Montag, 5. Dezember 2022

Die Letzte Generation ist unentbehrlich – kriminell ist der Staat

Der Freitag  hier   Ausgabe 48/2022  

Meinung Valeria Vegh Weis

Valeria Vegh Weis ist argentinisch-deutsche Kriminologin an der Freien Universität Berlin. Ihr Buch Criminalization of Activism erschien im Jahr 2021

Nach der Blockade des Berliner Flughafens durch die „Letzte Generation“ verschärft sich der Ton. Wieder einmal wird Protest kriminalisiert, die eigentlich Kriminellen aber bleiben verschont: klimazerstörende Unternehmen und Regierungen

So groß die öffentliche Wirkung der Letzten Generation ist, so gering sind die sozialen Schäden, die ihre Aktionen verursachen: wenige Verkehrsstaus, einige verspätete Flüge, verschmutzte Schutzgläser vor Gemälden. Nichts im Vergleich zu dem, was ihre Aktionen motiviert – nämlich der schwerste denkbare soziale Schaden, die Zerstörung des Planeten. Während die Kriminalisierung der Letzten Generation aber Politik und Medien vollauf beschäftigt hält, bleiben die klimaschädlichen Handlungen von Unternehmen und Regierungen weiter unterkriminalisiert.

Dies ist ein Wort, das ich als Kriminologin für die Analyse des „Zyklus der selektiven Kriminalisierung“ benutze. Er ist keineswegs neu, sondern beschreibt die Wechselwirkung des Handelns von Mächtigen und des Widerspruchs durch die Basis, die weltweit zu beobachten ist: Sei es bei indigenen Protesten gegen Großprojekte, bei den globalisierungskritischen Protesten gegen die neoliberale Politik der G7 oder bei Anti-Atom-Protesten.

Der Zyklus beginnt damit, dass von den Mächtigen verursachte schwere soziale Schäden unterkriminalisiert werden: Der Staat nimmt diese soziale Zerstörung nicht ernst. Deshalb treten Aktivistinnen auf und fordern von den Mächtigen Rechenschaft. Doch die Regierung reagiert nicht auf den Widerspruch an der Basis, und die Gesellschaft nimmt weiter Schaden. Um auf die Dringlichkeit des Problems aufmerksam zu machen, bleibt Aktivistinnen als einzig verfügbares Mittel also sozialer Protest und ziviler Ungehorsam. Einer der Letzten Generation sprach diese Frustration ausdrücklich aus: „Es macht mich verdammt wütend, dass wir das machen müssen.“

Unterkriminalisiert und überkriminalisiert

Aber auch dann richtet sich die Aufmerksamkeit der Politik nicht auf das unterkriminalisierte Grundproblem, sondern auf die Form, mit der die Aktivisten ihre Botschaft übermitteln. In der Folge werden die Demonstrantinnen auf polizeilicher Ebene überkriminalisiert. Weil aber die Aktionen der Letzten Generation nicht sehr schädlich sind (wie viele Verkehrsstaus und verspätete Flüge gibt es im Alltag?), können nur geringfügige Straftaten verfolgt werden: gefährlicher Eingriff in den Verkehr, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung.

In Deutschland bewegen wir uns, was den Klimaprotest angeht, nun auf die Radikalisierung des Zyklus zu: Die Kriminalisierung abweichender Meinungen beschränkt sich nicht mehr auf die juristische Verfolgung einzelner Aktivistinnen, sondern geht tiefer und zielt darauf ab, die gesamte Bewegung in den Augen der Bevölkerung zu delegitimieren und zu diffamieren.

Diese Phase lässt sich an sämtlichen Äußerungen deutscher Spitzenpolitiker ablesen: „Sie sind nicht nur nicht verständlich, sondern auch hochgefährlich, wie man das zum Beispiel bei den Aktivitäten am BER hat genau sehen können“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. „Heute haben die Straftäterinnen und Straftäter eine weitere Eskalationsstufe gezündet. Das zeigt, dass die verhängten Strafen bisher offensichtlich nicht geeignet waren, Wiederholungstaten zu verhindern“, sagte der Berliner FDP-Innenexperte Björn Jotzo. Bundesverkehrsminister Volker Wissing, FDP: „Die Gesellschaft kann ein solches Verhalten nicht hinnehmen.“ Der CDU-Innenminister Brandenburgs, Michael Stübgen: „Wer für seine Weltanschauung absichtlich andere in Gefahr bringt, ist kein Aktivist, sondern ein Krimineller.“

Staatlicher Diffamierungsprozess

Mit diesem Standpunkt ignoriert die deutsche Regierungspolitik die Wissenschaft erneut. Denn tatsächlich hat die Kriminologie längst bewiesen, dass eine höhere Bestrafung nicht zur Abschreckung von Verbrechen beiträgt (selbst das US-Justizministerium räumt dies ein). Weder Klimawissenschaft noch Kriminologie dringen durch: Stattdessen dreht sich die Spirale der Kriminalisierung weiter. Der staatliche Diffamierungsprozess wird von den größten Medien verstärkt, indem sie ein verzerrtes, kontextloses und gewalttätiges Bild von den Aktivisten als unkontrollierbare Bedrohung zeichnen. Eine Verschärfung der Straftatbestände wird diskutiert (und wahrscheinlich auch beschlossen).

In den Angriffen auf Klimaaktivisten zeigt sich, dass Menschen ihre eigene Verantwortung für die Klimakatastrophe nicht wahrnehmen wollen, sagt Tadzio Müller. Seinen pietätlosen Tweet nach dem Tod einer Radfahrerin bereut er

Und am Ende dieser Radikalisierung der Kriminalisierung des Basisprotests steht die letzte Phase: Die zentralen sozialen Schäden, die im Mittelpunkt der Proteste standen, bleiben unterkriminalisiert und stehen nicht zur Diskussion.

Warum also folgt Deutschland diesem unwissenschaftlichen Kreislauf der Kriminalisierung von Widerspruch? Nun, es ist ein billiger Weg, um vom wahren Verbrechen abzulenken: der Zerstörung des Planeten durch eine Handvoll privilegierter Menschen, Unternehmen und Nationen, die lieber auf die Schaffung von mehr Gefängnissen drängen als das neoliberale, profitorientierte System auch nur ein wenig zu ändern. Angesichts dieser Situation lohnt es sich, daran zu erinnern, dass der Rechtsstaat zum Schutz der wichtigsten Güter der Gesellschaft geschaffen wurde. Was also sind unsere wichtigsten Güter in dieser Gesellschaft? Der fließende Autoverkehr? Oder der jugendliche Mut zum Engagement für die Rettung des Planeten?

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