktur? Marode. Die Digitalisierung? Fast nicht vorhanden. Die Behörden? Ineffizient. Ich erkenne das Land, aus dem ich vor 20 Jahren weggezogen bin, nicht wieder.

Als ich in Belgien ankam, türmten sich im Finanzamt die Akten so hoch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie die je bearbeitet würden. Heute deklassiert das kleine Belgien seinen großen Nachbarn in vielen Bereichen. Ausgerechnet Belgien, wo eine Regierungsbildung schon mal so lange dauert, dass sie den Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde schafft. Ein Land, dessen Föderalismus den deutschen an Komplexität übertrifft und das dauerhaft mit einem Berg an Staatsschulden kämpft.

Aber schon während der Pandemie zeigte sich in Flandern, der Wallonie und Brüssel der Vorteil einer digitalisierten Verwaltung. Impftermine erhielt ich damals im Netz, so wie mir heute mein Hausarzt Rezepte elektronisch auf den Personalausweis schickt. Eine elektronische Gesundheitsakte verschafft allen behandelnden Ärzten den Überblick.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt bei einer Behörde war. Den Parkausweis verlängere ich vom Sofa aus. Genauso kann ich kann mir dort mit einem Klick meine Rentenansprüche ausrechnen lassen.

Deutsche Behörden finden es dagegen ganz normal, zwei identische Formulare zu schicken mit dem Hinweis, diese doch bitte per Hand auszufüllen. Offenbar verfügt das zuständige Amt noch nicht einmal über eine Fotokopiermaschine. Aber wahrscheinlich wurde der Datenschutz peinlich genau beachtet.

Es sind kleine Dinge, die mich bei Besuchen in Deutschland überraschen. In der Berliner Straßenbahn stehe ich jedes Mal aufs Neue ratlos vor dem Kartenautomaten, der ausschließlich Münzen akzeptiert. In der Tram in Brüssel reicht eine Bankkarte aus, um ein papierloses Ticket zu lösen.

Meine Überzeugung, dass in Deutschland wenig funktioniert, sitzt mittlerweile sehr tief. Wenn ich von Belgien nach Frankreich fahren will, vermeide ich Züge, die aus Deutschland kommen. Das Risiko einer Verspätung ist zu groß. „Was ist bei euch da eigentlich los?“, höre ich in Brüssel oft, wenn wieder einmal jemand entnervt von einer Deutschland-Reise zurückkommt.

Ausländer assoziieren Deutschland immer noch mit Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Als ich kürzlich in der langen Schlange vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen BER stand, fiel mir auf, dass sich nur noch die Ausländer über die schlechte Organisation wunderten. Die Deutschen haben sich offenbar längst an den neuen Normalzustand gewöhnt.

Was läuft in Deutschland falsch? Aus der Ferne fasziniert mich die Prozessorientierung in Deutschland. Fest eingespielte Abläufe scheinen wichtiger als das Ergebnis zu sein. Zu beobachten ist das bei der öffentlichen Verwaltung genauso wie in Unternehmen. Als Kundin bekomme ich eine langatmige Erklärung, was falsch gelaufen sei, statt eine schnelle Problemlösung. Was die deutschen Dysfunktionalitäten wirklich unangenehm macht, ist der Mangel an Improvisation. Im Zweifel siegt die Vorschrift.

Die Belgier sind besser, weil sie sich nicht für die Besten halten. Sie schauen ins Ausland, lassen sich von anderen inspirieren, weil auch die gute Ideen haben könnten. Wahrscheinlich schützt Weltoffenheit vor Besserwisserei. Wer weiß, wie es anderswo zugeht, wird nicht behaupten, dass der eigene Ansatz die einzig glückselig machende Methode sei.

Ich nenne Deutschland mittlerweile eine Bananenrepublik. Lange sagte ich das im Spaß. Aber der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat aufgedeckt, dass deutsche Politiker über Jahre empfänglich für die Avancen aus anderen Ländern waren. Ein Ex-Kanzler, der zum Lobbyisten einer fremden Macht mutiert, passt leider perfekt in eine Bananenrepublik.

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