Sonntag, 2. Juni 2024

AfD-Paradox: Sie sehen es einfach nicht

hier  Fratzschers Verteilungsfragen: Eine Kolumne von Marcel Fratzscher  31. Mai 2024

Ausgerechnet AfD-Wähler würden von der Politik dieser Partei in Europa benachteiligt werden. Doch viele Anhänger verstehen das nicht – aus falscher Selbsteinschätzung.

Bei der anstehenden Europawahl dürften rechtsextreme Parteien – allen voran die AfD – so stark abschneiden wie nie zuvor. Europa könnte erheblich nach rechts rutschen. 

Eine neue Kurzstudie des DIW Berlin zeigt nun ein erstaunliches Paradox: Ausgerechnet Wählerinnen und Wähler der AfD wären die Leidtragenden einer AfD-Politik auf EU-Ebene, und zwar in fast jedem der Politikbereiche – von der Wirtschaftspolitik, über die Klima- und Umweltpolitik, bis zur Außenpolitik und Gesellschaftspolitik. 

Für die Untersuchung waren die AfD-Positionen und wie sich diese in den letzten zehn Jahren verändert haben, ausgewertet und mit denen anderer Parteien verglichen worden. Die Kurzstudie nutzt den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), um die Positionen der Parteien bei der Europawahl zu identifizieren und zu vergleichen. Dieser enthält 38 Fragen zu den wichtigsten Politikbereichen.

Demnach vertritt die AfD in praktisch allen Politikfeldern extreme Positionen, die sich in vielen Bereichen stark von denen der demokratischen Parteien unterscheiden.
Zudem hat sich die AfD radikalisiert und sich zu einer fast durchgehend europafeindlichen Partei entwickelt. 

In der Wirtschaftspolitik steht die AfD für eine Politik des Neoliberalismus: Dabei wird der Staat als ein Übel angesehen; den Markt zu stärken und den Sozialstaat abzubauen, gilt als die Lösung. Die AfD fordert Deutschlands Austritt aus dem Euro und die Wiedereinführung der D-Mark. Die EU soll keine eigenen Steuern erheben, die Einwanderung von Fachkräften von außerhalb der EU soll nicht vereinfacht werden.

In der Klima- und Umweltpolitik will die AfD viele Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt abschwächen oder ganz aufheben. Verbrennungsmotoren sollen auch nach 2035 noch zugelassen werden, Klimaschutzziele abgeschwächt werden. Dagegen will sie Subventionen auf fossile Energieträger wie Kerosin beibehalten und die ökologische Landwirtschaft weniger fördern.

In der Gesellschaftspolitik steht die AfD für weniger Vielfalt und mehr Intoleranz. Sie ist gegen die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen in der EU und lehnt es ab, dass Gewalt gegen Frauen als Asylgrund in Europa anerkannt wird. Bei Demokratie und innerer Sicherheit sieht die AfD eine kleinere Rolle für die EU vor. Beispielsweise möchte sie die Kompetenzen des EU-Parlaments deutlich beschneiden. EU-Fördermittel sollen nicht an die Einhaltung gemeinsamer Regeln und Werte gebunden sind. Die AfD steht für eine Asylpolitik, bei der Schutzsuchende ihren Asylantrag stellen müssen, bevor sie die EU-Außengrenze überschreiten. Zudem sollen dauerhafte Grenzkontrollen wieder eingeführt werden.

Bleibt noch die Außenpolitik, bei der die AfD viele Kompetenzen der EU wieder auf den Nationalstaat übertragen möchte. Außerdem vertritt die rechtspopulistische Partei prorussische Positionen. Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist sie die einzige Partei, die für den Abbau von Sanktionen gegen Russland, gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen gemeinsame europäische Rüstungsprojekte ist. Und sie will die Handlungsfähigkeit der EU schwächen, indem sie sich gegen das Mehrheitsprinzip und für nationale Vetos ausspricht.

AfD-Anhänger würden selbst unter die Räder geraten

Das AfD-Paradox ist bereits länger bekannt. Es zeigte sich bei der Bundestagswahl 2021 und auch manche Landtagswahlen. Und nun besonders auch für die Europawahlen 2024: Die vermeintlichen AfD-Wähler und -Wählerinnen würden einen erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Preis für eine AfD-Politik zahlen.

Doch wer wählt die AfD? Die Anhängerinnen und Anhänger kommen überdurchschnittlich häufig aus Ostdeutschland, sind überproportional im mittleren Alter, meist männlich und leben häufiger in strukturschwächeren Regionen. Zudem haben sie durchschnittlich einen geringeren Bildungs- und Berufsabschluss und verdienen unterdurchschnittlich viel. In anderen Worten: Sie gehören viel häufiger zu den verletzlichen Gruppen.

Außerdem wird keine andere Wählerklientel so stark von Unzufriedenheit und Ängsten getrieben, wie das der AfD. Fast neun von zehn AfD-Anhängende sind unzufrieden mit der etablierten Politik. Über die Hälfte beschreibt die wirtschaftliche Lage als schlecht und erwartet, dass sich diese weiter verschlechtern wird.

Diese Ängste und Unzufriedenheit spiegeln sich in den politischen Positionen der AfD-Wähler wider: Die meisten AfD-Wähler wollen Steuersenkungen und einen Abbau des Sozialstaats. Und 83 Prozent sehen Zuwanderung nicht als Chance, sondern als ein Problem und wollen sie daher deutlich beschränken.

Hier liegt eine Ursache für das Paradox: Sehr viele AfD-Wähler und -Wählerinnen sind auf einen starken Sozialstaat, eine bessere Daseinsvorsorge und gute staatliche Institutionen angewiesen. Die AfD-Politik wird somit für viele in ihrer Wählerschaft einen Einschnitt bei den sozialen Leistungen und einen geringeren Lebensstandard bedeuten. Steuersenkungen würden die Gelder bei den Kommunen weiter reduzieren und damit die Daseinsfürsorge vor allem in strukturschwächeren Regionen weiter erodieren.

Die Forderungen, Europa abzuschotten, nationale Grenzen zu stärken, Zuwanderung zu begrenzen und wirtschaftlichen Protektionismus zu stärken, würden in Deutschland viele Millionen Arbeitsplätze zerstören. Und viele aus der AfD-Anhängerschaft wären die Hauptleidtragenden, da Menschen mit geringeren Qualifikationen, weniger Einkommen und einer geringeren Mobilität von diesen Arbeitsplatzverlusten besonders stark betroffen wären.

Eine Politik, die Minderheiten wie Geflüchtete und Bezieher sozialer Leistungen ausgrenzt, würde die soziale und politische Teilhabe für viele AfD-Wähler als Bumerang reduzieren. Denn durch gekürzte soziale Leistungen würde kein Erwerbstätiger auch nur einen Euro mehr an Arbeitseinkommen erzielen, mehr Chancen haben oder eine verbesserte Daseinsvorsorge erhalten.

Sehen die das denn nicht?

Warum sehen die Menschen, die die AfD wählen, dies nicht? Zum einen sind viele von ihnen sehr unzufrieden und haben große Ängste. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Mehrheit der AfD-Wählenden selbst nicht rechtsextreme Positionen vertritt, sondern ihre Stimme als Protest sieht.

Außerdem hat das AfD-Paradox auch etwas mit einer falschen Selbsteinschätzung zu tun. Ebenfalls konnte mehrfach belegt werden, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich zur Mittelschicht zählt, obwohl viele faktisch entweder mehr oder – wie bei vielen AfD-Wählern – deutlich weniger verdienen. Viele realisieren daher gar nicht, dass die AfD-Politik sie selbst stark negativ treffen würde.

Der Populismus der AfD hat vielen Menschen eingeredet, für mehr Toleranz und eine offene Gesellschaft einzustehen, bedeute eine schlechtere Ausgangssituation für sie selbst. Ein solches Nullsummendenken, bei dem der Gewinn für andere zwingend als Verlust für sich selbst wahrgenommen wird, beruht auf einem Irrglauben und führt zu einem Verteilungskampf, der letztlich nur Verlierer kennt. Daher ist es so wichtig, dass die falschen Versprechen und die Konsequenzen der AfD-Politik offengelegt werden.

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