Montag, 7. April 2025

Das Drift-to-Danger-Modell für gefährdete Demokratien erscheint nicht nur plausibel – sondern auch erschreckend aktuell.

 hier  Interview: Prof. Dr.Carsten Könneker  3. April 2025, 

Demokratie zu Autokratie:  Die Kernschmelze der Demokratie

Demokratien können in Autokratien abgleiten – und auf einmal ist die Welt eine andere. Lässt sich das wissenschaftlich beschreiben? Der Psychologe Ralph Hertwig hätte da ein Modell anzubieten. Ein Interview über die gefährliche Normalisierung von Normverletzungen.

Demokratie zu Autokratie: Forscher haben nach dem Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island 1979 und anderen Reaktorvorfällen sorgfältig rekonstruiert, wie es dazu kommen konnte, und daraufhin das Drift-to-Danger-Modell entworfen.

Lässt sich wissenschaftlich fassen, wie eine Demokratie in eine Autokratie abgleitet – und wann Gegenmaßnahmen nötig sind, weil die Gefahr akut ist? Auf der Suche nach einem Modell dafür wurde Ralph Hertwig an überraschender Stelle fündig: der Reaktorsicherheitsforschung. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern übertrug er eine bewährte Terminologie auf havarierende Demokratien und betrat methodisches Neuland. Seit Veröffentlichung des Ansatzes im Dezember 2024 schaudert es den Entscheidungsforscher beim Blick auf das Weltgeschehen: Das Drift-to-Danger-Modell für gefährdete Demokratien erscheint nicht nur plausibel – sondern auch erschreckend aktuell.

Demokratie zu Autokratie: Ralph Hertwig

Ralph Hertwig ist Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität und Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem auf kognitiven Strategien, die Entscheidungsprozesse erklären und verbessern.

Herr Hertwig, im Dezember haben Sie gemeinsam mit Kollegen einen ungewöhnlichen Aufsatz veröffentlicht, in dem Sie den Zerfall einer Demokratie mit einer Reaktorkatastrophe vergleichen. Wie kam es dazu?

Ich hatte mich schon vorher mit der Widerstandskraft von Demokratien beschäftigt. Wir können nicht länger Business as usual im Elfenbeinturm der Wissenschaft betreiben, wenn sich um uns herum fundamentale Veränderungen vollziehen. Neu war jedoch, was wir jetzt konkret gemacht haben.

Was haben Sie gemacht?

In der Psychologie sammeln wir normalerweise Daten in Experimenten oder Umfragen und werten sie aus. Nun haben wir ein wissenschaftliches Modell gesucht, um das, was viele intuitiv spüren – den Niedergang der Demokratie –, sauber zu beschreiben. Denn nur so können wir als Wissenschaftler etwas verstehen und analysieren.

Sie teilen also die Sorge, dass die liberale Demokratie in der Form, wie wir sie lange kannten, bedroht ist?

Diese Sorge treibt viele in der Wissenschaft, aber vielleicht besonders in den Verhaltenswissenschaften um. Wir haben uns gefragt: Gibt es ein wissenschaftliches Modell, mit dem wir die Veränderungen in unserer politischen Kultur konzeptuell so fassen können, dass wir neue Einsichten gewinnen? Kann man zum Beispiel herausfinden, wann und wo Gegenmaßnahmen möglich sind – und welche?

Und fündig wurden Sie bei der Reaktorsicherheit?

Unser Aha-Erlebnis war, als wir erkannten, dass man eine Demokratie – stark vereinfacht – wie ein technisches System betrachten kann: ein High-Security- oder High-Safety-System mit eingebauten Sicherheitsvorkehrungen, die für dauerhafte Stabilität sorgen sollen. Sobald wir diese Metapher fanden, fingen die Teile an, sich zusammenzufügen. In den Risikowissenschaften modelliert man solche technischen Systeme seit Jahrzehnten erfolgreich: Das wegweisende so genannte Drift-to-Danger-Modell beschreibt sehr genau, wie zum Beispiel ein Kernkraftwerk durch schleichende, unsichtbare Prozesse allmählich in einen kritischen Zustand gerät, der dann abrupt zum Systemversagen führt.

