hier Geschichte von Von Thomas Kirchner, München • 5.4.24
In Den Haag läuft die Berufungsverhandlung in der Klimaklage gegen den Konzern. Er will das historische Urteil von 2021 kippen. Der Ausgang des Prozesses wird Folgen haben - weit über Shell hinaus.links: Sieg bei der Klimaklage 2021 hier
Ein Schock für Shell
Als im Mai 2021 in einem Gericht in Den Haag das Urteil in der Klimaklage gegen Shell erging, war das eine Weltsensation. Der Konzern müsse seinen CO₂-Ausstoß bis 2030 um 45 Prozent im Vergleich zu 2019 senken, befanden die Richter. Andernfalls könne das Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht erreicht werden. Zum ersten Mal überhaupt sollte damit ein Energieunternehmen von der Justiz zu einer Änderung seiner Firmenpolitik gezwungen werden. Klimaschützer jubelten. Mit einem derart weitreichenden Urteil hatte kaum jemand gerechnet - Shell wohl auch nicht.
Der Konzern, der seinen Hauptsitz inzwischen in London hat, ging in Berufung. Aus grundsätzlichen Erwägungen, aber auch, weil er seinen Umsatz sonst erheblich reduzieren müsste. Für die Verhandlung, die in dieser Woche in Den Haag begann, hat er sich mit einer Armada von spezialisierten Juristen gewappnet. Wieder wird das Verfahren weltweit beobachtet.
Shell erzielt einen Großteil seines Umsatzes mit fossilen Brennstoffen
Es hat sich einiges geändert seit 2021. Zum einen wird es bedrohlich wärmer; die Folgen des Klimawandels, verursacht vor allem durch menschlich erzeugtes Treibhausgas, sind in Form von Überflutungen, Hitzewellen und Ernteausfällen zu spüren. Zum anderen schossen durch den russischen Angriff auf die Ukraine die Energiepreise in die Höhe. Wie andere Konzerne strich Shell, das weiterhin einen Großteil seines Umsatzes mit fossilen Brennstoffen erzielt, Rekordgewinne ein, 2022 waren es 42 Milliarden Dollar. Öl- und Gasprojekte erscheinen lukrativ, weshalb Shell weiterhin in sie investiert. Und das, obwohl der Energiesektor nach Ansicht der Internationalen Energieagentur bis 2050 nur dann eine Netto-Null-Bilanz beim CO₂-Ausstoß erreichen kann, wenn keine neuen Öl- oder Erdgasfelder erschlossen werden.
Eben erst, Mitte März, senkte Shell seine Emissionsziele, um stärker vom Boom bei Flüssiggas profitieren zu können. Zwar bleibt es bei der angestrebten Null bis 2050, das Ziel für 2030 wird jedoch leicht reduziert, jenes für 2035 (minus 45 Prozent) ganz gestrichen. Wobei Shell ohnehin nicht, wie die Haager Richter, von absoluten Emissionsmengen spricht, sondern von der "CO₂-Intensität" seines Öl- und Gasgeschäfts - ein selbstgewählter, umstrittener Maßstab. Nach Ansicht von Shell-Chef Wael Sawan lässt sich das Ziel für 2050 nun sogar besser erreichen.
Donald Pols, Chef von Milieudefensie, sieht in der Ankündigung hingegen einen "ausgestreckten Mittelfinger für das Klima und alle, die vom Klimawandel betroffen sind". Das zeige, wie relevant die Klage seiner Umweltorganisation gegen Shell sei. Es gebe eine "Regulierungslücke". Shell ist einer der großen Player im Energiegeschäft, verantwortlich für etwa 2,7 Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Aus Erkenntnissen der Wissenschaft und den rechtlichen Verpflichtungen der Niederlande entsteht laut Milieudefensie eine Verpflichtung für Shell zu handeln, und zwar schneller als bisher.
Das Unternehmen sieht die Politik in der Pflicht
Shell entgegnet, man komme dieser Verpflichtung ja schon kräftig nach. Man produziere mehr nachhaltigen Kraftstoff für die Luftfahrt, baue eine der größten Biokraftstofffabriken in Europa, investiere in eines der größten Ladenetze für elektrische Fahrzeuge. Was darüber hinausgehe, könne nicht von einem einzelnen Unternehmen verlangt werden. Das sei Sache der Politik, die die Belange der Allgemeinheit im Blick habe.
Shell selbst könne vieles nicht beeinflussen, argumentierten die Anwälte am ersten Sitzungstag. Etwa die Art von Energie, die seine Kunden nachfragten. In diesem Punkt geht das Urteil sehr weit, weil es Shell dazu verdonnert, alles Mögliche zu tun, auch den CO₂-Ausstoß seiner Kunden zu senken - der weit höher ist als jener, der aus den Tätigkeiten von Shell selbst entsteht. Flugzeuge, so der Konzern, würden aber vorerst weiterhin mit Kerosin, Schiffe mit Schweröl betrieben. Auf die Klimapolitik der 70 Staaten, in denen Shell tätig sei, habe man ebenfalls kaum Einfluss. Manche gingen schneller voran, andere langsamer, da sollten sich niederländische Richter nicht einmischen. Damit zielt Shell auf die durchaus umstrittene Frage, inwiefern die Justiz überhaupt befugt ist oder sein sollte, solche Fragen zu entscheiden. Auch könne es kontraproduktiv sein für das Klima, Shell zur Aufgabe von Geschäftsfeldern zu zwingen. Denn andere, vielleicht weniger nachhaltiger operierende Unternehmen würden in die Lücke stoßen.
Andere Konzerne drehen den Spieß um
Shell mache sich künstlich klein, entgegnete Milieudefensie-Anwalt Roger Cox, der für die Organisation Urgenda 2015 schon das spektakuläre Urteil erstritten hatte, das den niederländischen Staat zu Nachbesserungen bei der Klimapolitik zwang. Der Energiekonzern sei eine "private Großmacht". Mit seinen Milliardeninvestitionen in Öl und Gas, mit Lobbyaktivitäten und direktem Zugang zur Macht befördere es die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen, die "nicht in einem Vakuum" entstehe. "Und damit bestimmt Shell mit, wie die Zukunft der Menschheit aussieht." Gleichzeitig betreibe es schon seit Jahrzehnten "Klima-Obstruktion", indem es die Klimapolitik behindere und unter anderem Narrative verbreite, wonach das "fossile Business-Modell" doch auch etwas Gutes an sich habe. Etwa weil es viele Menschen gebe, die auf bezahlbare Energie angewiesen seien.
Das Berufungsverfahren ist auf vier Tage angesetzt und endet am 12. April. Das Urteil wird für die zweite Jahreshälfte erwartet. Es wird Folgen weit über Shell hinaus haben. Im Januar gab Milieudefensie bekannt, auch die niederländische Großbank ING verklagen zu wollen, exemplarisch für Finanzkonzerne, die fossile Geschäfte fördern. Einige Konzerne haben den Spieß längst umgekehrt: ExxonMobil klagt gegen aktivistische Aktionäre, die auf mehr Ehrgeiz beim Klima pochen; TotalEnergies will gegen Greenpeace vor Gericht ziehen, wegen angeblich falscher Emissionsschätzungen.
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