Mittwoch, 27. September 2023

Der Kampf von David gegen Goliath: 6 Jugendliche verklagen 32 Staaten

Die Zeit hier

PODCAST: WAS JETZT? / PORTUGAL:Klima-Klage gegen Europa

6 Jugendliche verklagen 32 Staaten - Begründung: weil fehlender Klimaschutz Menschenrechte verletze

Standard  hier  Jakob Pflügl Julia Beirer  27. September 2023

Sechs Kinder und junge Erwachsene haben Beschwerde beim Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Am Mittwoch wird mündlich verhandelt – das zeigt die Bedeutung des Verfahrens

Die Wälder im Zentrum Portugals standen 2017 in Flammen. Das Ausmaß der Brände war enorm – 110 Menschen starben. Der Klimawandel habe die Flammen zusätzlich befeuert, das hätten Wissenschaftler bestätigt, so der Vorwurf von sechs Kindern und Jugendlichen aus Leiria und Lissabon, die nun rechtliche Konsequenzen fordern. Die jüngste Klägerin ist mittlerweile elf, die älteste 24 Jahre alt.

Mithilfe der Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network (Glan) haben sie eine Beschwerdeschrift beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingebracht. Das Außergewöhnliche: Die Vorwürfe richten sich gegen alle 27 EU-Staaten, Norwegen, Russland, Großbritannien, die Türkei und die Schweiz. Ursprünglich richtete sich die Beschwerde auch gegen die Ukraine. "Nach der russischen Invasion in der Ukraine wurde diese allerdings zurückgezogen", heißt es auf der Website.

Die Kinder und Jugendlichen werfen den Ländern vor, die Klimakrise verschärft und damit die Zukunft ihrer Generation gefährdet zu haben. Ziel der Menschenrechtsbeschwerde ist laut Glan unter anderem, dass die Länder ihre Emissionen rapide reduzieren und ihre nationalen Klimaziele deutlich ambitionierter verfolgen.

Verhandlung als Ausnahme

Drei Jahre nachdem die Kinder die Beschwerde eingebracht haben, wird am Mittwoch nun mündlich über den Fall verhandelt. Für Verfahren am EGMR ist das eine Ausnahme. "Das zeigt, dass der Gerichtshof dem Fall eine überragende Bedeutung beimisst", sagt Wilhelm Bergthaler, Professor am Institut für Umweltrecht der JKU Linz. "Der EGMR signalisiert damit deutlich, dass er das Verfahren für grundlegend hält und er öffentlich Farbe bekennen muss."

Rechtlich stützen sich die Kinder und Jugendlichen auf zentrale Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wie das Recht auf Leben und das Recht auf Privat- und Familienleben. Das Argument: Die Staaten halten internationale Vorgaben im Klimaschutz nicht ein und verletzen damit ihre Schutzpflichten gegenüber den Bürgern. Die Kinder monieren zudem einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung. Die jüngere Generation sei für einen längeren Zeitraum von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen als ältere Menschen.

Klage "geschickt geschrieben"

Nach der Verhandlung am Mittwoch werden die Richterinnen und Richter weiter über den Fall beraten. Eine Entscheidung könnte bereits nächstes Jahr fallen, möglicherweise sogar früher, vermutet Bergthaler. Der Umweltjurist gibt der Beschwerde "tendenziell gute Chancen". Die Beschwerde sei "geschickt geschrieben", sodass der EGMR eine Chance bekommt, sich in Klimafragen als "moderner und zukunftsgerichteter Gerichtshof" zu positionieren. "Man weiß natürlich nie, ob die Beschwerdeführer zur Gänze obsiegen. Denkbar wären auch Mittelwege."

Österreich wird bei der Verhandlung vom Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt vertreten und hat sich mit mehreren Schriftsätzen im Verfahren verteidigt. Aus Sicht der Republik kann man nicht mit "ausreichender Sicherheit" sagen, dass die Erderwärmung für die konkreten Gefahren, die von Waldbränden ausgehen, verantwortlich ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, hätte Österreich "keine Möglichkeit gehabt, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen", heißt es in einer Stellungnahme an den EGMR. Deshalb könne der Staat nicht für die Brände verantwortlich sein. Auch Gefahren, die weit in der Zukunft liegen, stellen keine Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention dar.

