Dienstag, 12. September 2023

Die Bundesregierung ist besser als ihr Ruf

DW  hier  Marcel Fürstenau  12.9.23

Lob für Bundeskanzler Olaf Scholz und seine entschlossen handelnde Koalition: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bescheinigt ihnen eine äußerst vielversprechende Zwischenbilanz.

Wie passt das zusammen? Im aktuellen Deutschlandtrend sind nur 19 Prozent der Befragten mit der Bundesregierung aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) zufrieden, aber in einer jetzt veröffentlichten Studie wird dem seit Dezember 2021 amtierenden Trio insgesamt gute Arbeit bescheinigt.

Auf dem Prüfstand: der Koalitionsvertrag

Dieser auf den ersten Blick eklatant erscheinende Widerspruch lässt sich bei genauerem Hinsehen aber schnell auflösen: Denn die von der privaten Bertelsmann-Stiftung initiierte Untersuchung ist eine wissenschaftlich fundierte Analyse des Koalitionsvertrages und der darin formulierten Wahlversprechen. Ergänzt wurde sie durch eine repräsentative Umfrage.

"Dieses Vorgehen ermöglichte dann den Vergleich zwischen tatsächlichem und wahrgenommenem Erfüllungsstatus der Koalitionsversprechen", heißt es einleitend im Text der Studie. Diese wurde vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach durchgeführt. In persönlichen Umfrage-Interviews waren 1.011 Wahlberechtigte ab 16 Jahren bundesweit befragt worden. Das federführende Duo Robert Vehrkamp (Bertelsmann-Stiftung) und Theres Matthieß (Universität Trier) hat dafür alle 453 größeren und kleineren Versprechen der Bundesregierung angeschaut und überprüft, was aus ihnen bislang geworden ist.

Mehr Geld für Kinder und schnellere Einbürgerung

Darunter sind so dicke Brocken, wie der Kampf gegen Kinderarmut und die dafür vorgesehene finanzielle Kindergrundsicherung, über die sich die Regierungskoalition wochenlang öffentlich gestritten hat. Inzwischen wurde ein Kompromiss gefunden. Oder das neue Staatbürgschaftsrecht, um schneller einen deutschen Pass zu bekommen. Auch auf dieses zentrale Anliegen haben sich SPD, Grüne und FDP erst nach heftigen Auseinandersetzungen verständigt.

Solche und andere Streitthemen sind es, die das Bild der Regierung in großen Teilen der Bevölkerung prägen und die Unzufriedenheit wachsen lassen. Dabei sind laut Studie schon fast zwei Drittel der Koalitionsversprechen entweder komplett umgesetzt oder zumindest auf den Weg gebracht.

Öffentlich inszenierter Streit und offene Baustellen

Unter diesem Eindruck fasst Robert Vehrkamp das Ergebnis zusammen: "Eine insgesamt sehr vielversprechende Halbzeitbilanz, die aber überschattet und geprägt ist von öffentlich inszeniertem Koalitionsstreit und vielen offenen Baustellen."

Aus Sicht des Studienteams ist der 2021 geschlossene Koalitionsvertrag schon wegen seiner großen Zahl an Versprechen sehr ambitioniert. Im Vergleich mit der vorher regierenden Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen (CDU/CSU) hat sich die Zahl von 296 auf 453 erhöht. Das wegen seiner Parteifarben Rot (SPD), Grün und Gelb (FDP) im Volksmund als Ampel bezeichnete Bündnis hat sich also gut 50 Prozent mehr konkrete Ziele vorgenommen.

Koalitionsvertrag mit vielen Versprechen und großen Ambitionen

"Die große Anzahl der Versprechen spiegelt zum einen die Komplexität der Ampel als einer lagerübergreifenden Koalition aus drei programmatisch eigenständigen Parteien, zum anderen aber auch das höhere Ambitionsniveau des Ampel-Vertrages wider", erläutert Theres Matthieß von der Universität Trier. 

Im Kontrast dazu steht die öffentliche Wahrnehmung der Ampel-Regierung: Nur 12 Prozent meinen, dass von den vereinbarten Koalitionsversprechen "alle, fast alle oder ein großer Teil" umgesetzt werden. Sogar 43 Prozent gehen davon aus, es werde nur "ein kleiner Teil oder kaum welche" umgesetzt.

Neustart der Zusammenarbeit und Selbstdarstellung?

Um ihr Ansehen in der Bevölkerung zu verbessern, brauche die Bundesregierung einen Neustart in ihrer koalitionsinternen Zusammenarbeit und Selbstdarstellung, meint Wolfgang Schröder von der Berliner Denkfabrik Das Progressive Zentrum, die an der Analyse beteiligt war. Sein Fazit: "Der öffentlich inszenierte Koalitionsstreit führt dazu, dass die tatsächliche Regierungsleistung und Umsetzungstreue unterschätzt wird."

Die Studienergebnisse scheinen ein Dilemma widerzuspiegeln, mit dem politische Bündnisse in Deutschland offenbar grundsätzlich konfrontiert sind: "Eine große Herausforderung für alle Koalitionsregierungen und -parteien in Deutschland bleibt die geringe Frustrationstoleranz und Kompromissbereitschaft im Urteil der Wählenden", schreiben Robert Vehrkamp und Theres Matthieß.

Wenig Akzeptanz für politische Kompromisse

Zwar hielten es 85 Prozent für "sehr wichtig oder wichtig"", dass die Parteien ihre in Wahlprogrammen enthaltenen Ziele und Vorhaben auch tatsächlich umsetzen. Aber gleichzeitig billigten ihnen nur 40 Prozent zu, dass es auch "akzeptable Gründe" dafür geben könne, ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten. Von denen wiederum sehe nur weniger als ein Drittel (31 Prozent) in der Notwendigkeit von Kompromissen einen akzeptablen Grund, Versprechen womöglich nicht einzuhalten. 

"Es scheint, als würden viele Menschen in der auf Kompromisse angelegten und angewiesenen parlamentarischen Regierungsform eher einen Verrat an den Prinzipien und Idealvorstellungen der Parteien sehen", vermutet das Studien-Duo Vehrkamp/Matthieß.


NTV hier  Von Sebastian Huld  12.09.2023, 

Studie: viele Vorhaben umgesetzt

Die Ampel macht und tut, doch kaum einer bemerkt es

Das Ansehen der Regierungskoalition ist denkbar schlecht. Doch eine Studie stellt fest, dass sich die Bilanz der Ampel zur Halbzeit ihrer Regierung durchaus sehen lassen kann. Die Ampel sei fleißiger als vorherige Regierungen, schreiben die Autoren - doch die Menschen nehmen es ganz anders wahr.

Der sehnlichst erhoffte Neustart nach der Sommerpause droht schon wieder in Misstönen unterzugehen, da erreicht die Ampelkoalition doch tatsächlich mal eine gute Nachricht: Nach einer heute veröffentlichten Analyse der Bertelsmann-Stiftung haben die drei Regierungsparteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP nach etwa der Hälfte ihrer Regierungszeit eine Vielzahl ihrer im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben abgearbeitet oder in Angriff genommen. Studienautor Robert Vehrkamp fasst die Erkenntnisse der Auswertung wie folgt zusammen: "Eine insgesamt sehr vielversprechende Halbzeitbilanz, die aber überschattet und geprägt ist von öffentlich inszeniertem Koalitionsstreit und vielen offenen Baustellen."

Grundlage der Analyse der beiden Demokratie-Forscher Vehrkamp und Theres Matthieß ist der im Herbst 2021 ausgehandelte Koalitionsvertrag. Darin haben die beiden 453 konkrete Regierungsversprechen identifiziert, wovon 174 bereits erfüllt seien; ein Anteil von 38 Prozent. Weitere 55 Vorhaben sind demnach im Prozess der Erfüllung und 62 wurden zumindest angegangen. 162 Versprechen des Koalitionsvertrages - ein Anteil von 36 Prozent - sind dagegen noch gar nicht in Angriff genommen worden.

Der Zahlenvergleich ist schwierig, weil er die Größe und Komplexität einzelner Gesetzesvorhaben nicht berücksichtigt. Insbesondere Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, kann der Bund nicht im Alleingang umsetzen. Hinzu kommt der Kontext politischer, wirtschaftlicher und anderer Ereignisse, die zu Regierungsbeginn so nicht absehbar waren. Für die Ampel gilt das insbesondere mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine, der die Regierenden im Februar 2022 kalt erwischt hatte - während sie noch die Corona-Pandemie zu handhaben hatten und in Deutschland eine Impfpflicht diskutiert wurde.

Vor diesem Hintergrund sind Vergleiche mit Vorgängerregierungen mit Bedacht zu wählen, können aber dennoch aussagekräftig sein. So hatte die von 2017 bis 2021 regierende Koalition aus Union und SPD sich nur 296 Vorhaben in den Koalitionsvertrag geschrieben und die vorangegangene Große Koalition sogar nur 188. Damit war die Ampel deutlich ambitionierter gestartet, obwohl das komplizierte Dreiergespann gar nicht so leicht zu einem gemeinsamen Programm gefunden und teilweise große Differenzen zu überbrücken hatte.

Ein Bündnis mit Ambitionen

Dass nach 20 Monaten Regierungszeit - die zunächst von Corona, dann dem russischen Angriffskrieg und schließlich von einer schweren Inflation überschattet waren -, 64 Prozent aller Vorhaben umgesetzt oder zumindest in ihrer Umsetzung begonnen wurden, werten Vehrkamp und Matthieß positiv. Die Ampel habe zu ihrer Halbzeit mit 144 Regierungsversprechen genauso viele Vorhaben umgesetzt wie die Vorgängerregierung (141), obwohl ihre ersten Regierungsmonate deutlich herausfordernder waren, stellen die Autoren fest. Allerdings hatten sich Sozialdemokraten, Grüne und Liberale auch in eine wahre Selbstbegeisterung hineinverhandelt, während die letzte GroKo unter dem Zwang fehlender Alternativen zustande gekommen war, nachdem die FDP ein mögliches Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen platzen ließ. Kurz: Die Lust aufs Regieren war zum Ampelstart deutlich größer.

