Sonntag, 6. April 2025

Corona : die Erfahrung dieser Zeit ernst nehmen als etwas, das geprägt hat, ohne verstanden zu sein.


hier  JONAS SCHAIBLE   MÄRZ 17

Wir hätten uns allen viel erzählen müssen

Vielleicht geht es gar nicht darum, die Pandemie aufzuarbeiten. Vielleicht braucht es etwas ganz anderes.

 


Genau ein halbes Jahrzehnt ist es jetzt her, dass die Corona-Pandemie für uns alle als das ersichtlich wurde, was sie war: ein unmittelbar lebensbedrohliches und lebensveränderndes Jahrhundertereignis. 

Vor ziemlich genau fünf Jahren verließen wir unsere Büros und kehrten für Jahre nicht zurück – wenn wir das Glück hatten, in Jobs zu arbeiten, die sich von Zuhause erledigen ließen.

In der vergangenen Woche drängte die Pandemie mal wieder voll in unsere politische Gegenwart. Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung und ziemlich parallel auch die NZZ berichteten, der Bundesnachrichtendienst gehe schon seit Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von »80 bis 95 Prozent« davon aus, dass das Virus im Labor entstanden sei, nicht in der Wildnis, zum Beispiel auf dem Wildtiermarkt.

Das Kanzleramt sei seit 2020 darüber unterrichtet, soll aber mit der Information nichts angefangen, sie geheimgehalten haben.

Als ich davon las, hatte ich sofort das Gefühl: Das wird groß.

Allerdings nicht, weil ich die Erkenntnis für revolutionär halte oder das Berichtete für evident skandalös. Die entscheidende Stelle im Zeit-Artikel, in der die Argumentation des BND zusammengefasst wird, lautet:

»Die deutschen Agenten kommen dem Ursprung der Pandemie in jenem Krisenjahr 2020 so nahe, wie das im damals hermetisch abgeriegelten China möglich war. Neben Messreihen an Daten, die sich mit Coronaviren befassen, treiben sie Informationen zu Tierversuchen sowie mehrere wissenschaftliche Untersuchungen auf, darunter unveröffentlichte Dissertationen aus den Jahren 2019 und 2020. Diese Doktorarbeiten befassen sich angeblich mit der Wirkung von Coronaviren auf das menschliche Gehirn. In Wuhan, darauf deutet das Material hin, lag ungewöhnlich früh ungewöhnlich viel Wissen über das angeblich doch so neuartige Virus vor.«

Auf dieser Grundlage lässt sich leider keine informierte Aussage darüber treffen, wie überzeugend die Überzeugung des BND ist. Und solange man das nicht kann, kann man auch keine Aussage darüber treffen, ob es politisch klug oder unverzeihlich war, so zu tun, als gäbe es diese Geheimdiensteinschätzung nicht.

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Ich vermute, dass die Autoren ein paar Details mehr kennen, die sie nicht schreiben dürfen, die aber ihre Grundhaltung informieren und die Art, wie sie diesen Text erzählt haben. Vielleicht haben sie auch die Einschätzung von Expert*innen, dass die Hinweise des BND plausibel sind. Aber das ist sozusagen informierte Schätzung auf der Grundlage von nichts außer Wissen darüber, wie Texte entstehen.

Früher habe ich mich oft darüber geärgert, wenn in journalistischen Texten stand, Merkel denke dieses oder Peter Altmaier jenes oder Sigmar Gabriel sei überzeugt, dass. Niemand kann in den Kopf der Menschen schauen, er kann nur wissen, was sie sagen.

Heute sehe ich das immer noch so, aber ich schreibe solche Dinge trotzdem ab und an, weil sie manchmal die einzige Möglichkeit sind, Wissen mindestens in den Subtext eines Artikels einzuweben, wenn ich es auf niemanden genau zurückführen darf. Und in der Abwägung, es nicht zu verwenden, oder es so zu verwenden, dass es für Leser*innen zwar bloße Behauptung bleibt, aber doch da, fällt die Entscheidung mal so, mal so.

Die Hoffnung wäre, dass Leser*innen mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis zum Medium oder den Autor*innen aufbauen, das es ihnen dann erlaubt, diese Hinweise auch aufzunehmen.

Umgekehrt ist natürlich eine zwingende Voraussetzung für eine solche Praxis, dass man sorgsam und genau bleibt und sich der Verantwortung bewusst ist, die man hat, wenn man so einen Vertrauensvorschuss in Anspruch nimmt.

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Ich mache diesen kleinen Exkurs, um ein bisschen verständlich zu machen, wie ich so einen Artikel lese, wonach ich Ausschau halte – aber auch, um erneut deutlich zu machen: Auch wenn man dieses Wissen hat, bleibt es Stochern im Nebel.

In diesem Fall halte ich die Information, dass der BND schon lange so denkt und dass das Kanzleramt das in der Schublade hielt, für unzweifelhaft hochinteressant und berichtenswert. Ich kann bloß noch kein bisschen einordnen, was das eigentlich heißt.

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Denn natürlich spricht aus Sicht einer Regierung sehr vieles dafür, mit so einer Einschätzung vorsichtig umzugehen. 80 bis 95 Prozent, das soll wohl präzise klingen soll, aber sagt im Grunde nur: »Wir sind uns sehr sicher, aber nicht so sicher, dass wir uns darauf festnageln lassen wollen«. Das ist viel, aber ist sie genug?

Ist es genug, wenn es darum geht, die mindestens indirekte Verantwortung für eine globale Pandemie mit Millionen Toten, Gesellschaften im Ausnahmezustand, Ökonomien auf Pause? Ist es genug, wenn daraus wer weiß welche Forderungen abgeleitet würden? Wenn sowieso so schon rassistische Anfeindungen gegen asiatisch gelesene Menschen überall in Europa bekannt sind? Wenn man damit einen der wichtigsten Handelspartner dauerhaft verärgert?

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Anders gesagt: Ist das Kanzleramt wirklich der Akteur, der mit politisch hochbrisanten Informationen von enormer Tragweite hausieren gehen sollte, wenn er nicht absolut sicher ist?

Das ist eben die Frage: War man absolut sicher? Wie sicher war man? Das Kanzleramt muss sich festnageln lassen. Es muss mit den Folgen umgehen.

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Andererseits gibt es natürlich Möglichkeiten, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, dass es so eine Einschätzung gibt, ohne sie sich selbst zu eigen zu machen. Insofern ist es nicht ganz abwegig, wenn jetzt erneut die Diskussion darüber aufgebrochen ist, wie seinerzeit mit der Frage nach dem Ursprung der Pandemie umgegangen wurde.

Das war ja von Anfang an eine heiß umstrittene und eminent politische Debatte, was man schon daran erkennen kann, dass sie so viele Gemüter erhitzt, dass es so viele eindeutige Verfechter der einen oder anderen These gibt, obwohl es schlicht keinen guten Grund gibt, Verfechter der einen oder anderen These zu sein.

Ich habe eben nochmal in alten Tweets gewühlt, um sicherzugehen, dass ich mich nicht selbst betrüge, aber offenbar war es doch so: Ich habe 2020 mal davon geschrieben, die Pandemie sei »durch Tiernutzung ausgebrochen« dann ab 2021 mehrfach, dass man es schlicht nicht weiß, aber zur Kenntnis nehmen muss, dass die WHO nicht von einem Laborunfall ausgeht. Das erleichtert mich ein bisschen. Die Erinnerung trügt also nicht.

Es gibt bis heute keinen eindeutigen Beleg für Tiermarkt oder Labor. Wenn auch zumindest einige Hinweise darauf, dass laute öffentliche Vertreter der Tiermarktthese eigentlich gar nicht so überzeugt waren oder dass manches Argument zwielichtig war.

Die kluge Publizistin Zeynep Tufekci, deren Texte während der Pandemie beständig ein guter Orientierungspunkt waren, und die schon länger dafür eintritt, dass die Laborthese ihre Berechtigung hat, ohne sie sich zu eigen zu machen, hat das gerade ausführlich aufgeschrieben (Geschenklink).

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Simpel gesagt: Natürlich muss man misstrauisch werden, wenn ein neues, hochansteckendes Coronavirus in einer Stadt auftritt, in der ein Labor steht, das dafür bekannt ist, an genau solchen Viren zu forschen. Zumal, wenn es auch hochriskante Versuche macht, bei denen es darum geht, die Übertragbarkeit auf Menschen zu untersuchen.

Es wäre ja albern, nicht stutzig zu werden. Es wäre sogar naheliegend, ohne weitere Informationen die Erklärung eines Laborunfalls für die wahrscheinliche zu halten.

Aber ein Beleg ist das nicht und es gab eben auch bekannte Fälle im Umfeld des Wet Market und Hinweise darauf, dass das Virus dort auftrat.

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Deshalb würde ich immer sagen: Die Laborthese an sich war damals keine Verschwörungstheorie im engeren Sinne, also keine an den Haaren herbeigezogene Idee vom Einfluss dunkler Mächte. Sie ist es auch heute nicht.

Aber natürlich war sie, in der Art, wie sie eingesetzt wurde, damals eine Verschwörungstheorie – weil sie nicht als plausible Möglichkeit, von der man persönlich sogar überzeugt sein kann, behandelt wurde. Sondern als Tatsache, als die man sie eben nicht mit guten Gründen begreifen kann.

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Und damit sind wir an der Stelle, an der alles aktuell politisch wird. Die Laborthese wird nun, ich habe das schon da und dort gelesen, von manchen als Beispiel dafür genommen werden, dass damals geächtet worden sei, wer von Konsens abwich, selbst wenn er recht hatte. Dass damals also eine Orthodoxie, die sich als wissenschaftlich gab, aber eigentlich ideologisch war, den Meinungskorridor verengt habe.

Deshalb ist es so wichtig, festzuhalten: Die Anhänger der Laborthese hatten nicht recht. Wir wissen nach wie vor nicht, ob das Virus aus dem Labor kam. Und selbst wenn wir heute zeigen könnten, dass es so war, hätten sie nicht recht gehabt – weil wir es damals weder wussten noch wissen konnten. Wer damals behauptete, es zu wissen, war kein Hellseher, sondern ein Scharlatan, der zufällig richtig lag.

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Trotzdem, und dazu empfehle ich noch mal den Text von Zeynep Tufekci von oben, ist es richtig, genau zu analysieren, wo die Abwehr der Laborthese übereilt, übertrieben scharf und eindeutig geschah. Wo also die Anhänger der Tiermarktthese in etwas rutschten, was funktional ähnlich war wie eine Verschwörungstheorie – die Behauptung von Gewissheit, die es nicht gab.

Umgekehrt lohnt es sich, sich noch einmal das ein oder andere Pamphlet durchzulesen. Zum Beispiel jene vorgebliche Studie, die seinerzeit offiziell von der Pressestelle der Uni Hamburg verbreitet wurde, die mich so entsetzt hat, dass ich diesen Twitter-Thread absetzte, dem man meine Entgeisterung, nun ja, deutlich anmerkt. 

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Ich habe die Tage auf dem Land im Berliner Umland ein Graffito entdeckt, das heißt: »Pandemie gab es nie«.

Das Problem an der Pandemie damals und an der so genannten Aufarbeitung der Pandemie ist, dass es damals ein relevantes gesellschaftliches Lager gab, das mit wildesten Verschwörungstheorien das offensichtliche leugnete: dass da ein neuartiges Virus umging, mit dem Potenzial, Dutzende Millionen Menschen zu töten und noch mehr für immer zu zeichnen.

Ein Lager, das alles unternahm, um eine ehrliche Lageanalyse und politische Reaktionen darauf zu erschweren, zu delegitimieren und zu beenden. Oder eher: verschiedene Lager, aus verschiedenen Gründen, Motiven, Überzeugungen, die aber angeheizt wurden von sehr weit rechts.

Es gibt etliche Studien, die zeigen, wie systematisch die extreme Rechte, Pegida beispielsweise, damals an die Querdenkenproteste andockte. Wie sie Pandemieängste ansprach. Wie sie den Frust über staatliche Eingriffe, die eine Folge der Gefährlichkeit des Virus waren, nutzte, um die staatliche Eingriffe als Lust an der Unterjochung umzudeuteten.

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Politik in der Pandemie war also damals der Kampf gegen ein tödliches Virus in Gesellschaften unter Druck der autoritären Rechten.

Wenn man heute, wie so gern gefordert wird, die Pandemie aufarbeiten will, muss man das berücksichtigen: Man muss erkennen, dass man damals natürlich nicht ignorieren konnte, dass ein Teil der Öffentlichkeit ein doppeltes Spiel spielte.

Man muss, wenn man das tut, zugleich berücksichtigen, dass so etwas natürlich die Gefahr erhöht, dass jemand Fehler macht, überreagiert, übervorsichtig wird – vielleicht selbst zu Engstirnigkeit und Basta-Gehabe neigt.

Die autoritäre Instrumentalisierung der Pandemie hat eine gewisse Vorsicht in der Kommunikation unumgänglich gemacht und damit zugleich die Wahrscheinlichkeit von Vertuschung und Irreführung der Öffentlichkeit erhöht.

Noch so ein Beispiel dafür, dass der Autoritarismus von Voraussetzungen lebt, die er selbst schaffen kann.

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Die Lage hat sich seitdem noch verschärft. Die autoritäre extreme Rechte betreibt seit Jahren etwas, was ich narrative Nachsorge nenne. Während der Rest der Gesellschaft, der Politik, der Medien weitergezogen ist zur nächsten Krise, bearbeitet sie die Pandemie weiter.

»Die modernen Propagandisten des Autoritarismus (...) führen Probleme der Gegenwart auf vergangene Krisen zurück und fügen beides ein in ihre Großerzählung.

Sie nutzen Begriffe über Jahre immer wieder (»Merkels Facharbeiter« oder »Merkels Goldstücke« für Migrantinnen und Migranten). Sie behaupten, Übel von heute seien eine Folge von Entscheidungen in früheren Krisen. Sie nutzen die Tatsache, dass man nach einer Weile vergessen hat, wie ernst die Lage war, und behaupten etwa, es sei in der Pandemie darum gegangen, Menschen zu unterjochen, die Maßnahmen seien gänzlich unnötig und überzogen gewesen.

Je weiter die Krise zurückliegt, desto plausibler werden solche Behauptungen für viele Menschen. So wirkt Propaganda auch Jahre nach Krisenschocks effektiv.«

(Link zum Essay, frei ohne Paywall)

Sie erzählt hoch und runter, dass nichts aufgearbeitet sei, obwohl es reichlich Formate gab, aber die Formate reichen ihr nie, weil sie keine Aufarbeitung will, sondern ein Schuldeingeständnis. Sie will, dass die verantwortlichen Politiker*innen auf die Knie fallen und Abbitte leisten.

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Auch die Aufarbeitung wird also dadurch erschwert, dass sie für autoritäre Propaganda vereinnahmt wird – und wie in so vielen anderen Fällen scheint mit der Umgang mit dieser Tatsache weitgehend hilflos zu sein.

Für Aufarbeitung zu sein, das ist weitgehend Konsens, aber was man damit meint und erreichen will, das wird selten spezifiziert. Wie man verhindert, dass man sich damit zum Instrument einer revisionistischen, propagandistischen Geschichtsschreibung macht, den Gedanken sehe ich überhaupt ganz selten auch nur formuliert.

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Die Gefahr ist aber real, weil jede Aufarbeitung, die zu denselben Einsichten kommt, die damals schon verbreitet waren, unter dem Verdacht steht, nicht richtig oder nicht selbstkritisch genug aufgearbeitet zu haben.

Es gehört auch zur narrativen Nachsorge, so zu tun, als wisse man nicht, auf welcher Grundlage damals entschieden worden sei, als sei Politik intransparent gewesen, obwohl man das alles genauestens verfolgen konnte, aus den Ministerpräsidentenkonferenzen mitunter fast in Wortlautprotokollen, so viel wurde durchgestochen.

Ich hatte damals eine Twitter-Liste, über die ich jeden Tag aktuelle Forschung, Studien, Erkenntnisse aus der ganzen Welt empfohlen und gedeutet bekam. Dazu kamen die Podcasts und Interviews und RKI-Briefings. Es war erstaunlich, was man wissen konnte, ohne zuvor je etwas mit Medizin oder gar Virologie zu tun gehabt zu haben.

In der Pandemie fehlte es nicht an Wissen oder Transparenz. Es fehlte an Gewissheit, aber das lag nicht an Wissenschaft, Medien oder Politik, sondern daran, dass ein todbringendes Virus umging.

