Es tut gut auch mal den Bogen zu schlagen und sich zu fragen: wo stehen wir denn gerade?
Die Antwort darauf ist nicht beruhigend, aber vielleicht notwendig. Die Vogel Strauß-Taktik könnte uns schneller zum Abgrund führen.
t-online hier Von Florian Harms am 4.7.22
Der Sommer 2022 fühlt sich ein bisschen an wie die letzten Momente auf der "Titanic": Die bevorstehende Katastrophe ist absehbar, doch an Deck spielt die Musikkapelle.
Was damals der Eisberg war, ist heute das Gebirge aus Großkrisen: Inflation, Energieknappheit und militärische Bedrohung infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Extremwetter, Dürren, Hungersnöte und Flüchtlinge aufgrund der Erderhitzung. Steigende Corona-Zahlen und die Sorge vor dem Ausbruch weiterer Epidemien. Das Ringen um Ressourcen, Raum und Reichtum durch die Überbevölkerung des Planeten. Der zusehends unversöhnlich geführte Kulturkampf zwischen Linken und Rechten, Progressiven und Konservativen, Liberalen und Identitären in den westlichen Demokratien. Die jüngsten Urteile des obersten US-Gerichts sind Ausdruck dieser Eskalation.
Die Krisen ballen sich, und ihre Symptome zeigen sich auch hierzulande immer deutlicher. Viele Menschen fühlen sich davon überfordert, sie flüchten sich ins Private, reden sich die Lage schön oder schalten die Nachrichten ab. Andere reagieren verzweifelt, hilflos oder wütend. Es ist eine toxische Stimmung, die sich da zusammenbraut, und sie steht in seltsamem Kontrast zum Sommerwetter und der Urlaubszeit. In dieser prekären Lage braucht es eine moralische Autorität, die den Bürgern Orientierung gibt. Die Zuversicht verbreitet, aber auch schmerzhafte Wahrheiten ausspricht. Früher hätte man diese Autorität von Religionsvertretern erwarten können, doch die fallen aus.
Die katholische Kirche erweist sich als unfähig, ihren Sumpf aus Missbrauch, Lügen und Heuchelei aufzuklären. Die Gläubigen kehren ihr scharenweise den Rücken, Kirchenforscher geben der Organisation keine zehn Jahre mehr. Die evangelische Kirche verliert sich allzu oft in maximaltoleranten Belanglosigkeitspredigten, die niemandem wehtun sollen und gerade deshalb kaum noch jemanden berühren. Dem Bundeskanzler wiederum gelingt es selten, mitreißende Sätze mit bleibendem Eindruck zu formulieren. Auch die Bundestagspräsidentin und der Oppositionsführer entfalten keine Wirkung in alle gesellschaftlichen Milieus hinein.
Bleibt der Bundespräsident. Die Verfassung verwehrt ihm exekutive Macht, umso wichtiger ist sein einziges Instrument: die Kraft der Worte. Mit prägnanten Reden zur richtigen Zeit kann er den Bürgern Orientierung geben und helfen, das Land auf neue Wege zu lenken. Richard von Weizsäcker mit seiner Gedenkrede zum Jahrestag des Weltkriegsendes 1985 und Roman Herzog mit seiner Ruckrede 1997 haben es vorgemacht.
Frank-Walter Steinmeier ist anzumerken, dass er seine zweite Amtszeit anders gestalten will als die erste. In seinem gestrigen Sommerinterview im ZDF klang er verhalten, doch die deutlichen Worte an die Adresse Putins bei seiner Amtseinführung und die klare Ansage zum Antisemitismusskandal auf der Kunstausstellung "documenta" haben gezeigt: Das Staatsoberhaupt bemüht sich verstärkt um Klartext.
Der Bundespräsident hat die Aufgabe, die Interessen aller Bürger im Blick zu behalten und die gesamte Bevölkerung anzusprechen. Partikulardenken und Polarisierung verbieten sich daher. Doch offensichtliche Wahrheiten, die viele Leute bis heute nicht anerkennen wollen, können, nein, müssen ausgesprochen werden.
Es ist nicht einfach nur zu bedauern, dass die Armut in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht hat. Es ist ein Skandal! Dem jüngsten Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zufolge leben fast 14 Millionen Menschen in Armut, mehr als 16 Prozent der Bevölkerung – und dabei sind die Folgen der Inflation noch nicht einmal berücksichtigt. Gleichzeitig wachsen die Vermögen der Wohlhabenden rasant: 3.100 Superreiche besitzen mehr als ein Fünftel des gesamten privaten Finanzvermögens. Angesichts dieser Zahlen drei Milliarden Euro Steuergeld für einen nutzlosen Tankrabatt zu verplempern, statt sie gezielt alleinerziehenden Müttern, Kindern aus prekären Familien, verarmten Rentnern oder von der Pandemie gebeutelten Selbstständigen zu geben, ist nicht einfach nur dumm. Es ist unverschämt. Warum spricht das keiner aus?
Auch an der größten Krisenfront können wir nicht weitermachen wie bisher. Jahrzehntelang hat die Mehrzahl der Deutschen ihren Wohlstand genossen, während andernorts in der Welt die Lebensgrundlagen für Millionen Menschen schwanden. Wir blasen fröhlich CO2 in die Atmosphäre, shoppen Billigklamotten und Unterhaltungselektronik aus China, jetten im Urlaub um die halbe Welt, ernähren uns von Billigfleisch – und wundern uns gleichzeitig darüber, warum die Sommer immer heißer, das Wasser in Europa immer rarer, Stürme und Gewitter immer heftiger, das Artensterben drastischer und Flüchtlingswellen häufiger werden. Statt zu sinken, beginnen die deutschen Treibhausgasemissionen wieder zu steigen. Das ist ungeheuerlich!
Die Regierenden gleich welcher Couleur sind fast nur noch damit beschäftigt, akute Krisenschäden zu reparieren. Langfristige und nachhaltige Problemlösung findet kaum noch statt. Es wirkt fatal, wenn der Kanzler und seine Minister wegen des Gasmangels nun Erdgasbohrungen im Senegal forcieren, Kohlekraftwerke länger laufen lassen und den artgerechten Umbau der Landwirtschaft drosseln wollen. Warum sagt keiner der Amtsträger klipp und klar: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ab jetzt geht es nur noch mit hartem Verzicht? Da reicht es nicht, einen neuen Duschkopf anzuschrauben, da braucht es autofreie Sonntage, Tempolimit auf allen Autobahnen, hohe Gebühren auf Flugbenzin, eine EU-weite Umweltabgabe auf alle Produkte aus Klimasünderländern wie China, Brasilien und Südafrika – und das ist leider erst der Anfang.
Warum hat niemand den Mut, die offensichtlichen Wahrheiten auszusprechen? In einer Zeit eskalierender Großkrisen können wir uns Ausflüchte, Schönfärberei und politische Spiegelfechtereien nicht mehr leisten. Jetzt braucht es Autoritäten, die Klartext reden. Ich bin sicher: Traute sich einer, würden ihm viele Menschen folgen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen