Dienstag, 5. Juli 2022

"200 Kilometer Klimawahnsinn"

Nicht alle Klimaklagen sind erfolgreich. Man darf sich über das Verfassungsgerichtsurteil in diesem Fall genauso wundern wie über die Lebensmittelrettungsprozesse in Ravensburg. Die Richter müssten es in beiden Fällen besser wissen , statt an überholten Vorgaben festzuhalten.

Siehe auch dazu: hier  
Der Bundesverkehrswegeplan ist verfassungswidrig

Die Zeit hier  Von  und  4. Juli 2022

Ausbau der A20: Die A20 führt durch Moorland, ihre Vollendung gilt als das klimaschädlichste Projekt Deutschlands und ist so teuer wie der BER. Wie lässt sie sich noch verhindern?

Das Ammerland in Niedersachsen könnte einmal als der Ort in die Geschichte eingehen, an dem die Verkehrswende ihren Anfang nahm. Dann, wenn ein deutsches Gericht hier stoppt, was vor über 80 Jahren unter anderen Vorzeichen begonnen wurde. Oder falls Politiker zu dem Schluss kommen, dass es so irrsinnig wäre, an diesem Ort eine Autobahn weiterzubauen, wie Naturschützer es vor dem Bundesverwaltungsgericht darlegen. 

In Deutschland sollen, Klimakrise hin oder her, bis 2030 noch etwa 850 Kilometer neue Autobahn gebaut werden, so steht es im Bundesverkehrswegeplan


Der bei weitem längste Abschnitt wäre mit 200 Kilometern die Vollendung der von Ost nach West verlaufenden Küstenautobahn A20. Sie beginnt im polnischen Stettin und soll bis in die Niederlande führen, bislang endet sie östlich von Bad Segeberg in Schleswig-Holstein. Zum Vergleich: Die umstrittenen geplanten Abschnitte der Stadtautobahn A100 in Berlin wären nur sieben Kilometer lang. 

Die A20 steht auf Platz eins einer aktuellen Analyse mit dem Namen Desaster im Dutzend – Zwölf Autobahnen, die kein Mensch braucht. Wird sie fertig gebaut, verursache sie jährlich 90.000 Tonnen CO₂, durch ihren Bau, den Unterhalt und zusätzlichen Verkehr.
Schlimmer noch: Die geplante Trasse soll zu etwa 80 Prozent durch Moor- und Marschland führen. Und das ist es, was die Umweltorganisation BUND eine riesige Naturkatastrophe mitten in Deutschland nennt. Zusammen mit einem Landwirt hat sie gegen den Beschluss für den ersten 13 Kilometer langen Abschnitt im Ammerland geklagt. 
Ein Sieg vor Gericht wäre wegweisend – auch für viele weitere Fernstraßenprojekte in Deutschland. 

Praxistest für das Verfassungsgerichtsurteil

Letztlich geht es um die Frage: Darf der Staat vor Jahrzehnten geplante Großbauprojekte wie gehabt weiterverfolgen, ohne den Klimaschutz zu berücksichtigen? 2021 hat das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung gezwungen, bei ihrem Klimaschutzgesetz von 2019 nachzubessern. Doch was bedeutet das für Einzelentscheidungen, die dem Klima enorm schaden? 

Bis jetzt steht fest: Die Autobahn kommt. Wie bei allen Autobahnen wird ihr Bau mit einem öffentlichen Interesse an Mobilität begründet. Und wie bei allen anderen Autobahnen soll es lediglich Ausgleichsmaßnahmen geben, weil Lebensraum für gefährdete Arten verloren geht. 

Wenige Tage vor dem Prozessauftakt am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig steigt Susanne Grube, die 65-jährige Vorsitzende des BUND im Ammerland, im Moorcamp bei Westerstede auf eine Europalette, damit man sie besser hört. "Bei der A14 hat die oberste Richterin gesagt, dass Klimaschutz nicht unzumutbar sein darf. Aber was muten wir eigentlich den Folgegenerationen zu?", ruft Grube. 

Eine quietschgrüne Regenjacke schützt sie vor dem Wind, der über braune Äcker und grüne Wiesen fegt. Er lässt die schwarze Flagge am höchsten Holzturm einer Wagenburg flattern, den Aktivistinnen weht er Dampf aus einem Kochtopf ins Gesicht. Zwischen fünf und zehn junge Menschen des Bündnisses "Moor bleibt Moor" campieren seit einem Jahr im "Garni", wie sie das Garnholter Otterbäksmoor nennen. Außer Grube ist an diesem Tag eine etwa 80-köpfige Gruppe Fahrradfahrer aus Hamburg zu Besuch, die sich solidarisch zeigen wollen.

Moore speichern doppelt so viel CO₂ wie alle Wälder der Welt zusammen

Susanne Grube ist Biologin und hat früher als Landschaftsplanerin in dem 300-Einwohner-Dorf Eggeloge gearbeitet. Sie weiß, dass sich die Bedeutung von Mooren für den Klimaschutz kaum überschätzen lässt. Global speichern sie fast doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Wälder der Welt zusammen, obwohl sie nur drei Prozent der Landfläche bedecken. "Bäume werfen im Herbst ihre Blätter ab. Wenn sie verrotten, setzen sie wieder CO₂ frei. In Mooren sinken Pflanzenreste ins Wasser ab. Der Kohlenstoff wird dort weiter gespeichert", erklärt Grube. 

Das Problem: Wenn sie einmal entwässert sind, etwa um Ackerbau oder Viehzucht zu betreiben, entweichen die über Jahrtausende gespeicherten Treibhausgase, darunter viel klimaschädliches Methan. So ist es auch im etwa 10.000 Jahre alten Garnholter Otterbäksmoors großteils geschehen, auf dem nun die mit Transparenten behängten Wohnwagen und Zelte des Moorcamps stehen. Maispflanzen recken ihre Köpfe aus dem Acker, keine hundert Meter entfernt drehen sich Windräder. 

"Die geplanten A20-Strecken verlaufen nicht durch naturnahe Moore, die sind in der Regel geschützt. Aber hier geht es um die Möglichkeit, degradierte Moore wieder aufnahmefähig für Kohlenstoff zu machen", sagt Grube. Die Treibhausgasemissionen trockener Moore machen etwa sieben Prozent der gesamten deutschen Emissionen aus – so viele wie die aus sämtlichen Industrieprozessen zusammen. Bis 2030 sollen sie um jährlich fünf Millionen Tonnen sinken, das haben Bund und Länder bereits beschlossen. Dafür müssen so viele Flächen wie möglich wiedervernässt werden. "Eine Autobahn betoniert dieses Potenzial einfach zu", sagt Grube.

Mit der Wiedervernässung kommt der Staat nur langsam voran – will aber Milliarden für ein Projekt ausgeben, das sie dauerhaft verhindert? Nein, damit mag Grube sich auch heute, fast 20 Jahre, nachdem sie sich mit der A20 erstmals auseinandersetzte, nicht abfinden.

Autobahn = Arbeitsplätze? Nicht wirklich

Damals, Grube arbeitete noch in einem kleinen Büro für Verkehrsplanung, wurde eine Variante geprüft, die an ihrem Dorf Eggeloge vorbeigeführt hätte. "Erst dachte ich noch: Wenn man eine Autobahn baut, muss man die negativen Auswirkungen eben in Kauf nehmen. Bis mich jemand darauf hinwies, dass die versprochenen wirtschaftlichen Effekte oft gar nicht eintreten." 

Daraufhin setzte sie sich nach Feierabend mit Studien auseinander. "Als Biologin und Verkehrsplanerin hat mich das Thema angesprungen", sagt sie. Sie kam zu dem Schluss: "Man kann im ländlichen Raum noch so viele Autobahnen bauen: Es bringt nichts." 

Dass die Schnellstraßen ländlichen Regionen keineswegs automatisch einen Aufschwung bescheren, sei wissenschaftlich belegt. Im Gegenteil drohten kleinere Gewerbe gerade in mittelgroßen, bislang isolierten Zentren wie Bremervörde zu sterben, wenn die Metropolen leichter erreichbar werden. Menschen aus Bremervörde führen zum Shoppen nach Hamburg, Hamburger aber nicht nach Bremervörde.

Der Traum von der europäischen Magistrale

Einer, der ganz anders denkt als Grube, ist Olaf Orb. Er ist Geschäftsführer der Handelskammer Bremen und Bremerhaven und gehört dem Vorstand des Fördervereins ProA20 an, der sich auf Facebook als Schar weißhaariger Männer in Anzügen präsentiert. "Nehmen Sie die A1-Linie, die vom Ruhrgebiet nach Hamburg führt: An ihr entlang sind prosperierende Regionen entstanden", sagt Orb am Telefon. "An der Küstenlinie sieht es anders aus. Da ziehen die Leute weg, und mit der Wirtschaft geht es bergab." Über die A20 kämen Touristen schneller zu Urlaubszielen am Meer, die deutschen Seehäfen würden besser miteinander vernetzt. 

Das Problem an diesem Argument, sagt Grube: Die A20 führt von Ost nach West. Eine "europäische Magistrale", so der schwärmerische Begriff für die Verbindung von Polen bis in die Niederlande, brauche es gar nicht, dafür habe man bereits die Seehäfen. Die meisten Güter, die in Norddeutschland ankommen, werden in den Süden weitertransportiert, etwa ins Ruhrgebiet oder nach Österreich. "Nur für vier Prozent des Güterverkehrs ab Wilhelmshaven bringt die A20 einen Vorteil. Der Weg ins Ruhrgebiet wäre über die A20 sogar länger als bisher über die A1", sagt Grube. Staus gäbe es vor allem rund um die Ballungszentren wie Hamburg und Bremen, dafür bräuchte es aber lokale Lösungen. "Aber Autobahn und Arbeitsplätze – das ist in den Köpfen so verankert wie das vermeintlich so viele Eisen in Spinat", sagt Grube kopfschüttelnd.

Die A20 ist besonders eng mit der Erzählung von blühenden Landschaften verknüpft: Der vierstreifige Neubau ist eines von 17 Verkehrsprojekten der Deutschen Einheit von 1991. Sie galt als so wichtig, dass ein Teil von ihr per "Investitionsmaßnahmegesetz" ohne die heute üblichen Planfeststellungsverfahren durchging. Schon bevor der morastige Untergrund als Klimaproblem in den Vordergrund rückte, hatte er sich als tückischer Baugrund gezeigt: An manchen Abschnitten drang Feuchtigkeit unter den Asphalt, woraufhin er bei Hitze Blasen schlug. In der Nähe von Rostock krachte im September 2017 ein Stück der A20 von 100 Meter Länge zweieinhalb Meter in die Tiefe. Es war auf einer 20 Meter starken Torfschicht gebaut. Angela Merkel sprach von einer "fürchterlichen Schmach".

So teuer wie der BER

Wann darf eine Fernstraße gebaut werden? Dieser Entscheidung geht eine Rechnung voraus: Wie hoch ist ihr Nutzen im Verhältnis zu den Kosten? Der Nutzen wird vor allem anhand von eingesparter Zeit für Autofahrer und Betriebe berechnet, aber auch andere Standortfaktoren können einfließen – viel Spielraum, um eine politisch gewollte Autobahn schönzurechnen, sagt der BUND. Im Fall der A20 argumentiert er zudem, dass deren ohnehin vergleichsweise niedriges Nutzen-Kosten-Verhältnis unter die kritische Schwelle von eins sinkt, wenn man die Kostenexplosion realistisch einplant. 2020 korrigierte die Bundesregierung die Kosten für die anstehenden Bauabschnitte bereits von einst 1,9 auf 5,8 Milliarden Euro. Susanne Grube geht angesichts der seitdem weiter gestiegenen Baukosten von 7,7 Milliarden aus. Etwa so viel, wie der neue Berliner Flughafen gekostet hat, der über viele Jahre nie fertig, aber täglich teurer zu werden schien. 

Ein Tag nach dem Prozessauftakt, Susanne Grube klingt am Telefon erschöpft und enttäuscht. Fast zwölf Stunden dauerte die Anhörung in dem vollen Gerichtssaal, vor dem Gebäude demonstrierten Hunderte Aktivistinnen. Doch schon im Eingangsstatement machte die vorsitzende Richterin klar, dass der Bedarf für die A20 keine Frage sei, die vor Gericht eine Rolle spiele. "Wenn die A20 unter falschen Annahmen in den Bedarfsplan aufgenommen wurde und es dann heißt, das ist Gesetz und darf nicht einbezogen werden – das tut weh", sagt Grube.

Und der Klimaschutz? Den will das Bundesverwaltungsgericht offenbar ebenfalls nicht berücksichtigen, wie es signalisierte. Der Grund: Der Planfeststellungsbeschluss für den ersten Bauabschnitt, um den es geht, fiel im Jahr 2018 – ein Jahr, bevor die Regierung ihr erstes Klimaschutzgesetz verabschiedete. "Den Artikel 20a im Grundgesetz gibt es aber schon seit 2002. Danach hat der Staat auch in Verantwortung, für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Auf diese Diskussion hat sich das Gericht gar nicht eingelassen. Und das ist, wo wir hier eine Moorautobahn haben, enttäuschend."

Eine Frage der Priorisierung

Stattdessen prüft das Bundesverwaltungsgericht bis zum 7. Juli lediglich ein klassisches Ökothema: ob die mögliche Belastung eines Naturschutzgebiets durch Stickstoff richtig berechnet wurde. Die Frage, wie sehr die A20 überhaupt gebraucht wird, gibt es zurück an die Politik. Für Carla Reemtsma, Sprecherin von Fridays for Future, steht damit fest: "Wir sehen, dass Gerichte es quasi unmöglich machen, Klimagerechtigkeit einzubeziehen."

