DER SPIEGEL – SPIEGEL Klimabericht <themennewsletter@newsletter.spiegel.de> hier
gut ein Monat ist vergangen, seit die EU-Kommission Erdgas zum Klimaschützer geadelt hat. Unter bestimmten Bedingungen sollen Investitionen in den fossilen Brennstoff künftig als »nachhaltig« gelten, als Brückentechnologie ins Zeitalter der erneuerbaren Energien war er der Wunschkandidat schlechthin. Seit Putins Überfall auf die Ukraine ist alles anders – zumindest von russischem Gas, das rund die Hälfte der deutschen Importe ausmacht, will man in Deutschland und Europa nun so schnell wie möglich unabhängiger werden.Die politisch notwendige Neubewertung treibt allerdings seltsame Blüten.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) fühlte sich in
dieser Woche mit Verweis auf die Energiesicherheit des Landes bemüßigt, erneut
das Kohle-Aus bis 2030 infrage zu stellen. Auch
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) – wie Woidke schon in der
Vergangenheit nicht gerade ein euphorischer Unterstützer des Kohleausstiegs
– fordert nun,
man solle »die Scheuklappen beiseitelassen, was Braunkohle und was Atom angeht«
und die Ausstiegsbeschlüsse neu diskutieren.
Dazu muss man wissen: Knapp 28 Prozent des hierzulande
erzeugten Stroms kamen 2021 aus Kohlemeilern. Ein Teil der zu verfeuernden
Kohle muss importiert werden, die
Hälfte ausgerechnet aus Russland. Eine Krise
(Russland) zum Preis der Eskalation einer anderen (Klima) lösen zu wollen, ist
zudem alles andere als nachhaltige Politik.
Allerdings erklärt sogar Klimaminister Robert Habeck:
»Kurzfristig kann es sein, dass wir vorsichtshalber, um vorbereitet zu sein für
das Schlimmste, Kohlekraftwerke in der Reserve halten müssen,
vielleicht sogar laufen lassen müssen«, Versorgungssicherheit gehe vor
Klimaschutz, so der Grünenpolitiker. Ein Scheingegensatz übrigens, der so falsch
wie widersinnig ist.
Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke
sind gleich dreifach schwierig
Die Idee, stattdessen die klimaneutralen Atomkraftwerke
länger laufen zu lassen, ist gleich dreifach schwierig. Deutsche
Kraftwerksbetreiber haben schon seit Jahren keine neuen Brennelemente mehr
beschafft, da sie vom planbaren Ende der Laufzeiten ausgehen. Und neue lassen
sich oft nicht einmal mit monatelangem Vorlauf beschaffen. Zudem werden wegen
des verabredeten Atomausstiegs viele Mitarbeiter zum Jahresende die Stelle
wechseln oder in den Vorruhestand geschickt. Sie sind an Schlüsselstellen
schwer ersetzbar. Außerdem müsste es bei einem längeren Weiterbetrieb der
Meiler umfangreiche Sicherheitsprüfungen und gegebenenfalls Nachrüstungen
geben, die Zeit und Geld kosten
Aber was lässt sich in der prekären Lage nun konkret tun?
Im Jahr 2021 importierte die Europäische Union rund 140 Milliarden
Kubikmeter Gas pro Jahr, rechnet die Internationale Energieagentur (IEA)
diese Woche in einem Report vor. Dieser Bedarf ließe sich – ohne Rückkehr zur
Kohle – mit einem Zehn-Punkte-Plan erheblich senken. »Zusammengenommen
könnten diese Schritte die russischen Gasimporte der Europäischen Union innerhalb
eines Jahres um mehr als 50 Milliarden Kubikmeter oder mehr als ein Drittel
reduzieren«, so
die IEA.
Darunter fielen etwa der beschleunigte Austausch von
Gaskesseln durch Wärmepumpen, strengere Vorgaben zur Energieeffizienz in
Gebäuden und der Industrie und die beschleunigte Bereitstellung neuer Wind- und
Solarprojekte.
All das setzt schnelles staatliches Handeln, Geld und
zumindest etwas Zeit voraus. Nicht so Vorschlag Nummer neun: Verbraucher
sollten kurzfristig ihren Heizthermostat um ein Grad herunterstellen, um den
Gasverbrauch unmittelbar zu senken. In der EU liege die durchschnittliche
Temperatur in beheizten Gebäuden bei 22 Grad Celsius, so die IEA. Verzichteten
die Verbraucher auf ein Grad Wärme, hätte das sofortige jährliche
Energieeinsparungen von etwa zehn Milliarden Kubikmetern Erdgas zur Folge, so
die Rechnung, zwei Grad weniger würden das Doppelte einsparen und so weiter.
Wer eine Gasheizung besitzt, kann also mit einem
behutsamen Griff zum Thermostat schnell und unbürokratisch die Gasnachfrage
reduzieren, dabei das Klima schützen und spart auch noch Geld. Und 21 Grad Raumtemperatur gehen sogar noch als warm durch. Gemütlicher
war politischer Aktivismus wohl nie.
Die Themen der Woche
Neuer Bericht des Weltklimarats: »Wir haben
nur ein kleines Zeitfenster«
»Wir sind in Deutschland schlecht auf
Extremwetter vorbereitet«: Der Weltklimarat warnt vor den Folgen des
Klimawandels. Noch könnte die Anpassung von Städten und Küsten an Extremwetter
viele Menschen retten.
Reaktionen auf IPCC-Klimabericht: Vier
minus für die Bundesregierung
»Es ist alles gesagt – jetzt zählen
Handlungen«: Umwelt- und Klimaschützer reagieren auf den neuen Weltklimabericht.
Auch die Bundesregierung bleibe weit hinter ihrer eigenen Ambition zurück.
LNG-Importe und AKW-Laufzeiten: Das sind
unsere Alternativen zu Putins Gas
Die Bundesregierung wappnet sich für die
Zeit ohne Russlands Energielieferungen. Selbst Atomkraftwerke könnten länger
laufen, damit Deutschland im nächsten Winter nicht friert. Geht jetzt
Sicherheit vor Klimaschutz?
Umstrittene CCS-Technologie: Brauchen wir
in Deutschland bald CO₂-Endlager?
In gut 20 Jahren soll Deutschland keine
Treibhausgase mehr in die Luft abgeben. Doch manche Emissionen lassen sich
nicht vermeiden. Deshalb werden CO₂-Speicher im Untergrund immer
wahrscheinlicher.
Dieses Buch war ein Schock: 1972 erschien
»Die Grenzen des Wachstums«. Hier erklären die deutschen Mitautoren Erich Zahn
und Peter Milling, wie es zur Studie des Club of Rome kam – und wie der Planet
noch zu retten ist.
Aufbauhilfen: G20-Staaten verpassen Chance
für »grünen Aufschwung« nach der Pandemie
Die wichtigsten Industriestaaten geben nur
einen Bruchteil des Geldes zum Wiederaufbau nach der Pandemie für nachhaltige
Projekte aus, bilanziert eine neue Studie. Etliche Milliarden flossen in
klimaschädliche Wirtschaftszweige.
Streit über Abstandsregeln: Wie Bayern den
Windkraftausbau blockiert
Die Energiewende wird zu einer Frage der
nationalen Sicherheit. Doch was, wenn alle Bundesländer bei der Windkraft so
strenge Regeln hätten wie Bayern?
Energiewende: Regierung will Kapazität der
Meereswindparks verneunfachen
Der Ausbau von Windparks auf See soll nach
SPIEGEL-Informationen massiv beschleunigt werden. Ausschreibungen sollen
vorgezogen, Umweltprüfungen gebündelt werden. Auch Infrastruktur für
Wasserstoff ist in Planung.
»Klimabericht«-Podcast: Wie löst die Welt
ihr Containerschiff-Problem?
Frachtschiffe stoßen tonnenweise Treibhausgase aus. Bis 2050 will die Branche klimaneutral werden. Wie das gelingen soll und welche Rolle Segel und Wasserstoff dabei spielen, hören Sie im »Klimabericht«.
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