Montag, 29. November 2021

SPIEGEL Klimabericht vom­ Freitag, 26. November 2021

Liebe Leserin, lieber Leser,

Um einen Eindruck davon zu bekommen, was sich die neue Bundesregierung in der Klimapolitik vorgenommen hat, genügt schon eine einzige Zahl: 30. Sie steht auf Seite 57 des Koalitionsvertrages und gibt an, wie viel Strom bis 2030 in Offshore-Windanlagen gewonnen werden soll. 30 Gigawatt müssen es »mindestens« sein, schreiben SPD, Grüne und FDP. Aktuell sind es gerade einmal 7,8. Dazu muss man wissen: Es hat gut zehn Jahre gedauert, um das jetzige Niveau zu erreichen – nun soll in weniger Zeit mehr als das Doppelte hinzukommen.

An den meisten Stellen in diesem langen Papier, die konkrete Zahlen bei der Energie- und Verkehrswende nennen, geht es in die gleiche Richtung: Das Tempo soll deutlich erhöht werden. Bei der Fotovoltaik, den Elektroautos oder (»idealerweise«) beim Kohleausstieg.

Was die Ampelparteien hier vorgelegt haben, ist das wohl ambitionierteste deutsche Klimaschutzregierungsprogramm der deutschen Geschichte.

Doch Applaus mag nicht so recht aufkommen – wenn man auf das schaut, was das Team von Kanzler Olaf Scholz eigentlich erreichen müsste. Denn gemessen an dem, was bisher für die Klimawende unternommen wurde, ist der neue Plan zwar ein riesiger Sprung nach vorn. Unter Berücksichtigung dessen, wo das Land schon in wenigen Jahren stehen müsste, aber noch ein zu kleiner Schritt.

Fortschritt beim Zuschnitt der Ressorts

Der Anspruch nämlich, mit der nationalen Politik einen fairen Anteil zum Erreichen des weltweiten Ziels zu leisten, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen, dürfte verfehlt werden. Das jedenfalls ist das Urteil mehrerer Experten (mehr dazu lesen Sie hier). Vom Ziel her gedacht, lautet der erste Eindruck vom Ampelplan also einmal mehr: zu wenig und zu langsam.

In der Verteilung und Konstruktion der Ressorts ist den drei Partnern aber immerhin ein Fortschritt gelungen, der sich noch auszahlen dürfte. In den vergangenen Jahren wurde Klimapolitik regelmäßig zwischen den beteiligten Ministerien Umwelt, Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft zerrieben, die sich teils gegenseitig bekämpften. In der neuen Konstellation liegen Wirtschaft und Klima in der Hand des designierten Vizekanzlers Robert Habeck, auch das Umwelt- sowie das Landwirtschaftsressort wurde den Grünen zugeschlagen.

In diesen vier Bereichen darf man also eher auf Synergien denn auf Blockaden hoffen. Was die SPD im klimapolitisch extrem wichtigen Bauministerium voranbringt, wird man sehen, der größte Unsicherheitsfaktor aber ist das Verkehrsministerium, das künftig unter FDP-Führung steht. Ob der designierte Minister Volker Wissing die Wende einleitet oder den Kurs von Andreas Scheuer fortführt?

Angesichts der Größe des Regierungswechsels – die CDU ist nach 16 Jahren Kanzlerschaft raus aus der Regierung, das erste Dreierbündnis auf Bundesebene nimmt die Arbeit auf – wäre ein Abgesang auf 1,5-Grad-konforme Politik der Ampel aber verfrüht. Ein Koalitionsvertrag ist schließlich kein Drehbuch, sondern nur ein Festhalten von Programmpunkten, die man in jedem Fall erreichen will. Darüber hinausgehen kann man schließlich auch. Dass das wirklich passiert, ist ganz und gar nicht ausgeschlossen


Kurt Stuckenberg

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