Zeit hier Von Anna Mayr 23. Juni 2025
Die Hälfte der Eltern im Bürgergeld verzichtet auf Essen
Eine neue Umfrage unter Bürgergeldempfängern zeigt, wie es den Menschen geht, über die so viel gestritten wird. 51 Prozent glauben nicht daran, eine Stelle zu finden.
Nur zwölf Prozent der befragten Bürgergeldempfänger fühlen sich der Gesellschaft zugehörig.
Nur 16 Prozent geben an, dass das Jobcenter sie individuell fördert.
Und mehr als die Hälfte der Bürgergeldempfänger, die Eltern sind, verzichtet auf Essen, damit für die Kinder genug da ist. Das sind drei der prägnantesten Zahlen aus einer Umfrage des Vereins Sanktionsfrei, die der ZEIT vorab vorliegt.
Gemeinsam mit dem Umfrageinstitut Verian hat der Verein 1.014 Menschen im Bürgergeld befragt. Sanktionsfrei vermittelt Bürgergeldempfängern Anwälte und Spenden, wenn sie sanktioniert werden oder andere Probleme mit den Jobcentern haben.
Eine Reform steht an
Das Bürgergeld ist umstritten und ein Streitpunkt der schwarz-roten Koalition. Der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, äußert sich immer wieder mit harten Worten zum Thema, indem er eine Reform fordert, die "an die Substanz" des Systems gehe – dazu gehöre für ihn, arbeitsunwilligen Menschen die Leistungen komplett zu streichen.
Die SPD stellt sich dem bisher entgegen: Linnemann ignoriere die Realitäten vieler Menschen, sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt. Eine Vollsanktionierung sei wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts ohnehin nur in wenigen Fällen möglich.
Wie ist also die Stimmung der Menschen, über die so viel geredet wird, zwei Jahre nach Einführung des Bürgergelds und dem politischen Streit darüber? Warum sind 1,9 Millionen Menschen zwar offiziell arbeitsfähig, finden aber dennoch keinen Job? Wie lebt es sich mit 563 Euro Budget im Monat?
Hürden, Arbeit nicht anzunehmen
Die Autoren der Studie fragten unter anderem, welche Hürden die Bürgergeldempfänger davon abhalten, eine Arbeit aufzunehmen.
59 Prozent gaben körperliche Einschränkungen an.
57 Prozent psychische Probleme,
bei 44 Prozent kam beides zusammen.
Und 52 Prozent von denen, die Kinder haben, gaben fehlende Kinderbetreuung als Hindernis an.
Obwohl die individuelle Förderung nur für wenige stattzufinden scheint, fühlen sich 32 Prozent der Befragten vom Jobcenter gerecht behandelt, 29 Prozent finden die Behandlung nicht gerecht, der Rest ist unentschieden. "Es kommt immer auf den individuellen Sachbearbeiter an, an den man verwiesen wird. Es gibt kooperative, aber auch sehr negativ eingestellte Mitarbeiter", sagt ein Befrager der Studie. Beim Bürgergeld liegt tatsächlich einiges im Ermessen der Sachbearbeiter, zum Beispiel die Frage, ob ein angebotener Job "zumutbar" ist oder nicht.
Die Mehrheit glaubt nicht daran, eine Stelle zu finden
Hoffnung, eine Arbeit aufnehmen zu können, mit der sie sich selbst finanzieren, haben nicht viele. 51 Prozent glauben nicht daran, eine Stelle zu finden, mit der sie den Bürgergeldbezug beenden können. Das ist nicht unbedingt pessimistisch, sondern eher realistisch. In einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2014 bis 2020 kam heraus, dass jährlich nur etwa sieben Prozent der erwerbsfähigen Arbeitslosen es schaffen, aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Arbeit zu finden, mit der sie sich komplett finanzieren können.
