Frankfurter Rundschau hier Von: Joachim Wille 05.12.2022
Nach dramatischen Warnungen der UN versuchen die Staaten der Welt nun doch noch, die Vielfalt der Natur zu bewahren.
Leben gibt es auf der Erde seit rund 3,5 Milliarden Jahren – mit äußerst wechselhafter Geschichte. Fünfmal starb ein Großteil aller Lebensformen aus. Eine bereits hoch entwickelte Biodiversität schrumpfte dabei auf ein Minimum. Jedes mal wurde der Verlauf der Evolution in neue Bahnen gelenkt. Das größte Massenaussterben ereignete sich vor 250 Millionen Jahren. Damals verschwanden etwa drei Viertel aller Landlebewesen und sogar 95 Prozent des Lebens im Ozean binnen weniger Tausend Jahre. Das letzte dieser Ereignisse führte vor etwa 66 Millionen Jahren zum Verschwinden unter anderem der Dinosaurier.
Die Fachwelt geht davon aus, dass das sechste Massenaussterben bereits begonnen hat.
Allerdings ist diesmal nicht Vulkanismus, eine natürliche Klimaveränderung oder ein Asteroideneinschlag die Ursache. Es ist der Mensch, der die Ökosysteme und damit die Lebensbedingungen der Pflanzen und Tiere radikal verändert. Es wird geschätzt, dass heute pro Tag 150 Arten aussterben. Bisherige Anläufe, den Artenschwund auf internationaler Ebene zu stoppen, schlugen fehl. Doch nun startet ein neuer Versuch, auf dem 15. UN-Naturgipfel, der von Mittwoch an zwei Wochen lang im kanadischen Montreal tagt.
Montreal: ein Bericht zeigt die Dramatik
Die Mitgliedsländer der Konvention zur Biologischen Diversität (englisches Kürzel: CBD) sollen dort neue Ziele für den Arten- und Naturschutz beschließen. Unter anderem geht es um den Vorschlag, bis 2030 ein Drittel der Land- und Meeresflächen der Erde unter Schutz zu stellen.
Der aktuellste Überblicksbericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES), des Pendants zum UN-Klimarat (IPCC), zeigt die Dramatik. Danach sind bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, viele bereits in den nächsten Jahrzehnten.
Montreal: „noch nicht zu spät“ für eine Kehrtwende
Der Rat machte klar, dass es dabei nicht nur um Zahlenhuberei geht. Er warnte: Obwohl die biologische Vielfalt und die Leistungen der Ökosysteme wie Nahrung, sauberes Wasser und Medizin für das Überleben der Menschheit essenziell sind, verschlechtert sich ihr Zustand dramatisch. Der Report benennt als Haupttreiber: die veränderte Landnutzung, etwa durch Überbauung, Umwandlung von Wald in Agrarland oder Entwässerung, die kommerzielle Nutzung von Tieren und Pflanzen, die Klimaerwärmung, die Umweltverschmutzung sowie die Ausbreitung invasiver Arten.
Der Chef des Gremiums, Robert Watson, betonte allerdings auch, es sei „noch nicht zu spät“ für eine Kehrtwende. Nötig sei dafür aber ein „transformativer Wandel“. Damit meint er „einen grundlegenden, systemweiten Umbau über technologische, wirtschaftliche und soziale Faktoren hinweg“. Montreal könnte dafür der Startpunkt sein.
Montreal: Über 190 Staaten verhandeln mit
Der IPBES-Report wurde 2019 vorgelegt, als Basis für den UN-Gipfel, der eigentlich bereits 2020 in der chinesischen Großstadt Kunming stattfinden sollte, dann aber wegen der Corona-Pandemie und Chinas Null-Covid-Politik mehrfach verschoben wurde. Kanada bot an, die Austragung von „COP15“ der Artenschutz-Konvention zu übernehmen, in Montreal. Peking behält allerdings den Vorsitz auf dem Gipfel. Über 190 Staaten verhandeln mit.
In Montreal sollen nun die „Kunming-Ziele“ vereinbart werden, als Ersatz für die 2010 auf einer COP in Japan beschlossenen „Aichi-Ziele“. Wie dringend das ist, zeigt die Bilanz dieses „Aufbruchs“ im Naturschutz, wie er genannt wurde. Schon damals war verabredet worden, den Verlust an natürlichen Lebensräumen bis 2020 zu halbieren und wenn möglich sogar auf null zu senken. Die Umweltbelastungen sollten auf ein unschädliches Niveau gebracht und die für Landwirtschaft, Aquakultur und Forstwirtschaft genutzten Flächen nachhaltig bewirtschaftet werden. Es sollte die Überfischung der Weltmeere gestoppt, der Wert der biologischen Vielfalt im Bruttosozialprodukt berücksichtigt und ein ausreichend großes Finanzbudget zum Erreichen der Ziele bereitgestellt werden.