Grube freut sich über die neuen Mitstreiter aus der jungen Generation, auch über den bunten Aktivismus, wie er im Moorcamp gelebt wird. Über Menschen wie den 27-jährigen Ex-Banker aus Rheinland-Pfalz, der hier nur Christian genannt werden will und in vom Matsch braun gefärbten Leggins und schwarzem Rock in einem der Zelte sitzt und über die Bedeutung der Moore für Insekten referiert.

"Ich bin noch von der alten Garde. Wir haben immer versucht, möglichst sachlich aufzutreten", sagt Grube. Doch sie wirkt resigniert, wenn es um die Frage geht, was sie selbst mit Infoveranstaltungen oder über das Bundesverwaltungsgericht noch erreichen kann.    

Fridays for Future ist geübt darin, vor bundespolitischen Entscheidungen mit Demonstrationen und Talkshowauftritten Druck aufzubauen. Das dürfte noch wichtig werden. Denn selbst wenn das Bundesverwaltungsgericht sich nicht mit der Frage befassen will, ob eine Autobahn mit zweifelhaftem Nutzen gebaut werden darf, wird in Berlin das Ringen um die A20 weitergehen. Luisa Neubauer von Fridays for Future gab sich schon im Vorfeld bei einer Kundgebung in Leipzig kämpferisch: Die A20 werde nicht kommen. Wenn die Bundesrichter den Bau nicht stoppten, "dann machen wir das".

Jens Hilgenberg, Verkehrsexperte beim BUND, ist eine Spur optimistischer als seine Kollegin aus dem Ammerland. Er weiß, dass dieses Jahr noch überprüft werden muss, wie die vielen Tausend Infrastrukturprojekte im Bedarfsplan priorisiert werden. Der Bundesverkehrswegeplan enthält aktuell 1.360 Fernstraßenprojekte, dazu kommen Bahnschienen und Schifffahrtswege. Die 4.000 sanierungsbedürftigen Autobahnbrücken sind da noch nicht einmal enthalten. 

"Das ist schon schlimm, aber wir bauen trotzdem"

Bislang spielten bei dieser Priorisierung Biodiversität und Klima eine untergeordnete Rolle. "Man sagte eher: Das ist schon schlimm, aber wir bauen trotzdem, und ihr bekommt dafür Ausgleichsmaßnahmen", sagt Hilgenberg. Obwohl die autofreundliche FDP das Verkehrsministerium innehat, sieht er Chancen fürs Klima: "Auch Volker Wissing muss klar sein, dass der Erhalt der gesamten Infrastruktur vor dem Neubau von Autobahnen zu priorisieren ist." Schon weil die finanziellen Mittel begrenzt sind, ebenso wie Baustoffe und Fachkräfte. 

Um einen neuen Konsens zur Infrastruktur herzustellen, soll erstmals auch ein Dialog stattfinden. "Alle Projekte, die jetzt im Bau oder geplant sind, muss man mit Blick auf den Klimaschutz neu bewerten. Dadurch dürfte ein guter Teil wegfallen", sagt Hilgenberg.

Der Verein ProA20 formuliert das ähnlich, nur als Schreckensszenario. Schon in einem Newsletter vom Frühjahr 2021 warnt er mit Blick auf die Ampelkoalition: "Der politische Gegenwind wird zunehmen. Die angekündigte Neupriorisierung der Verkehrsinfrastruktur stellt nahezu alle geplanten Projekte pauschal in Frage."

Sollten die Pläne für die A20 auch der Priorisierung standhalten, wird im Ammerland die Stunde des zivilen Widerstands schlagen. Am Abend nach dem Besuch von Susanne Grube und der Fahrradfahrer stapft Ex-Bankkaufmann Christian zu einer Eiche, in deren Ästen sich ein Baumhaus versteckt. Er knotet ein Seil zu einer Schlaufe, steigt mit dem Fuß hinein, drückt sich vom Baum ab und zieht sich hoch – so übe er für die bevorstehende Besetzung. 

Bis zum Herbst gehen Christian und die anderen im Camp davon aus, dass sie ihre Ruhe haben werden. Und dann? "Ketten wir uns an die Baumhäuser und lassen uns räumen", sagt er und lacht. Genau wie der Hambacher und der Dannenröder Forst oder Lützerath könnte das "Garni", das Garnholter Otterbäksmoor im Ammerland, zum nächsten Symbol der Umweltbewegung werden.

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