Die neue Umfrage hat eine Einschränkung: Sie ist nicht repräsentativ, weil die Befragten nicht zufällig ausgewählt wurden, sondern online teilnahmen. Empfängerinnen und Empfänger mit Migrationshintergrund sind demnach stark unterrepräsentiert. Mehr als 60 Prozent der Menschen im Bürgergeld haben einen Migrationshintergrund. Die Studie ist allerdings soziodemografisch gewichtet, was ihr laut den Autoren eine Aussagekraft gibt.
77 Prozent empfinden ihre finanzielle Lage im Bürgergeld als psychisch belastend. 28 Prozent der Befragten machen sich Sorgen, obdachlos zu werden. Eine Person schreibt: "Manchmal muss ich mein Kind vom Kindergarten zu Hause lassen, weil ich mir Tanken nicht leisten kann."
Eine andere: "Ich muss überlegen: kaufe ich den Kindern die dringenden Schuhe/Kleidung oder was zu essen." Die Ergebnisse der Studie decken sich hierbei mit anderen Untersuchungen. Auch der wissenschaftliche Beirat des Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministeriums hatte 2023 festgestellt, dass das für Essen und Getränke im Bürgergeld angesetzte Budget zu gering ist.
Was die Parteien sagen
Fast 80 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, Politiker hätten keine Idee davon, wie es den Menschen im Bürgergeld gehe. DIE ZEIT hat in den Parteien gefragt, wie Politiker die Ergebnisse der Studie bewerten.
Carsten Linnemann wollte sich nicht äußern. Seine Haltung zum Bürgergeld, so eine Sprecherin der CDU, sei klar. Der CDU-Politiker Kai Whittaker schrieb der ZEIT: "Die Studie zeigt einmal mehr: Das Bürgergeld ist gescheitert. Es befähigt die Leute nicht dazu, in Arbeit zu kommen." Mit der kommenden Reform wolle man "Sozialbürokratie" abschaffen, Regeln vereinfachen und Prozesse automatisieren.
Annika Klose, Sprecherin für Arbeit und Soziales der SPD-Bundestagsfraktion, schrieb zur Studie: "Ich stehe im regelmäßigen Austausch mit Erwerbslosen und ihren Vertretungen sowie den Jobcentern. Es ist eine Fehlannahme, dass die meisten Menschen im Bürgergeld sofort wieder in Arbeit kommen würden, wenn der Druck nur hoch genug ist. Richtig ist hingegen, dass die Mehrheit der Langzeitarbeitslosen mindestens ein Vermittlungshemmnis hat." Vermittlungshemmnisse sind zum Beispiel kleine Kinder oder ein Alter über 55 Jahre.
Klose verteidigte gegenüber der ZEIT die Bürgergeldreformen, die unter anderem Coachings für Arbeitslose vorsehen. Und: "Die Erkenntnis, dass viele Eltern auf Essen verzichten müssen, um ihre Kinder satt zu kriegen, ist erschreckend und beschämend. Dies unterstreicht die prekäre Lage gerade von Kindern in Haushalten mit Bürgergeldbezug." Klose fände es geboten, sich die Regelsätze für Kinder und Jugendliche noch einmal genau anzuschauen.
Andreas Audretsch, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, sieht das Problem bei Union und SPD: "Wenn Carsten Linnemann Menschen im Bürgergeld pauschal verurteilt, spricht er über Eltern, die gerne mehr arbeiten würden, aber denen die Kinderbetreuung fehlt." Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas sollte bei der anstehenden Reform darauf setzen, tatsächlich Optionen auf Arbeit zu öffnen, schreibt Audretsch.
Cansin Köktürk, die sozialpolitische Sprecherin der Linken, fordert eine Grundsicherung, die nicht kontrolliert, sondern befähigt. "Ich habe zehn Jahre als Sozialarbeiterin gearbeitet und hautnah erlebt, was Armut in Deutschland bedeutet und was BürgergeldempfängerInnen erleben", sagt Köktürk.
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