Freitag, 1. September 2023

Nach unangemeldetem Protest-Klavierkonzert fürs Klima: Samuel vor Nürnberger Gericht, Ermittlungen gegen Staatsanwältin

 Pressemitteilung am 1.9.2023

Ravensburger Baumpfleger Samuel Bosch vor Nürnberger Gericht, Ermittlungen gegen Staatsanwältin

  • Unangemeldetes Protest-Klavierkonzert für mehr Schwung beim Klimaschutz vor einem Jahr
  • Teilnehmer Samuel Bosch (20) kommenden Mittwoch vor Gericht, bereits für das Retten von Essen  verurteilt
  • Renommierte Verfassungsrechtler geben Klimaaktivisten Rückenwind
  • Auch Ermittlungen gegen Staatsanwältin wegen Freiheitsberaubung im Amt und versuchte Körperverletzung

Ziemlich genau ein Jahr ist es nun her, dass Klimaaktivist*innen, Bürger*innen und Ordensleute in Nürnberg ein Klavierkonzert auf dem Frauentorgraben veranstalteten [1,2,3,4]. Mit dem Konzert am 16.8.2022 wollten Jesuitenpater Jörg Alt und die anderen Beteiligten von den Regierungen mehr Schwung bei der Bekämpfung der Klimakrise fordern. Doch da das Protest-Straßenfest nicht angemeldet war, war es nicht vollständig von der Versammlungsfreiheit gedeckt. Entsprechend steht diesen Mittwoch (6.9.2023, 10:00, Saal 60, Fürther Str. 110) für einen der beteiligten Aktivisten, Baumpfleger Samuel Bosch (20), der Prozess am Amtsgericht wegen Nötigung an. Er ist als Mitgründer der Besetzung des Altdorfer Walds bei Ravensburg bekannt. Aber auch gegen eine Staatsanwältin laufen Ermittlungen. Die Vorwürfe gegen die Beamtin wiegen schwer: Freiheitsberaubung im Amt und versuchte Körperverletzung.

"Wir brauchen jetzt eine Störung des Alltags, um noch größere Störungen in der Zukunft zu verhindern", hatte damals Aktivistin Zoë Ruge gegenüber den NN erklärt [2]. Wenn die Natur weiter zerstört wird, war die Aktivistin überzeugt, werden die Einschnitte noch größer werden – und für jeden spürbar [2]. "Das zeigen Waldbrände und Überflutungen." Bei dem Prozess am Mittwoch wird Richterin Melanie Marston auch der Frage nachgehen müssen, ob Ruge mit Blick auf das extreme Unwetter vor zwei Wochen in Nürnberg Recht hatte. Dieses suchte Nürnberg genau ein Jahr und einen Tag (17.8.2023) nach der pianistischen Warnung heim [5,6].

Die Verhandlung am 6.9.2023 findet einen Tag nach Eröffnung der internationalen Automobilausstellung (IAA) in München statt, die von Bosch und seinen Mitstreiter*innen scharf kritisiert wird. "Solange München bei der Verkehrswende anderen Städten hinterher hinkt, sollte München Greenwashing-Veranstaltungen von Autokonzernen keine Plattform bieten", erklärt Bosch. Bundesweit rufen Klimaaktivist*innen anlässlich der IAA zu Demonstrationen für eine soziale Verkehrswende auf. Ob es aus diesem Grund auch parallel zur Verhandlung in Nürnberg zu Aktionen von Klimaaktivist*innen kommen wird, ist derzeit nicht bekannt. 

Am vergangenen Mittwoch (30.8.2023) war es ebenfalls zu einer Verkehrsblockade in Nürnberg gekommen – etwa 50 Radler*innen der Verkehrswende-Protesttour "Ohne Kerosin nach Bayern" befanden sich auf dem Frankenschnellweg [18,19]. Da diese Aktion angemeldet war, haben die Tourteilnehmer*innen anders als Bosch indes keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten. OKNB ist seit Wochen in Deutschland auf den Straßen und hat das Verkehrswendecamp in München zum Ziel.


"Das Protest-Klavierkonzert fand vor mehr als einem Jahr statt. Ist es Zufall, dass meine Verhandlung ausgerechnet während der IAA stattfindet?", fragt Bosch. Er hätte sich sonst gerne an IAA-Protesten beteiligt.

Bereits für das Retten von Essen verurteilt

Baumpfleger Samuel Bosch aus dem Altdorfer Wald bei Ravensburg, der am Mittwoch auf der Anklagebank sitzt und sich selbst verteidigen wird, engagiert sich seit mehreren Jahren in seiner Freizeit ehrenamtlich für Klimagerechtigkeit und unterstützt dazu immer wieder symbolische Aktionen. Etwa rettete er, wie auch der ebenfalls angeklagte "Jesuit und Dieb" Jörg Alt, schon mehrmals Essen aus Supermarktmülltonnen und verschenkte sie im Anschluss öffentlich; dafür stand er wegen "Diebstahls" vor Gericht [7,8,9,10]. Oft werden Verfahren gegen ihn eingestellt, manchmal gibt es sogar Freisprüche, meistens leistet er Sozialstunden ab, etwa bei Vereinen wie Foodsharing [11].

Polizeisprecher Michael Konrad sprach vor einem Jahr gegenüber den NN von einer friedlichen Atmosphäre während des Protests [2]. "Gewalt oder übermäßige Anfeindungen gab es nicht." So wird sich Bosch am Mittwoch auf die Versammlungsfreiheit berufen können.

 Renommierte Verfassungsrechtler auf einer Linie mit Bosch

Auch das Verfahren diesen Mittwoch möchte Bosch wieder nutzen, um seine symbolische Aktion zu erklären und weitere Öffentlichkeit für Missstände zu schaffen. Der gegenwärtige Regierungskurs führt uns in eine gefährliche Zukunft, ist Bosch überzeugt. Rückenwind erhält er dabei von über 60 renommierten Professor*innen des Verfassungs- und Völkerrechts, die am gestrigen Donnerstag (31.8.2023) in einem offenen Brief die Bundesregierung aufforderten, das Klimaschutzgesetz nicht weiter zu verwässern [12,13]. Nachdem der wissenschaftliche Dienst des Bundestags Anfang des Jahres Bundesverkehrsminister Wissing wegen der gesteigerten CO2-Emissionen im Verkehrssektor [14,15] Rechtsbruch nachgewiesen hatte [16,17], möchte die Bundesregierung die Sektorziele des Klimaschutzgesetzes aufheben.

Auch Ermittlungen gegen Staatsanwältin

Derweil steht auch die am Tag des Klavierkonzerts zuständige Staatsanwältin Elisabeth Böhmer in der Kritik: Nach der Anzeige einer Bürgerin ermittelt nun die Polizei. Die Vorwürfe wiegen schwer: Freiheitsberaubung im Amt und versuchte Körperverletzung.

"Die Versammlung hatte den Anschein eines Straßenfestes, ich schaute mir alles an und lief auf der Straße umher", erinnert sich Christina Santelia (54). "An einer Sitzblockade beteiligte ich mich nicht." Trotzdem wurde Santelia festgenommen und ins mehr als 20 Kilometer entferne Schwabach verbracht. Obwohl sie nach eigenen Angaben keinen Widerstand leistete und bereitwillig ihre Personalien mit ihrem Personalausweis bestätigte, wurden ihr Gewalt und Schmerzgriffe angedroht, falls sie sich nicht einer ausgiebigen erkennungsdienstlichen Behandlung unterziehen würde. Erst sechs Stunden später beendete Böhmer Santelias Freiheitsentziehung.

Ob Böhmers Übergriff straf- oder disziplinarrechtliche Konsequenzen haben wird, entscheiden nun die laufenden Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Santelia selbst wünscht in ihrer Anzeigeschrift Aufklärung, hat aber kein Interesse an einer Kriminalisierung von Böhmer. Falls Böhmer sich schriftlich entschuldige und einer Umweltorganisation spende, würde Santelia von zivilrechtlichen Schritten absehen.

Die Verhandlung am 6.9.2023 ist öffentlich. Pressevertreter*innen können sich bei Gericht akkreditieren und damit Schreibgeräte mit in den Gerichtssaal nehmen; sonstigen Prozessbeobachter*innen ist dies, wie üblich bei Verfahren gegen Klimaaktivist*innen, durch eine sitzungspolizeiliche Verfügung der sitzungsleitenden Richterin untersagt.

Der Prozess gegen Bosch wird von einer solidarischen Mahnwache begleitet. Diese beginnt am 6.9.2023 um 9:00 Uhr.

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