Das Modell sagt also vorher, wann der GAU eintritt?

Der exakte Moment ist praktisch kaum vorhersagbar. Das Modell beschreibt, dass sich jedes technische System in einem abstrakten Raum bewegt, der durch drei harte Grenzen definiert ist. Überschreitet das System eine dieser Grenzen, kollabiert es. Die Gründe für den Kollaps können allerdings sehr unterschiedlich sein.

Um welche Grenzen handelt es sich?

  • Die erste ist die Grenze zum wirtschaftlichen Kollaps: Jedes System kann finanziell vor die Wand gefahren werden. 

  • Die zweite markiert technisches Versagen: Der Reaktor havariert. 

  • Die dritte Grenze wird durch die menschliche Kapazität definiert, die das System am Laufen hält. Wenn beispielsweise die Arbeitsbelastung der Menschen zu stark wächst, bricht das System auch irgendwann zusammen. 
Innerhalb dieses gedachten Raums bewegt sich das System mal mehr in Richtung der einen Grenze, mal in Richtung einer anderen. Das kann man sich wie eine Art brownsche Molekularbewegung vorstellen, die auf äußere Einflüsse reagiert. Versucht das Management, die Effizienz zu steigern, ändert sich die Richtung. Reagieren die Mitarbeitenden auf in ihren Augen nicht mehr zu bewältigende Arbeitsbelastung und Effizienzdruck, ändert sich die Richtung. Werden neue Sicherheitsmaßnahmen eingeführt, ändert sich ebenfalls die Richtung.


"In Demokratien verletzen meist die politischen Eliten
die Normen"


Aber solange das System innerhalb der Grenzen bleibt, ist alles in Ordnung?

Genau, dann bleibt das System intakt. Doch je näher es den Grenzen kommt, desto problematischer wird es. Niemand will schließlich den ökonomischen, menschlichen oder technischen Kollaps riskieren.

Das Drift-to-Danger-Modell entstand als Reaktion auf den Three-Mile-Island-Unfall 1979 bei Harrisburg in Pennsylvania, als es zur Kernschmelze kam. Welche Schlüsse zog man aus dem Unfall?

Damals erkannte man, wie vorhandene Sicherheitsmaßnahmen unbemerkt unterlaufen werden können: Drängt das Management beispielsweise zu sehr auf Effizienz, führt das auf Seiten der Mitarbeiter schnell zu Ausweichbewegungen. Man nimmt zum Beispiel eine regelwidrige oder mit höheren Risiken verbundene Abkürzung, um die ständig steigenden Anforderungen doch noch irgendwie zu erfüllen. Diese Normverletzungen führen schleichend zu einer Aushöhlung der Funktionsfähigkeit des Reaktors. Selbst Pfusch bleibt oft lange unbemerkt – und wenn er auffällt, wird er eventuell nicht konsequent geahndet. Hier und da erheben sich vielleicht warnende Stimmen, doch die Abkürzungen und Vereinfachungen werden weithin stillschweigend akzeptiert und in Folge normalisiert.

Und diese Normalisierung ist die eigentliche Gefahr?

Das ist genau der Kern des Modells: Ohne dass man es recht bemerkt, driftet das System in eine Gefahrenzone, auf einen Kipppunkt der Funktionsuntüchtigkeit zu. Selbst wenn diese Drift bemerkt wird, handelt man oft nicht entschlossen, weil niemand genau weiß, wie nah die mögliche Katastrophe schon ist. "Ist ja noch alles in Ordnung", heißt es dann, doch in Wirklichkeit ist es das längst nicht mehr. All das haben Forscher nach dem Unfall von Three Mile Island und anderen bedeutsamen Vorfällen sorgfältig rekonstruiert, aus den Ergebnissen entwickelte sich eine ganz neue Sicherheitskultur. Das Modell wird heute weltweit in Hochsicherheitsindustrien eingesetzt, um das Abdriften der Systeme in Gefahrenzonen besser zu verstehen, zu modellieren und zu verhindern.

Gemeinsam mit Kollegen haben Sie das Drift-to-Danger-Modell nun von Hightech auf die Demokratie übertragen. Die Parallele zum atomaren GAU wäre das Umschlagen in eine Autokratie oder Diktatur – richtig?

So ist es. Wir haben das Modell anhand von sieben historischen Fast-Havarien von Demokratien weiterentwickelt und dabei auf die Vorarbeit anderer Wissenschaftler – Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler – zurückgegriffen. Eines der Beispiele war etwa der gescheiterte Militärputsch in Spanien 1981, als eine junge Demokratie kurz davorstand, wieder in eine Diktatur zu kippen, was damals durch das beherzte Eingreifen des Königs verhindert wurde.

Worin bestehen die Normverletzungen in Ihrem Modell?

In Demokratien verletzen meist die politischen Eliten die Normen. Wie in technischen Systemen gibt es Sicherheitsvorkehrungen oder "Checks and Balances": unabhängige Gerichte, freie Presse oder Gesetze, die zum Beispiel regeln, was bei einem Misstrauensvotum im Parlament geschehen muss. Gerade unser Grundgesetz ist ja in vielerlei Hinsicht eine Reaktion auf die Weimarer Verfassung – und ihre Schwachpunkte. Es enthält Sicherungen, die auf ein dauerhaftes Funktionieren der Demokratie abzielen. Die wichtigste ist die Gewaltenteilung. Doch Normverletzungen der Eliten können die Sicherheitsvorkehrungen schleifen, ganz langsam, Stück für Stück. Das kann bis zum Gesetzesbruch gehen. Oft vollziehen sich die Verstöße jedoch im Graubereich der Konventionen. Jede demokratische Verfassung erfordert Interpretation. Und wenn Eliten diese Graubereiche rücksichtslos für eigene Zwecke ausnutzen, beginnt die schleichende Drift in Richtung Autokratie. Das ist die eine Seite des Problems.

Und die andere?

Eine Demokratie bricht nicht sofort zusammen, wenn der Regierungschef oder eine bestimmte Partei Grenzen austesten. Doch wiederholte Normverletzungen höhlen allmählich die Standards aus. Die Bürgerinnen und Bürger gewöhnen sich daran, dass Gesetze gedehnt, Parlamente übergangen, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden diskreditiert, freie Medien drangsaliert und systematisch Lügen verbreitet werden. Dieser graduelle Prozess vollzieht sich teils über, teils unter unserer Wahrnehmungsschwelle.

Das bedeutet?

Manche Verletzungen bemerkt die Öffentlichkeit gar nicht, oft fehlen auch die entsprechenden Informationen, wie historische Beispiele zeigen. Doch selbst wenn die Normverletzungen vor aller Augen geschehen, kann es vorkommen, dass die Bürger diese nicht eindeutig sanktionieren, zum Beispiel durch Abstrafen an der Wahlurne oder etwa durch flächendeckende Demonstrationen. Stattdessen setzt sich die Drift fort und bringt uns näher an die Gefahrenzone mit ihren verborgenen Kipppunkten. Wo die sich genau befinden, ist aber sehr schwer vorherzusagen, sie liegen gewissermaßen im Nebel oder im Zwielicht der Ungewissheit. Deswegen fällt es auch schwer zu entscheiden, ob eine bestimmte Normverletzung schon die eine zu viel ist – oder ob noch weitere folgen könnten, ohne dass die Drift unwiderruflich Fahrt in Richtung Autokratie aufnimmt.

Vor gut einem Jahr gingen in Deutschland Millionen Menschen als Reaktion auf das so genannte Potsdamer Treffen zur Remigration auf die Straße. Wie bewerten Sie das?

Das war in der Tat eine starke Gegenreaktion der Zivilgesellschaft auf das Treffen von AfD und anderen Mitgliedern rechtsextremer Gruppierungen, wo es um das Thema staatlich angeordneter und durchgesetzter Rückführung von Menschen mit Migrationshintergrund ging. Sie zeigt, dass man manche Normverletzungen durchaus bemerken und ahnden kann – leichter jedenfalls als den schleichenden Prozess des Driftens. Hier spielt uns die Psychologie einen Streich.

Inwiefern?

Wir sind nicht gut darin, Risiken einzuschätzen. Wir unterschätzen die Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Ereignisse, auch was mögliche Folgen betrifft. Die Gesamtheit unserer Erfahrung sagt uns: "Alles in Ordnung, es ist bis hierher gut gegangen, so wird es auch weitergehen." Viele Amerikaner sagen sich angesichts der aktuellen politischen Ereignisse vermutlich: Na ja, alles nicht schön, aber wir haben auch die erste Trump-Administration überstanden. Da spielt dann unter Umständen auch ein trügerisches Gefühl der Sicherheit oder Selbstgefälligkeit mit rein. Dafür gibt es viele Beispiele, auch aus ganz anderen Kontexten.

Nämlich?

In Neapel bauen die Leute ihre Häuser am Fuß des Vesuvs bis in die gefährliche rote Zone hinein, wo man sich nach Empfehlung von Fachleuten nicht mehr ansiedeln sollte. Jeder Vulkanologe würde sagen: Das ist Wahnsinn, ihr baut eure Häuser an einen der gefährlichsten Vulkane und riskiert euer Leben, zumindest aber euren Besitz! Das ist die eine Sichtweise: Menschen sind irrational. Die andere lautet: Der letzte Ausbruch war 1944. Das heißt, die Menschen, die heute dort leben, haben beständig die Erfahrung gemacht, dass eigentlich nichts Schlimmes passiert.

So wie die Menschen in Deutschland – wenn sie nicht 100 Jahre alt sind – keine eigene Erinnerung mehr daran haben, wie schon einmal eine Demokratie in eine Diktatur mündete?

Natürlich kann man das aus Büchern und Filmen lernen. Aber das ist etwas anderes als die eigene direkte Erfahrung. Ich nenne das den Fluch des Erfolgs der Demokratien. Zumindest in Westdeutschland leben wir seit 80 Jahren in einem relativ sicheren System mit einer für die meisten auch finanziell soliden Basis und einem funktionierenden politischen System. Kein Wunder, dass bei uns der Eindruck vorherrscht, alles sei noch in Ordnung. Wir haben auch früher die ein oder andere Normverletzung überstanden und werden das auch jetzt wieder – so könnte der Tenor der kurzsichtigen Erfahrung lauten.


"Desinformation ist Gift für das politische System"


Mangelnde persönliche Erfahrung mit Risiken kann also zu falschen Schlussfolgerungen führen. Haben Sie noch ein Beispiel dafür?

Nehmen Sie das Risikoverhalten von Teenagern. Egal, ob es ums Rauchen geht oder um sexuell übertragbare Erkrankungen, wo sich das Risiko peu à peu aufbaut, die Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist oder beides: Die ersten Erfahrungen, die Jugendliche in diesen Fällen machen, lauten fast immer: Hey, da passiert ja gar nichts; it's all safe.

Kommen wir noch einmal auf die deutschlandweiten Demonstrationen gegen das so genannte Potsdamer Remigrationstreffen zurück – für Sie ein Beispiel dafür, wie die Zivilgesellschaft eine Normverletzung ahnden kann. Aber sind wir nicht inzwischen so weit, dass der Begriff "Remigration" zwar vielleicht noch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, aber doch schon ein Stück weit normalisiert wurde?

Sie haben völlig Recht, das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Begriffe eingeführt werden, die zunächst Entsetzen und Empörung auslösen, dann aber durch die weitere Verwendung normalisiert werden. Ein anderes folgenreiches Beispiel für so einen Normalisierungsprozess ist, wie Donald Trump strategisches Lügen im amerikanischen Politikbetrieb als politisches Mittel etabliert hat. Die Normalisierung von Normverletzungen, wie das Drift-to-Danger-Modell sie beschreibt, umfasst sowohl unsere Sprache als auch unser Verhalten. Die Maßstäbe verschieben sich: Was früher den Rücktritt eines Politikers erzwungen hätte, gilt heute als Petitesse.

Populisten halten ihren politischen Gegnern häufig Normverletzungen vor: Die etablierten Parteien würden den "wahren Willen" des Volkes verraten. Wie sehen Sie das?

Diese Strategie kann man als eine Form der bewussten Projektion verstehen: Man lenkt von eigenem Fehlverhalten ab, indem man es bei anderen diagnostiziert und hervorhebt.

Sie haben auch Risikofaktoren identifiziert, die politische Normverletzungen wahrscheinlicher machen. Welche sind das?

Der größte Risikofaktor ist die affektive Polarisierung: Der politische Gegner wird nicht mehr als legitimer Konkurrent im demokratischen System angesehen, sondern herabgewürdigt, entmenschlicht und delegitimiert. In der aufgeheizten Atmosphäre der USA werden Normverletzungen oft schon gar nicht mehr bestraft, besonders dann nicht, wenn der Verursacher zum eigenen Lager gehört. Die Menschen legen mehr Wert auf ihre Gruppenzugehörigkeit, als sich als Teil des demokratischen Gemeinwesens zu begreifen. Andere Risikofaktoren sind Desinformation, Verschwörungstheorien oder ganz allgemein manipulative Informationen. Ist deren beständige Verwendung einmal normalisiert, lässt sich dieses Gift kaum wieder aus dem politischen System entfernen. 

Welche Risikofaktoren gibt es noch?

Politische Apathie, etwa die Weigerung, überhaupt noch zu wählen, sowie bewusstes Nichtwissenwollen – wir haben dies "deliberate ignorance" genannt. Dieses Phänomen beobachte ich auch an mir selbst: Bestimmte Dinge ignoriere ich mittlerweile bewusst oder ich verzichte darauf, mich darüber zu informieren – einfach, um halbwegs mental gesund zu bleiben. Dieses Selbstschutzverhalten birgt aber natürlich ein Risiko: Wenn wir alle wegsehen, verlieren wir als Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu reagieren.


"Vieles erschreckt mich, vor allem die Beschleunigung der Drift"


Jetzt, wo das Drift-to-Danger-Modell der Demokratiesicherung steht: Wie können wir der Erosion von Demokratien entgegenwirken?

Der erste Schritt bestand darin, Konzepte für die zu Grunde liegenden Prozesse zu finden. Wissenschaftler benötigen eine Terminologie, ein Modell. Auf dieser Grundlage kann man noch zielgenauer überlegen, wie mein Fach, die Psychologie und allgemeiner die Verhaltenswissenschaften, dazu beitragen kann, das Abgleiten der Demokratie in eine Autokratie zu verhindern. Das erfordert sicher eine Werkzeugkiste verschiedenster Maßnahmen. 

Besonders wichtig erscheint mir die Informationsökologie: Wie stellen wir sicher, dass Menschen akkurate, nichtmanipulative, hilfreiche und transparente Informationen erhalten – und manipulative Information aussortieren können? Dazu gibt es schon viele Interventionsmöglichkeiten. Manche werden auch bereits praktisch umgesetzt, etwa solche, die auf affektive Depolarisierung abzielen.

Was verbirgt sich dahinter?