Montreal: Der Naturschutz braucht einen Booster
Das Fazit zehn Jahre danach fiel ernüchternd aus. Der 2020 vom UN-Umweltprogramm in Nairobi herausgegebene „Global Biodiversity Outlook“ zeigte auf, dass keines der 20 Kernziele zum Schutz der Biodiversität voll erreicht wurde. Der Verlust von Arten und Lebensräumen ging praktisch ungebremst weiter, obwohl es durchaus Fortschritte bei der Ausweitung der Schutzgebiete gab. Die Aichi-Vorgabe, 17 Prozent der Fläche an Land und zehn Prozent bei den Meeren unter Schutz zustellen, ist fast erreicht. Was aber nur den einen Schluss zulässt, dass sie schlicht zu niedrig liegt.
Der Naturschutz braucht also einen Booster – und den soll der Gipfel in Montreal nun bringen. Die Chefin der UN-Konvention, Elizabeth Mrema, wünscht sich einen „Paris-Moment“ für die Biodiversität. Sie spielt dabei auf das 2015 in Paris geschlossene Weltklima-Abkommen an, das erstmals alle Staaten weltweit zur CO2-Einsparung verpflichtet und, zumindest in der Theorie, auch für die Unternehmen und Finanzmarktakteure den Rahmen des Handelns darstellt.
Das Problem: Die Themen Klimawandel und Naturzerstörung sind strukturell sehr unterschiedlich. Bei den Klimaveränderungen ist die Wirkungskette im Grunde einfach: Der Mensch pumpt die Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre hoch, und dadurch steigen weltweit die Temperaturen. Die Ursachen für die Degradation der Ökosysteme und des Aussterbens von Arten hingegen sind viel komplexer und regional unterschiedlich. Es gibt daher auch kein so griffiges Ziel wie das, die Erderwärmung bei 1,5 oder zwei Grad zu stoppen, wie es im Paris-Abkommen festgelegt ist.
Um die Naturschutz-Wende umzusetzen, ist es entscheidend, dass alle gesellschaftlichen Akteure das Problem erkennen. Die Aufgabe, die wirtschaftliche Bedeutung einer intakten Natur deutlich zu machen, übernahm ein Forschungsteam unter Schirmherrschaft des UN-Umweltprogramms vor gut einem Jahrzehnt. Es entstand die großangelegte Studie „The Economy of Ecosystems and Biodiversity“, kurz TEEB. Sie zeigte, dass die Leistungen der Ökosysteme wie sauberes Wasser, Regulation des Klimas, Bestäubung von Pflanzen oder auch Arbeitsplätze etwa im Tourismus, völlig unterschätzt wurden. Heute weiß man: Die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) – das entspricht einem Betrag von 40 Billionen Euro – ist letzten Endes abhängig von der Natur.
Montreal: Kommunen und Regionen erkennen das Risiko
Das heißt: Es geht längst nicht mehr um das Verschwinden kaum bekannter Arten, sondern um existenzielle Folgen für Menschen und Wirtschaft. Ein Beispiel für viele andere: Die südamerikanischen Metropolen Buenos Aires, São Paulo und Rio de Janeiro sind fast zur Hälfte von der Wasserversorgung aus dem Amazonas-Becken abhängig, und diese ist direkt durch die Regenwald-Abholzung gefährdet. Das Wasserangebot auf anderem Weg zu ersetzen, wäre extrem teuer, vielleicht sogar unmöglich.
Ein solcher Blick auf die Biodiversität hat mit dazu beigetragen, dass immer mehr Kommunen, Regionen, Unternehmen, Investoren und auch Finanzaufsichtsbehörden die grundlegenden Risiken erkennen, die aus der Naturzerstörung erwachsen. Auch Multis, andere Großkonzerne und Finanzinstitute engagieren sich hier. So haben sich über 330 Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von zusammen mehr als 1,5 Billionen US-Dollar in einer „Business for Nature“-Koalition zusammengeschlossen, darunter H&M, Ikea, Nestlé, Rabobank, Sony, Tata Steel und Unilever.
Montreal: Es gibt jede Menge Möglichkeiten, sich festzubeißen
Sie ruft die Regierungen jetzt auf, noch in diesem Jahrzehnt durchgreifende Schritte zur Umkehr des Natur- und Artenverlusts durchzusetzen. Weitere Forderung: Konzerne sollten verpflichtet werden, ihre Abhängigkeiten von der biologischen Vielfalt und die Auswirkungen ihres Geschäfts darauf bis 2030 zu bewerten und offenzulegen.
Ob solcher Druck reicht, um in Montreal tatsächlich einen „Paris-Moment“ zu erzeugen, ist offen. Verhandelt wird dort über 22 Ziele, die bis 2030 erreicht werden sollen, darunter neben der 30-Prozent-Marke für Schutzgebiete die Wiederherstellung von drei Millionen Hektar degradierter Ökosysteme sowie ein Finanzierungsrahmen von 200 Milliarden Dollar jährlich.
Es gibt jede Menge Möglichkeiten, sich festzubeißen. Der Entwurf für die Abschlusserklärung enthält nämlich noch über 950 mit eckigen Klammern versehene Textstellen, also Formulierungen, bei denen sich die Staaten noch nicht einig sind.
Das heißt: Statt des „Paris-Moments“ kann es durchaus auch zu einem „Kopenhagen-GAU“ kommen. In Kopenhagen scheiterte 2009 der Versuch, einen globalen Klimavertrag zu schließen an den Differenzen der großen Staatenblöcke. Es dauerte dann sechs Jahre, bis in Paris der zweite Anlauf gelang.
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