Donnerstag, 4. September 2025

Wir haben unsere Städte den Autos geopfert. Japan zeigt, wie es anders geht

 Perspective daily Chris Vielhaus  hier  3. September 2025

Verkehrsunfälle gehören zur Tagesordnung. Seit der Geburt seines Sohnes will unser Autor dies nicht länger hinnehmen.

....Doch die allgegenwärtige Gefahr durch den Autoverkehr für unsere Kleinsten ist traurige Realität. 

Über 27.000 Kinder verunglückten im Jahr 2024 im deutschen Straßenverkehr, 53 von ihnen verloren ihr Leben. Traurige Zahlen, die klarmachen, warum hierzulande viele Eltern die Hände der Kleinsten nur auf sicher abgezäunten Spielplätzen loslassen.

Szenenwechsel: Ein Dreikäsehoch namens Hiroki von nicht einmal 3 Jahren läuft, mit einer gelben Signalfahne ausgestattet, eine Straße entlang. Er hat eine Mission: Im Supermarkt Curry, Fischfrikadellen und Blumen besorgen – und zwar ganz allein.

Was wohl bei den meisten Eltern in Deutschland für nackte Panik sorgen dürfte, ist in Japan ganz normal. Denn hier werden Kinder von klein auf mit kleineren Erledigungen betraut, um ihr Selbstvertrauen zu fördern. Wie das in der Praxis aussieht, zeigt die auf Netflix sehr erfolgreiche Reality-Doku »Alt genug«. Das ungeskriptete Serienformat begleitet japanische Kinder seit Jahrzehnten bei dieser Tradition.

Wie ist das möglich? Und was können wir in Deutschland davon lernen, damit sich Kinder (und auch Erwachsene!) gefahrloser in unseren Städten bewegen können?


....Nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Stunde 0 der Stadtplanung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen nahezu alle Großstädte Deutschlands und viele weitere in ganz Europa in Schutt und Asche. Was zuvor über Jahrhunderte historisch gewachsen war, lag in Trümmern. Der Wiederaufbau war eine Herkulesaufgabe, bot Stadtplaner:innen jedoch die einmalige Chance, sich am Reißbrett frei zu entfalten und die »Stadt der Zukunft« zu erschaffen.

Diese Zukunft sollte aber nicht den Menschen gehören – sondern den Autos. Im Geiste der damaligen Zeit entstanden vielerorts auf den Ruinen historischer Altstädte großzügige Straßen und (Auto-)Parkflächen. Mehr noch: Was die Bomben an alter Substanz verschont hatten, wurde vielerorts in den 1950er-Jahren abgerissen, um für die neue Ära des Individualverkehrs Platz zu schaffen.


Das Motto der deutschen Verkehrspolitik lautete jahrzehntelang »Autos zuerst« 


Berühmt-berüchtigt für seine Vision der autogerechten Stadt der Zukunft ist der Stadtplaner Rudolf Hillebrecht. In Hannover schlägt er groß angelegte Verkehrsschneisen durch das Stadtzentrum, baut kreuzungsfreie Schnellstraßen und riesige Kreisel.

Hillebrecht wurde zum Vorbild für ganz Westdeutschland. Der Spiegel schwärmte 1959 vom »Wunder von Hannover«. Heute gilt die Stadt nur dort als schön, wo Hillebrecht nicht gewirkt hat.


Wie der Staat Kinder einsperrte, um sie vor Autos zu schützen

Das Resultat der Automobilutopie und des dadurch beförderten rasanten Anstiegs des Verkehrs lässt sich bald an der Unfallstatistik ablesen. Die Zahl der Verletzten und Getöteten steigt Jahr für Jahr kontinuierlich an, bis sie 1983 mit fast einer halben Million Verletzten und 12.000 Todesopfern einen Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge starben auf Deutschlands Straßen seit 1950 fast 800.000 Menschen. Das sind mehr Menschen, als Frankfurt Einwohner:innen hat.

Die Politik reagiert nur langsam, trotz der Hunderttausenden Versehrten, auch weil sich die mächtige Autolobby durch Organisationen wie den ADAC meist gegen jede Regulierung des Autoverkehrs einsetzt.

Doch die horrende Unfallstatistik führt nach und nach doch zu einigen Meilensteinen, etwa der Einführung des Tempolimits auf Landstraßen (1972), der stufenweisen Einführung der Gurtpflicht (seit 1974), mit Verkehrsunterricht in der Schule (1972) oder einer niedrigeren Alkoholgrenze von 0,8 Promille für Autofahrer:innen (1973).