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Die Pandemie, ich habe das hier neulich ausgeführt, war eine extreme, existenzielle Ohnmachtserfahrung. Eine grundlegende Erschütterung der Weltgewissheit.
Ein Ereignis, das tief in Leben eingeschnitten hat und zwar in jedes einzelne. Unsere Leben wären andere, hätte es SARS-CoV-2 nie gegeben. Unsere Welt wäre eine andere, auch wenn wir nicht genau wissen, wie sie wäre. Mindestens sieben Millionen, wahrscheinlich rund 15 Millionen, vielleicht sogar 20 Millionen Menschen könnten noch am Leben sein.

Menschen haben eine doppelte Pandemierfahrung gemacht: das völlige Ausgeliefertsein, die Ohnmacht angesichts der Ereignisse, und zugleich die eines unglaublich mächtigen, durchregierenden Staates.

Wir haben, davon bin ich tief überzeugt, noch nicht einmal andeutungsweise verstanden, was das alles ausgelöst hat.

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Deshalb glaube ich auch, dass wir uns eher zu wenig mit der Pandemie auseinandersetzen. So skeptisch ich wegen propagandistischen Instrumentalisierung bin, wann immer von Aufarbeitung die Rede ist, so wichtig fände ich es, die Erfahrungen von damals mehr zu bearbeiten.

Natürlich sollten Sozialwissenschaften und Public-Health-Expert*innen und staatliche Stellen intensiv versuchen, bestmögliche Schlüsse zu ziehen, Maßnahmen und ihre Wirksamkeit genau analysieren, sich die Verteilung des Impfstoffs anschauen. Nur so kann man hoffen, beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein, oder wenigstens nicht schlechter.

Aber wenn ich sage, es gehe um Bearbeitung der Erfahrung, dann meine ich etwas anderes, das viel weniger zielgerichtet ist. Sobald von Aufarbeitung die Rede ist, schwingt mit: Fehler finden, Versäumnisse aufzeigen, Übergriffe anprangern. Was ich meine, ist: die Erfahrung dieser Zeit ernst nehmen als etwas, das geprägt hat, ohne verstanden zu sein.

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Wenn Sie im Leben schon einmal mit Verlust zu tun hatten, von Gewissheiten, Sicherheit oder Menschen, die Ihnen nahe standen, dann werden Sie vielleicht auch die Erfahrung gemacht haben, dass es helfen kann, darüber zu sprechen.

Nicht nur einmal, sondern wieder und wieder, weil man sich erst herantasten muss an die Worte, die angemessen klingen oder wenigstens nicht unangemessen. Weil man verschiedene Haltungen ausprobieren muss, bis man eine findet, mit der man sich wohlfühlt, zwischen Trauer, Zorn, Widerständigkeit oder Milde. Weil einem immer wieder etwas Neues einfällt.

Vielleicht ist es das, was wir erst einmal bräuchten. Nicht reden, um zu. Sondern nur: reden. Sich herantasten. Ausprobieren. In Erinnerungen kramen.

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So etwas kann man nicht staatlich verordnen. Ich weiß nicht, ob ein nationaler Gedenktag irgendetwas in Gang setzen würde, da habe ich meine Zweifel. Oder eine Intervention des Bundespräsidenten. Dann vielleicht sogar wirklich eher eine große Samstagabendshow, die sich Cornelius Pollmer in der Zeit neulich ausgedacht hat (+), schon, weil der Text so lustig ist, dass ich geneigt wäre, einzuschalten.

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In London gibt es ein Stück Mauer an der Themse, das über und über mit roten Herzen bemalt ist. Menschen können die Namen von denen hineinschreiben, die sie verloren haben. Diese National Covid Memorial Wall zieht sich über einen halben Kilometer. Sie ist nicht das Projekt der Stadt oder der Regierung, sondern von Aktivist*innen erdacht. Da steht sie nun.

Ich bin vor zwei Jahren dort gewesen, zufällig, und fand sie bemerkenswert, weil das, was sie versucht, so unglaublich selten ist: zu erinnern an eine Zeit, die nicht nur politisches Streitobjekt war, sondern unser Leben.

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Diese Herzen sind mir besonders ans Herz gegangen.

Oma 2020. Opa 2022.

Drei Jahre Pandemie in zwei Herzen. Welche Geschichten sich dahinter verbergen? Man ahnt manches. Aber was weiß man schon.

Wir hätten uns allen viel erzählen müssen. Wir könnten es immer noch tun.


Herzlich

Jonas Schaible

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