Montag, 14. März 2022

Eine Regierungspartei, die sich der "neuen Wirklichkeit bislang als einzige verweigert"

 MEINUNGTagesanbruch  Johannes Bebermeier  hier auf t-online

Erinnern Sie sich noch, als wir wochenlang darüber diskutiert haben, ob es auf Deutschlands Autobahnen ein Tempolimit geben soll? 
Und sich die FDP scheckig gefreut hat, dass es letztlich nicht im Koalitionsvertrag stand? Das ist noch gar nicht so lange her, ein paar Monate erst, im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres war das. Und doch wirkt es ewig weit weg.
Die Welt war eine andere damals, übersichtlicher. Es gab nur zwei Weltkrisen zur gleichen Zeit, die Klimakrise und die Corona-Pandemie. Nun gibt es eine dritte, die die beiden anderen zumindest für den Moment verdrängt: den Krieg in Europa. 
Die Grünen müssen bald wohl mehr Kohle verbrennen und verabschieden sich von ihrer Grundüberzeugung als Friedenspartei. Die SPD hat ähnliche Bauchschmerzen mit der Aufrüstung und ist zudem noch dabei, einen ihrer drei Altkanzler aus der Parteigeschichte zu tilgen. Zeitenwende eben, da hatte Bundeskanzler Olaf Scholz schon recht. 

Und doch geht es jetzt wieder ums Tempolimit. Diesmal, weil es beim Energiesparen gegen Putin helfen soll. Also Tempo 130, um den drohenden Weltenbrand in der Ukraine zu stoppen – und nicht nur den Brand der Welt in der Klimakrise. Das Argument des Christian Lindner und seiner FDP ist aber heute wie damals das gleiche: Der Markt regelt das viel besser. Hoher Benzinpreis führt zu niedriger Geschwindigkeit. Einfach magisch.
Und damit wären wir auch eigentlich schon bei der Pointe dieses Textes angekommen: 
Die Wirklichkeit kann sich ändern, wie sie will, die FDP hält stand. Oder bleibt stur, je nachdem, wo man selbst steht. Das objektiv Interessante ist jedoch, dass die Liberalen damit noch immer erstaunlich gut durchkommen in dieser Ampelkoalition. Das Tempolimit ist da nur eines der kleineren Beispiele.
Nur wo ist eigentlich die Zeitenwende des Christian Lindner? Die sucht man besonders in der Finanzpolitik, für die er als Minister zuständig ist, vergeblich. Zumindest wenn es um die grundsätzlichen Überzeugungen geht. Stattdessen spielt er uns eine Realität vor, die längst bis auf Weiteres Vergangenheit ist: eine mit Schuldenbremse nämlich.

Es sind ja nicht nur die neuen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, die als Sondervermögen neben dem eigentlichen Bundeshaushalt mit Krediten finanziert werden. In der Corona-Pandemie sind 2020 und 2021 fast 300 Milliarden an Schulden angefallen. Dieses Jahr werden weitere Corona-Schulden hinzukommen. Und dann fließen auch noch viele Milliarden in den Klimafonds. 

Christian Lindners Kampf um die Schuldenbremse wirkt da fast schon tragikomisch. Im nächsten Jahr will er sie nach der Corona-Ausnahme wieder einhalten, hat er gerade erneut angekündigt. Aber wenn es überhaupt funktioniert, dann natürlich nur, weil er kreative Schattenhaushalte wie den für die Bundeswehr-Milliarden erfunden hat: Er nimmt in diesem Jahr, das für den Haushalt eh verloren ist, einen hohen Kredit auf, und gibt das Geld erst nach und nach aus. Er ist ein Illusionskünstler.

Nun könnte man sagen: Wenn er Freude daran hat und das nötige Geld trotzdem fließt – dann sei's doch drum. Doch so einfach ist es leider nicht. Alles hängt mit allem zusammen, das ist nicht nur in der Klimakrise so, sondern auch in der Ukraine-Krise

Die Schuldenbremse bremst gerade auch die Politik. Zum Beispiel beim Energieembargo. Die Regierung ist besorgt, dass die Menschen einen schmerzhaften Importstopp für russisches Öl und Gas nicht mittragen würden. Weil die Energiepreise wohl noch stärker stiegen. Und Menschen sich dann Gelbwesten anziehen könnten wie in Frankreich oder wütende Selfievideos vor Tankstellen aufnehmen wie ein Ministerpräsident. Aber eben auch, weil Gasknappheit in der Industrie eine Wirtschaftskrise auslösen könnte, inklusive vieler Arbeitsloser.  

Nicht alle möglichen Probleme eines Embargos lassen sich mit Geld abmildern. Aber einige eben schon. Und da steht die Schuldenbremse nun oft im Weg. Christian Lindner hat das gerade erst selbst in einem Interview mit dem "Tagesspiegel am Sonntag" nahegelegt, als es um die Benzinpreise ging. "Wenn die Union eine sogenannte Spritpreisbremse fordert, dann muss sie sagen, was sie im Haushalt kürzen will", sagt Lindner. Weil eben: SchuldenbremseNun wird er diese Frage wohl selbst beantworten oder wieder mal kreativ werden müssen. Denn der "Bild" zufolge will Lindner einen Tankrabatt von etwa 20 Cent pro Liter einführen. Doch die Liste ließe sich eben beliebig fortsetzen. 

Ein Energiegeld für alle, wie es die Grünen jetzt als Entlastung der Menschen vorschlagen? Ohne Weiteres nicht drin. Mehr Geld für Zivilschutz und Entwicklungshilfe? Kein Teil der Bundeswehr-Milliarden. Ein Konjunkturpaket gegen die Wirtschaftskrise, wenn denn eine kommt? Woher nehmen und nicht stehlen? 

Anders als SPD und Grüne verliert die FDP gerade in Umfragen ein paar Prozentpunkte. Die Lehre, die viele in der FDP daraus ziehen, scheint zu sein: noch überzeugter an den Überzeugungen festhalten. Auf die Gefahr hin, dass sie bald nur noch Ideologie sind oder Illusion. Was aber, wenn die FDP gerade deshalb verliert, weil sie sich der neuen Wirklichkeit bislang als einzige Regierungspartei verweigert?...

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