Im Fall einer Verurteilung würde der EGMR eine Konventionsverletzung feststellen und könnte die Staaten theoretisch zu Entschädigungszahlungen verpflichten. Mit einer dramatischen finanziellen Belastung rechnet Bergthaler zwar nicht, das Verfahren könnte aber enorme Ausstrahlungswirkung haben – vor allem nach Österreich. Hierzulande steht die Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang und ist direkt anwendbar. Und bei der Auslegung der Konvention orientiert sich der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) stark an jener des EGMR.

Weitere Verfahren aus Österreich

"Was die jungen Menschen in Portugal machen, ist mutig", sagt Laila Kriechbaum, "sie übernehmen Verantwortung für ihre Zukunft, was die Regierungen in Europa bisher rücksichtslos verwehren." Seit vier Jahren ist Kriechbaum bei Fridays for Future (FFF) aktiv. Ihrer Meinung nach klagen die Kinder ein, was die Regierungen versprochen haben, nämlich das 1,5-Grad-Ziel.

Die 20-Jährige hat auch an der Vorbereitung zur Klimaklage der zwölf Kinder und Jugendlichen in Österreich mitgearbeitet. Die Klage wurde vom Verfassungsgerichtshof aus "formalen Gründen" zurückgewiesen. Die Antragssteller im Volksschul- und Jugendalter hatten die Kinderrechte durch fehlende Maßnahmen für den Klimaschutz gefährdet gesehen und ein verschärftes Klimaschutzgesetz gefordert. Diesen Mittwoch ist das Gesetz, das Länder und Bund zur Reduktion der Emissionen verpflichten soll, bereits seit 1.000 Tagen unwirksam.

Michaela Krömer, Rechtsanwältin der Klimaklage, kündigte an, weitere Verfahren in Zusammenhang mit den Kinderrechten vorzubereiten. Das bestätigt auch Kriechbaum. Die Kinder würden sich mit einem Antrag nochmals an den Verfassungsgerichtshof wenden, und "darin werden alle formalen Einwände berücksichtigt werden". Ob dies genügt, damit die Kinder angesichts ihrer "mangelnden Beschwerde-Möglichkeiten, die sie derzeit im österreichischen Rechtssystem haben, ihre Rechte geltend machen können", sei ungewiss. Auch beim EGMR hat Anwältin Krömer bereits eine Klage aus Österreich eingebracht.

Kriechbaum sieht die Kinder und Jugendlichen im Übrigen nicht von Klimaaktivistinnen und -aktivisten instrumentalisiert. "Kinder erleben die Waldbrände und wissen, was das mit ihrer Gesundheit macht, sie können dann nicht zur Schule gehen und verstehen, dass dieser Zustand nicht zugelassen werden sollte", sagt sie. Für Kriechbaum ist die Klage der portugiesischen Kinder schon jetzt erfolgreich. Das misst sie daran, dass der EGMR die hohe Dringlichkeit des Antrags erkannt hat. (Julia Beirer, Jakob Pflügl, 27.9.2023)


Tagesschau ARD hier 27.09.2023  Von Gigi Deppe, SWR und Oliver Neuroth, ARD Berlin

Klimaklagen vor dem EGMR: Sechs Jugendliche gegen 32 Staaten

Sechs junge Portugiesen werfen Staaten weltweit vor, sich nicht ausreichend an das Pariser Klimaabkommen zu halten. Sie klagten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Nach einem UN-Bericht gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt mehr als 2.000 Klagen gegen Regierungen und Unternehmen, mit dem Ziel, den Klimawandel aufzuhalten. Seit 2017 hat sich die Zahl der Klagen verdoppelt. Bekannt geworden sind zum Beispiel Gerichtsverfahren aus den Niederlanden, Brasilien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland.

Von diesen Verfahren ist eines besonders berühmt: Die Klage von sechs jungen Portugiesen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie hatten im Sommer und Herbst 2017 erlebt, wie etwa 200 Kilometer nordöstlich von Lissabon große Waldgebiete in Flammen standen. Feuer zerstörten ganze Ortschaften. Mehr als Hundert Menschen starben, noch viel mehr wurden verletzt.

"Wir wollen etwas ändern" Catarina, heute 24 Jahre alt, bekam diese Bilder nicht mehr aus ihrem Kopf. Für sie war klar, dass eine vorherige Hitzewelle die Brände begünstigt hat. "Alles war voller Rauch. Unsere Schule wurde geschlossen, und wir mussten nach Hause gehen", erzählt sie. Viele Menschen hätten danach Atemprobleme und psychische Störungen gehabt, da die Feuer direkt neben ihren Häusern wüteten. "Uns war sofort klar, dass jetzt etwas geschehen muss", sagt sie. "Das war der Startpunkt für unsere Initiative. Wir wollen etwas ändern und den Klimawandel aufhalten."

Wurde die Menschenrechtskonvention verletzt? Catarina tat sich mit fünf Freunden zusammen. Sie sind heute zwischen 11 und 24 Jahre alt. Gemeinsam mit einer Anwältin überlegten sie, was sie unternehmen könnten. Drei Jahre nach der Brandkatastrophe im Herbst 2020 reicht die Gruppe eine Klage gegen 32 Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein, dem Gericht des Europarats. Eine britische Menschenrechtsorganisation unterstützt sie seither. Für ihren Anwalt Mark Willers ist klar, dass hier die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt ist:

Die Klimakrise bedroht konkret drei Menschenrechte der jungen Kläger, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt sind. Es geht um das Recht auf Leben, Artikel 2, das Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens Artikel 8 und die diskriminierungsfreie Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in Artikel 14 der Konvention garantiert wird.

Staaten sollen sich an Klimaschutzabkommen halten

Mittlerweile ist eine größere Gruppe von Anwälten mit dem Fall betraut. Sie betonen, dass es eine Klage dieser Art bisher nicht gegeben hat. Konkret verlangen die Juristen von den verklagten Staaten, ihre Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten, um die Erderwärmung deutlich unter zwei Grad zu begrenzen.

Die bisherigen Schritte der Regierungen seien längst nicht ausreichend, meint Anwalt Gerry Listen. Es gehe um die Zukunft seiner Mandanten. "Die Europäische Menschenrechtskonvention gibt ihnen einen Opferstatus. Sie leiden unter den Folgen des Klimawandels", sagt er. Von den Minderjährigen aus der Gruppe seien es die Eltern, die offiziell als Kläger auftreten und "mit deren Hilfe wir diese Klage vor den Menschenrechtsgerichtshof gebracht haben".

Statt abgewiesen sogar aufgewertet

Der Gerichtshof hat das Verfahren priorisiert. Dass die Klage der Jugendlichen nicht gleich abgewiesen wurde, war etwas überraschend. Denn normalerweise verlangt das Gericht, dass zunächst im Heimatland bei den zuständigen Instanzen ein Prozess geführt wird. Erst wenn der Rechtsweg dort erschöpft ist, wie es im Fachjargon heißt, erst dann nehmen die Straßburger Richter sich einer Sache an. Aber hier wurde eine Ausnahme gemacht und das Verfahren noch dazu aufgewertet, weil sich nicht nur fünf, sondern mindestens 17 Richterinnen und Richter darum kümmern, also die Große Kammer. Ganz aussichtslos erscheint die Klage der portugiesischen Jugendlichen daher nicht.

Entscheidung kann noch dauern

Im März hatte der Gerichtshof bereits über eine Klimaklage aus der Schweiz verhandelt, die Klage der sogenannten Klimaseniorinnen. Diese machen geltend, dass sie als ältere Frauen besonders bedroht seien vom Hitzetod. Die Gerichtsverhandlung im März fand sehr viel internationale Beachtung. Und auch diesmal erwartet der Gerichtshof Presse aus der ganzen Welt. 

Ausnahmsweise wollen die Richterinnen und Richter der Großen Kammer den ganzen Tag verhandeln. Ein Urteil zu den Klimaseniorinnen gab es bislang noch nicht. Auch im Fall der Jugendlichen ist nicht direkt mit einer Entscheidung zu rechnen. Gut möglich, dass der Gerichtshof diese erst in einigen Monaten verkündet.


ZDF  hier von Nathan Niedermeier  26.09.2023

Prozessbeginn vor dem EGMR:Klimaklage gegen 32 Staaten: Darum geht's

Sechs junge Menschen aus Portugal verklagen 32 europäische Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, darunter auch Deutschland. Wie reagieren die Staaten?

An diesem Mittwoch beginnt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die bislang größte Klimaklage der Geschichte. Vor der großen Kammer des Gerichts in Straßburg müssen sich 32 europäische Staaten verantworten, darunter auch Deutschland. Ihnen wird vorgeworfen mit ihrer bisherigen und aktuellen Klimapolitik die Menschenrechte zu missachten.

Geklagt haben sechs junge Menschen zwischen 11 und 24 Jahren aus Portugal. Ihre Klage richtet sich gegen alle EU-Mitgliedstaaten sowie gegen Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und das Vereinigte Königreich.

Hitzewelle und Waldbrände waren Auslöser für Klage

Während einer Hitzewelle wüteten 2017 in Portugal schwere Waldbrände. 66 Menschen starben, 20.000 Hektar Wald brannten ab. Es sei der Auslöser für die Klage gewesen, sagen die jungen Leute.

Einer von ihnen ist der 20-jährige Martim Duarte Agostinho. Seine Schule musste damals wegen der Rauchentwicklung geschlossen werden. Er erinnert sich an das Entsetzen, als er das Ausmaß der Zerstörung durch die Brände so nah an seinem Zuhause entdeckte.

Die extremen Hitzeperioden, die ich in den letzten Sommern erlebt habe, 
zeigen, dass ich und meine Generation alles in ihrer Macht Stehende tun müssen,
um die Regierungen zu zwingen, unsere Zukunft zu sichern.

Martim Duarte Agostinho

Martim Duarte Agostinho und die weiteren Klägerinnen und Kläger argumentieren, dass die 32 Staaten ihre Menschenrechte verletzen, in dem sie nicht schnell genug den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren, die den Klimawandel anheizen.

Dabei geht es ihnen nicht nur um Emissionen innerhalb der eigenen Ländergrenzen der verklagten Staaten. Die Staaten sollten auch dafür sorgen Emissionen zu reduzieren, die durch den Import von Gütern oder durch Aktivitäten von Unternehmen im Ausland verursacht werden.

Kläger: “Bisherige Klimapolitik verletzt unsere Menschenrechte”

Durch diese Emissionen, die den Klimawandel weiter verschärfen, sehen sie folgende Menschenrechte von ihnen verletzt:

Das Recht auf Leben

Das Recht auf Freiheit von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung

Das Recht auf Privatsphäre und Familienleben

Das Recht, nicht aufgrund des Alters diskriminiert zu werden

Der Klimawandel habe bereits heute schädliche Auswirkungen auf ihre körperliche und geistige Gesundheit, sagen Martim Duarte Agostinho und seine Mitstreiterinnen. In Zukunft werde sich das massiv verschärfen. "Wenn nicht sofort gehandelt wird und die Emissionen sinken, wird der Ort, an dem ich lebe, bald zu einem unerträglichen Heizkessel”, sagt er.

Unsere Botschaft an die Richter am 27. September ist ganz einfach:
Bitte bringen Sie diese Regierungen dazu, das Nötige zu tun,
damit wir eine lebenswerte Zukunft haben.

Martim Duarte Agostinho


"Dies ist wirklich ein Fall von David gegen Goliath”

Unterstützt werden die jungen Leute bei Ihrer Klage von einer ganzen Reihe an internationalen Organisationen wie der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, der Umweltorganisation Greenpeace und dem Global Legal Action Network, einer Organisation, die sich auf derartige Klagen spezialisiert hat. Deren Gründungsdirektor sagte ZDF frontal:

Dies ist wirklich ein Fall von David gegen Goliath.
Er ist beispiellos in seinem Ausmaß und seinen Folgen und er schreibt Rechtsgeschichte.
Noch nie mussten sich so viele Länder vor einem Gericht verteidigen, nirgendwo in der Welt.

Dr. Gearóid Ó Cuinn, Global Legal Action Network

Ebenfalls an dem Verfahren beteiligt ist die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović. Sie sieht eine mögliche Verletzung der Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten, sollten diese keinen ausreichenden Klimaschutz betreiben oder klimaschädliche Aktivitäten nicht ausreichend unterbinden.

Staaten versuchten Gerichtsprozess zu verlangsamen

Auf Seiten des Gerichts sind ganze 22 Richterinnen und Richtern an dem Verfahren beteiligt. Der Fall wird mit besonderer Priorität behandelt, aufgrund der "Bedeutung und Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen", urteilte das Gericht im Oktober 2020, kurz nach dem die Klage eingereicht wurde.

Nach Unterlagen, die ZDF frontal vorliegen, hatten die angeklagten Staaten und auch Deutschland versucht, das zu verhindern. Das Gericht lehnte ab.

Deutschland hatte zudem nach Recherchen von ZDF frontal die Klage als unzulässig bezeichnet und abgestritten, mit seinen Treibhausgasemissionen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Klägerinnen und Kläger zu haben. Mit einem Urteil wird im kommenden Jahr gerechnet.


Utopia hier  Von dpa und Laura Gaida ,27. September 2023, 

„Bahnbrechende“ Initiative: Jugendliche verklagen Staaten auf Klimaschutz

So etwas hat es noch nie gegeben: Im Kampf um eine bessere Zukunft verklagen sechs Kinder und Jugendliche gleich die Regierungen von 32 Staaten in Europa. Sie hoffen auf eine „lebenswerte Zukunft“. Wie stehen ihre Chancen?

Sechs Kinder und Jugendliche wollen die Regierungen von Deutschland und 31 weiteren Staaten in Europa dazu zwingen, in Zukunft viel mehr für den Schutz der Umwelt zu tun. Die von den jungen Portugies:innen vor drei Jahren eingereichte Klimaklage wird an diesem Mittwoch in Straßburg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhandelt.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von einer „bahnbrechenden“ Initiative der jungen Menschen im Alter zwischen elf und 24 Jahren.

Zahl der angeklagten Länder ist ungewöhnlich

Neben dem Alter der Kläger:innen sind die Größe des Prozesses und die Zahl der angeklagten Länder ungewöhnlich. Aufseiten der gerügten Regierungen würden über 80 Anwält:innen im Gerichtssaal anwesend sein, teilte eine Sprecherin der Portugies:innen mit. Die Kläger:innen würden von lediglich sechs Anwält:innen vertreten werden. „Das ist wirklich ein Fall von David gegen Goliath“, sagte wenige Tage vor der Anhörung Gearóid Ó Cuinn, Direktor der Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network(GLAN), die die Portugies:innen bei der Initiative unterstützt und berät.
„Es gibt keine Präzedenzfälle, weder hinsichtlich des Ausmaßes noch bezüglich der Folgen.“

Die Herausforderung ist riesig, aber der Preis, der winkt, ist sehr verlockend: Wenn die Kläger:innen Recht bekommen, könnte der EGMR die Regierungen der EU-Mitgliedsländer und der mitangeklagten Staaten Norwegen, Russland, Türkei, Schweiz und Großbritannien auffordern, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern und strengere Klimaziele zu beschließen und einzuhalten. GLAN-Anwalt Gerry Liston spricht von einem möglichen „Gamechanger“. Ursprünglich waren 33 Länder verklagt worden. Der EGMR nennt weiterhin diese Zahl. Aber die Jugendlichen beschlossen, die Ukraine wegen des russischen Angriffskrieges außen vor zu lassen.

„Ohne wird mein Wohnort bald zu einem unerträglichen Ofen werden“

Mit einem Urteil ist zwar erst nächstes Jahr zu rechnen. Einer der Kläger:innen, Martim Duarte Agostinho, meint aber, dass man keine Zeit verlieren dürfe. „Ohne dringende Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen wird mein Wohnort bald zu einem unerträglichen Ofen werden“, sagte der 20-Jährige aus Leiria im Zentrum Portugals vor der Anhörung. Martims Schwester Mariana hatte der Deutschen Presse-Agentur zu Beginn der Initiative im Jahr 2020 als Achtjährige gesagt, die Tatenlosigkeit der Erwachsenen mache sie wütend und traurig zugleich.
 „Ich habe große Angst davor, auf einem kranken Planeten leben zu müssen.“

Seit diesen Aussagen von Mariana gab es nur wenige Besserungen, aber mehrere Hiobsbotschaften. Der Juli 2023 war etwa nach Daten des EU-Klimawandeldienstes Copernicus der heißeste bisher gemessene Monat. Martim sagte: „Unsere Botschaft an die Richter wird einfach sein: Bitte sorgen Sie dafür, dass die Regierungen alles Nötige tun, damit wir eine lebenswerte Zukunft haben.“

Auswirkungen des Klimawandels bereits zu spüren

Die Leiterin der Abteilung für strategische Rechtsstreitigkeiten bei Amnesty International, Mandi Mudarikwa, sagte, dass die jungen Kläger und Klägerinnen wie so viele andere Menschen auf der Welt auch die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels bereits unmittelbar zu spüren bekämen. Die zunehmenden Hitzeextreme schränkten ihre Möglichkeiten ein, sich im Freien aufzuhalten, Sport zu treiben, zu schlafen und sich richtig zu konzentrieren.

Anlass für die Klage von Mariana und Martin, für ihre Schwester Claudia (24) sowie für Catarina Mota (23) und die Geschwister Sofia (18) und André Oliveira (15). waren die verheerenden Brände von 2017 in ihrem Heimatland, bei denen mehr als 100 Menschen starben und riesige Waldgebiete zerstört wurden. „Da ist bei mir der Groschen gefallen (…) Ich habe gemerkt, wie dringend man handeln muss, um den Klimawandel zu stoppen“, sagte Claudia vor einiger Zeit der dpa.

Folgen der Erderwärmung bislang kaum aufgearbeitet

Wie die Chancen für die Kläger:innen stehen, ist schwierig zu prognostizieren, da umweltrechtliche Fragen bisher keine große Rolle vor dem EGMR gespielt haben.
Grundsätzlich gewährt die Europäische Menschenrechtskonvention kein Recht auf eine saubere Umwelt. Bisher haben sich Klagen daher vor allem darauf gestützt, dass durch Umweltverschmutzung andere Menschenrechte gefährdet sind, etwa das Recht auf Leben. Oft ging es dabei zum Beispiel darum, dass Menschen von Lärm oder Luftverschmutzung betroffen waren. Die Auswirkungen des Klimawandels generell wurden dagegen bislang kaum behandelt.

Das könnte sich nun ändern. Denn die Portugiesen sind nicht die einzigen, die gerichtlich mehr Klimaschutz einfordern. Dieses Jahr wird beim EGMR auch über den Fall der sogenannten Klimasenior:innen verhandelt, ein Zusammenschluss von Schweizer Rentner:innen, die von Greenpeace unterstützt werden. Auch ein französischer Bürgermeister klagt derzeit auf die Einhaltung der Pariser Klimaziele.

Klagen für Klimaschutz liegen im Trend. Laut dem Grantham Institute der London School of Economics wurden bislang weltweit über 2000 erhoben, ein Viertel davon zwischen 2020 und 2022. Bald könnte es mehrere spannende Entwicklungen geben: Der Inselstaat Vanuatu im Südpazifik schaltet den Internationalen Strafgerichtshof ein. Auch in den USA, in Brasilien und in Schweden wurden Klagen wegen mangelnden Klimaschutz erhoben.

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