Die Frage lautet hier, wie wir es schaffen, den anderen wieder als legitimen Konkurrenten im demokratischen Wettbewerb zu sehen, statt ihn vernichten zu wollen. Eine Intervention zielt zum Beispiel darauf ab, die fehlerhafte Wahrnehmung zu korrigieren, die Gegenseite würde undemokratisches Handeln und Normverletzungen bedingungslos tolerieren, ja gutheißen. Wichtig wäre zu erkennen: Ich bin mit meiner Einschätzung etwa von Trumps Verhalten nicht allein, auch etliche Republikaner finden das kritisch. So wird das Schwarz-Weiß-Denken "Wir versus die anderen" aufgebrochen.

Was kann man noch machen?

Ich halte viel von simulierten Erfahrungen, die eine andere Perspektive eröffnen. In der Risikoaufklärung neigen wir dazu, Menschen zu warnen – schriftlich, akustisch, mit Symbolen. Simulierte Erfahrungen machen aber ein Risiko spürbar. In Japan beispielsweise gibt es mobile Erdbebensimulatoren auf Lkws, in denen Kinder ein simuliertes Beben erleben können. Man muss sich nur die Reaktion der Kinder und was sich in ihren Gesichtern abspielt ansehen: Das hat eine andere Wirkung und bewirkt ein besseres Verständnis als jedes Video von einem Erdbeben. Etwas Vergleichbares gibt es in der Ausbildung von Altenpflegerinnen und -pflegern: den so genannten Aging Suit, einen engen, schweren Anzug. Wer damit ein paar Treppen steigt, begreift, was es bedeutet, alt zu sein, und welche Herausforderungen Ältere zu bewältigen haben.

Wir bräuchten also so etwas wie Autoritarismus-Lkws oder -Anzüge?

In gewisser Weise. Wenn Sie zum Beispiel das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen besuchen und sich von einem ehemaligen Häftling führen lassen, dann bleibt das Erlebte haften. Sie können es nicht einfach beiseiteschieben. Es hat eine andere Qualität, als wenn Sie nur darüber lesen. Diese Praxis könnte man adaptieren: Auch in Deutschland leben viele Menschen mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen in autoritären Systemen, sei es aus Syrien, Russland oder anderswo. Das ist ein ungeheurer Schatz an Erfahrung, vor allem weil bald keine ehemaligen KZ-Insassen mehr leben werden, die noch aus erster Hand berichten könnten.

Wie blicken Sie inzwischen selbst durch die Linse des Drift-to-Danger-Modells auf die Welt?

Vieles erschreckt mich, vor allem die Beschleunigung der Drift. Die Erosion der amerikanischen Demokratie zum Beispiel begann ja nicht mit dem Amtsantritt von Donald Trump. Gerrymandering – das strategische Verschieben von Wahlbezirksgrenzen zu Gunsten der eigenen Partei – ist schon lange normal, auch die Besetzungen des Supreme Court rein nach ideologischem Kalkül. Doch seit dem Amtsantritt erleben wir eine ungeheure Beschleunigung von Normverletzungen, die offenbar schon zum großen Teil normalisiert sind. Wo bleibt der große Aufschrei der Zivilgesellschaft und der Institutionen? Es geht hier ja nicht nur um die Partei der Demokraten. Wie reagieren Universitäten auf die Entziehung von Bundesmitteln, mit denen sie ideologisch auf Linie gebracht und akademische Freiheiten eingeschränkt werden sollen? Oder auf die Aussage von Trumps Vizepräsident J. D. Vance, die Professoren seien die Feinde? Dass der Widerspruch aus Zivilgesellschaft und Institutionen nicht ansatzweise in dem Maße kommt, wie man ihn erwarten würde, finde ich äußerst besorgniserregend. Doch wir sollten nicht nur auf die USA starren. Normverletzungen im Handeln und in der Sprache und deren Normalisierung kann man längst auch bei uns beobachten.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei spektrum.de und wurde ohne Anpassungen am Fließtext übernommen.

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