"Betrachtet man nur die politisch aufwändigeren Änderungsversprechen, zeigt sich die Ampel-Regierung sogar deutlich aktiver als ihre Vorgängerregierung (136 erfüllte Änderungsversprechen der Ampel gegenüber 111 der Großen Koalition zur Halbzeit ihrer Legislaturperiode)", heißt es in der Analyse. Von der deutlichen Erhöhung des Mindestlohns und Kindergelds über die Reform von Abtreibungs-, Einwanderungs- und sexuellen Selbstbestimmungsrechts bis hin zum Heizungsgesetz sind unter der Ampel tiefgreifende Gesetze verabschiedet worden. Dass die Ampel im Vergleich zu Vorgängerregierungen einen geringeren Anteil ihrer Vorhaben schon zur Halbzeit umgesetzt hat, liegt eben auch an der größeren Zahl an Vorhaben. In absoluten Zahlen gemessen, liegt die Ampel aber knapp vorn.

In der öffentlichen Wahrnehmung könnte das Bild von der Ampel dagegen kaum unterschiedlicher ausfallen. Nur 12 Prozent der Befragten meinen, dass von den vereinbarten Koalitionsversprechen "alle, fast alle oder ein großer Teil" umgesetzt werden. 43 Prozent aller Befragten gehen dagegen davon aus, es werde nur "ein kleiner Teil oder kaum welche" umgesetzt. Ähnlich pessimistisch hatten die Menschen in Deutschland zuletzt in den Jahren 2017 und 2018 auf die Bundesregierung geschaut, schreiben Vehrkamp und Matthieß. Nachdem die Große Koalition ihre Kommunikation und Geschlossenheit nach außen deutlich verbessert habe, sei aber 2019 ein signifikanter Vertrauensgewinn messbar gewesen.

Das könnte aus Sicht der Regierungsparteien Anlass zur Hoffnung geben, zumal die drei Koalitionäre im selben Boot sitzen. Bei der Frage, wie zufrieden die Menschen mit der jeweiligen Partei seien, geben 25 Prozent der Befragten an, mit der SPD "sehr/eher zufrieden" zu sein. Bei den Grünen beträgt der Wert 23 Prozent, bei der FDP 22 Prozent. Keiner der drei kann also erkennbar vom Status quo profitieren.

Wenig Verständnis in der Bevölkerung

Die Autoren machen einen Teil der Enttäuschung über die Ampel aber auch am Demokratieverständnis der Bevölkerung fest. So geben 85 Prozent der Befragten an, die Einhaltung von Wahlversprechen sei ihnen "sehr wichtig/wichtig". Nur 40 Prozent gestehen dabei der Politik zu, dass es "akzeptable Gründe" geben kann, Wahlversprechen nicht umzusetzen. Doch gerade ein Regierungsgespann wie das der Ampel macht eine Reihe von Kompromissen nötig sowie die Bereitschaft aller Beteiligten, eigene Regierungsziele auf die lange Bank zu schieben. So mussten SPD und Grüne mehrfach erklären, dass eine höhere Besteuerung großer Vermögen und eine Reform der Schuldenbremse mit der FDP nicht zu machen sind, während die FDP in der Frage von Atomkraft oder einer allein über den CO2-Preis gesteuerten Wärmewende nachgeben musste. Doch in der zugrundeliegenden Umfrage gab nur einer von zehn Befragten an, Koalitionskompromisse für einen akzeptablen Grund zur Nichteinhaltung von Wahlversprechen zu halten.

Überraschend deutlich tritt in der Analyse zutage, wie sehr Grüne und FDP den Koalitionsvertrag selbst geprägt haben. Von den 453 Koalitionsversprechen rechnen die Studienautoren 72 dem Grünen-Wahlprogramm zu, 45 stammen demnach aus FDP-Feder und nur 19 sind eins zu eins dem SPD-Wahlprogramm entnommen. Es sei allerdings nicht neu, dass die regierungsführende Partei die meisten Zugeständnisse mache, um Mehrheiten zu bilden. 139 Wahlversprechen stellen zudem Kompromisse aus den verschiedenen Wahlprogrammen dar und 178 Vorhaben sind ganz ohne Vorlage.

Bei der Umsetzung wiederum fällt die Bilanz für die Grünen auf den ersten Blick schlecht aus. Von den ihr zugerechneten 72 Versprechen sind nur 20 umgesetzt, dagegen 21 von der FDP-Versprechen und 10 von 21 SPD-Versprechen. Erneut hakt der Pauschalvergleich aber daran, dass die einzelnen Regierungsversprechen in ihrer Bedeutung und Komplexität nicht gewichtet sind.

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