Und mit einer weiteren Maßnahme, die mich erst dazu gebracht hat, diesen Text hier zu verfassen: dem massiven Ausbau von Spielplätzen. Diese wurden nicht etwa so populär, weil sie so pädagogisch wertvoll sind und Kinder zu Bewegung animieren. Sie wurden errichtet, weil sie Kinder vor der lebensbedrohlichen Umgebung schützen sollen, die wir als Städte bezeichnen.


Die ersten Spielplätze waren Schutzräume,
die Kinder vor den Gefahren der
industrialisierten Großstadt bewahren sollten. 

Bis heute sind Spielplätze in erster Linie ein Stadtphänomen.

Christoph Driessen, Journalist und Historiker, anlässlich der Sonderausstellung
»The Playground Project« aus dem Jahr 2018


Draußen an der frischen Luft spielen? Unbedingt! Aber bitte nur in eingezäunten Bereichen, die Autos brauchen ihren Platz. Dabei ginge es auch anders.

....Die Japaner:innen machen uns vor, wie Städte sicherer werden können

Der US-amerikanische Podcast »99% Invisible« ist dem Phänomen der besonders selbstständigen Kinder in Japan auf den Grund gegangen. Hier kommt unter anderem Ayako Taniguchi zu Wort, die sich als Professorin an der Universität Tsukuba in Japan mit den Themen Risikokommunikation und Verkehr befasst. Sie stellt klar, dass vieles für die Show übertrieben werde und Kinder in der Regel nicht schon ab einem Alter von 2 Jahren allein mit Erledigungen beauftragt würden. Dass Kinder ab etwa 5 Jahren losgeschickt würden, um zum Beispiel Windeln für ihre kleineren Geschwister zu besorgen, sei aber durchaus üblich.

Der wichtigste Grund dafür, dass das möglich ist und sich Kinder (und Erwachsene) in Japan viel freier bewegen können, ist die Art und Weise, wie Straßen und Stadtviertel angelegt sind.
Dazu ist wichtig zu wissen, dass Teile der Geschichte des Landes durchaus mit der deutschen vergleichbar sind: Auch japanische Städte waren nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerstört. Auch Japans Wirtschaft erholte sich schnell. Und auch hier wurden dank Toyota, Honda und Nissan bald Unmengen von Autos produziert, die zusammen mit dem steigenden Wohlstand bald für viel Verkehr, Tote und Verletzte sorgten.

Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Statt nach dem Krieg alles dem motorisierten Verkehr unterzuordnen, werden Mobilität und der öffentliche Raum primär an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Der Verkehrsexperte Owen Waygood bringt es im Podcast »99% Invisible« auf den Punkt:


In Japan wird erwartet, dass Kinder sich
selbstständig bewegen können.
Wenn man diese Erwartung hat,
muss man eine Umgebung schaffen,
die das ermöglicht und erleichtert.


...

Möglichst gut durchmischte Stadtviertel fördern kurze Wege. Wohn- und Gewerbegebiete werden in Japan in der Regel nicht getrennt und der Verkehr zwischen den jeweiligen Vierteln so auf ein Minimum reduziert. Dass das auch für die Umwelt gut ist, ist eine positive Nebensache. 

....Ein Auto kaufen darf nur, wer einen privaten Parkplatz nachweisen kann; es über Nacht am Straßenrand abzustellen, ist komplett untersagt. Der Grund hierfür ist simpel wie einleuchtend: Öffentlicher Raum ist ein hohes gemeinschaftliches Gut, das nicht mit dem Privatbesitz Einzelner verstopft werden soll.

Städte, die für Menschen gemacht sind

Die Geschichte der Städte, die für Autos statt für Menschen gebaut sind, ist lang. Über Jahrzehnte haben wir uns daran gewöhnt, dass tonnenschwere Metallkästen mit meist nur einer Person darin unsere Lebensqualität und sogar unsere Leben selbst bedrohen. Das ist nicht verwunderlich, schließlich haben wir es nie anders kennengelernt.

Dabei übersehen viele, dass es bereits zahlreiche Ideen und Maßnahmen gibt, die unsere Städte sicherer, sauberer und schöner machen! Woran es häufig noch hakt, ist der Mut zur Veränderung.

Ein gutes Beispiel dafür ist die slowenische Hauptstadt Ljubljana. Im Jahr 2007 gab es hier eine große Kontroverse über die Idee einer autofreien Innenstadt. Lediglich 40% der Anwohner:innen waren für die Idee. Gerade einmal 10 Jahre nach dem Rauswurf der Autos sprachen sich jedoch ganze 97% dagegen aus, das Zentrum wieder für Autos zu öffnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen