Dienstag, 8. Februar 2022

Soziologe: „Die Demonstrationen zeigen, dass man mit dieser Gesellschaft nicht zufrieden ist“

Diesen Artikel habe ich gerade eben erst gefunden. Aber er passt  wie die Faust auf`s Auge.
Gerade im Angesicht der Prozesse in Ravensburg ist er sehr aktuell.
Leider wurden keine Foren eingerichtet, wie Herr Lange vorgeschlagen hatte. Und von einer Aufarbeitung , inwieweit die Kommunal-Politiker auf die Einwände der Zivilgesellschaft eingegangen sind - davon kann bisher nicht die Rede sein. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, die eigene Bevölkerung wird  hart bekämpft, eben weil sie Dinge fordert, die nicht ins altgewohnte Weltbild passen. Und die vielleicht auch das so selbstverständlich eingeschliffene Gewinnstreben mancher Branchen und Firmen in Frage stellen, die bisher recht ungeniert in die eigenen Taschen arbeiten konnten.
Partizipation mag in Stuttgart angestoßen worden sein - zu Recht möchte ich betonen - in Oberschwaben und am Bodensee wird sie -noch- mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert.


Schwäbische Zeitung hier  06.05.2021   Philipp Richter

Wie konnte es passieren, dass der Protest gegen die geplante Kiesgrube bei Grund in der Gemeinde Vogt eine solch große Dimension annehmen konnte? Das Thema beschäftigt die Politik und lockt mittlerweile Aktivisten aus ganz Deutschland in den Altdorfer Wald.

Der Professor für Soziologie an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU), Andreas Lange, bezeichnet diesen Konflikt als ein „Brennglas unserer Gesellschaft“....

Herr Lange, Protest gibt es immer gegen Projekte. In Vogt ist eine verhältnismäßig kleine Kiesgrube in Planung. Warum gibt es ausgerechnet dagegen Protest von so großer Dimension?

Die ökologische Krise in all ihren Ausformungen kann ein Protestpotenzial mobilisieren wie noch nicht vor 20 Jahren. Das hat Gründe: Die Krise wird uns täglich präsentiert.

Die Medien überfluten uns mit Nachrichten über den Klimawandel und stellen einen Bezug zu unserem eigenen Lebensstil her.(AnmerkungÜberfluten? - das ist recht subjektiv. Im Mai 2021 waren wir noch weit entfernt davon. Die Berichterstattung hat sich gesteigert. Doch auch heute hat das Thema in der öffentlichen Berichterstattung noch nicht die Bedeutung erreicht, die ihm aufgrund der Bedrohung zukommen müsste)

In Baden-Württemberg und speziell in der Region Bodensee-Oberschwaben haben wir zudem eine doppelte Umweltsensibilität. Wir fühlen uns hier erstens wohl, weil man die Naturqualitäten in seiner eigenen Sozialisation schätzen gelernt hat, zum Beispiel in den Wald gehen.

Deswegen sind wir in einer so bevorzugten Region besonders sensibel für Störungen dieses Raumes. Außerdem haben Ravensburg, Weingarten und die Umgebung mittlerweile eine sehr gute Infrastruktur von politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich vernetzt haben. Das sind zwei Faktoren, die dazu führen, dass selbst eine kleine Kiesgrube zum großen Anstoß werden kann.

....Wir haben es heute mit einem paradoxen, sprich negativen Effekt von etwas Positivem zu tun. In Baden-Württemberg wird von der Landesregierung das Stichwort Partizipation ganz großgeschrieben. Diese Partizipation wird von den Menschen ernst genommen.

Neben den demokratischen Institutionen schaltet sich jetzt auch die Zivilgesellschaft direkt und in gewisser Weise ungeduldig in politische Prozesse ein. Sozusagen passiert jetzt links vorbei am normalen Politikprozess nochmal eine andere Politik. Das ist ein neues Phänomen, worüber sich eigentlich jede Regierung freuen kann. Auf der anderen Seite ist es wie beim Zauberlehrling: Er hat mit der Partizipation etwas losgelassen, das er jetzt wieder schwer in den Griff bekommt.

Außerdem spielen neben den Massenmedien auch die sozialen Medien eine große Rolle, weil sich dadurch immer mehr Menschen befähigt fühlen, an diesen Diskursen zu partizipieren, selbst wenn sie keine Ahnung haben. Ein Blog ist schnell geschrieben.  (o nein, da liegt er wirklich falsch! Da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen. Aber wir alle wissen was er eigentlich meint....)

In der Protestbewegung ist jetzt ein Generationssprung gelungen. Bislang setzten sich hauptsächlich ältere Semester mit Lokalpolitik und dem Kiesabbau auseinander. Jetzt engagieren sich plötzlich junge Menschen. Was könnten Ursachen dafür sein?

Das überrascht mich als Jugendforscher überhaupt nicht. In den Shell-Jugendstudien wurde über die vergangenen 50 Jahre immer wieder ein Punkt abgefragt: Welches Politikverständnis haben Jugendliche? In den letzten zwei Studien zeigt sich, dass sich ein Teil der Jugendlichen von der deliberativen Demokratie verabschiedet hat, und sich lieber in Projekten engagieren möchte, als in Parteien, weil man dabei den Effekt des eigenen Handelns schneller sieht.

Das insbesondere ökologische Engagement passt zu den Lebensperspektiven von Jugendlichen, die mit dieser Welt noch lange zurechtkommen müssen. Deswegen wird es auch interessant, sich in Sachen Kiesabbau zu engagieren.....?

Diese Baumhausreisenden sind politisch motiviert, aber es gehört zu deren Lebensstil eben auch dazu, das Erlebnis zu haben, mit den Kollegen in Ravensburg protestiert zu haben. Dabei spielt auch Hedonismus und Lebensfreude eine Rolle. Früher hat man Bildungsreisen gemacht, heute macht man Ökoreisen, um zu demonstrieren.

Manchen geht es aber auch um eine andere Gesellschaftsform.

Die Teilnahme an diesen Demonstrationen zeigt auch, dass man mit dieser Gesellschaft insgesamt nicht zufrieden ist und man sich einen anderen Lebensstil wünscht. Das Thema Zeit spielt hierbei auch eine große Rolle.

Ein Punkt aus der Psychologie: In der Zeit im Baumhausdorf kann ich meine Ohnmacht überwinden und erlebe etwas wie Selbstwirksamkeit in der Gruppe. Man wird wahrgenommen, weil ich in der Gegenwart etwas für meine Zukunft tun kann.....

In Vogt ist die Lage verfahren. Wie kann man diesen Konflikt um die Kiesgrube lösen?

Ein erster Lösungsansatz wäre die Schaffung von Foren für die Gruppen, die erst mal entlastet sind von unmittelbarem Ergebniszwang. Hinter den Gruppen stecken ja auch unterschiedliche Weltbilder: Es gibt den Kiesunternehmer, die 19-jährige Gymnasiastin und den 33-jährigen Gemeinderat.

In einem solchen handlungsentlasteten Forum könnte man in spielerischer Art in den Austausch kommen – aber keine Formate wie Mediation und Zukunftswerkstatt.
Dann wäre es auch zweitens gut, wenn die offizielle Politik dokumentiert und nachweist, inwiefern sie auf Einwände der Zivilgesellschaft eingegangen ist oder im schlimmeren Fall nicht eingegangen wird. Der dritte Punkt ist eine tiefe und sachliche Berichterstattung, die zeigt, was Sache ist.

Das könnte ein Weg sein, der die Gruppen unterstützen kann. Der vierte Punkt ist eine hohe Medienkompetenz der Gruppen, um dem auch folgen zu können. Meine Botschaft an die Aktivisten ist: Vergesst die anderen Ebenen nicht, geht zum Wählen und engagiert euch in Parteien!

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