Neue Züricher Zeitung hier Angelika Hardegger
«Das erste ‹Klima-Urteil› des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte»
Pensionierte Frauen verklagen die Schweiz in Strassburg, weil sie zu wenig für Klimaschutz mache. Jetzt erhält die Klage zusätzliches Gewicht – ein Völkerrechtler ordnet ein.
Johannes Reich, Sie lehren Umweltvölkerrecht an der Universität Zürich und verfolgen die Klage der Klimaseniorinnen seit langem. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klage an die Grosse Kammer verwiesen. Was bedeutet das?
Johannes Reich: Die Klage wird wohl öffentlich verhandelt werden. Die Schweiz und die Klimaseniorinnen können mündlich Stellung nehmen. Die grosse juristische Frage ist, welche Rolle die Menschenrechte im Klimaschutz spielen. Es gibt eine Strömung, die sagt: Wenn die Menschenrechte keine Antwort auf die grösste Herausforderung der Gegenwart geben können, sind sie gescheitert. Andere sprechen Gerichten die Kompetenz ab, über derart komplexe gesellschaftliche und politische Fragen zu entscheiden. Der Gerichtshof in Strassburg hat sich bisher nicht positioniert. Es spricht derzeit alles dafür, dass die Klage gegen die Schweiz zu seinem ersten «Klima-Urteil» führen wird.
Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen zählt über 1500 Klimaklagen auf, die bis 2020 weltweit eingereicht wurden. Der Fall der Klimaseniorinnen gehört sicher zu den wichtigsten.
Allein schon, weil er durch ein internationales Gericht entschieden wird, das für fast einen ganzen Kontinent zuständig ist. Ähnliche Bedeutung haben bisher wohl nur der Klimabeschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 2021 und ein Urteil des höchsten Gerichts der Niederlande aus dem Jahr 2019 erlangt.
Wenn die Schweiz verurteilt wird: Was bedeutet das für die Klimapolitik?
Es geht um das Signal. Diese Wirkung dürfte weit über die Schweiz hinaus reichen. Aber Klimapolitik ist ein demokratischer Aushandlungsprozess, gerade in der Schweiz. Daran ändert auch ein Gerichtsurteil nichts.
Die Klimaseniorinnen sehen ihre Menschenrechte verletzt, weil der Bund zu wenig Klimaschutz mache. Die Schweizer Gerichte hatten die Klage abgewiesen. Warum?
Klagen kann nur, wer spezifisch und besonders von einem Eingriff in seine Rechte berührt ist. Die Klimaseniorinnen haben argumentiert, dass ihre Gesundheit aufgrund der Hitzewellen, die angesichts des Klimawandels extremer und häufiger werden, besonders stark gefährdet sei. Die Schweizer Gerichte sind dieser Argumentation nicht gefolgt.
Steht die Schweiz nun besonders am Pranger beim Klimaschutz?
Das kommt auf das Urteil an. Wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Menschenrechtskonvention feststellen sollte, könnte sich diese auf die unterbliebene gerichtliche Beurteilung der Beschwerde beschränken. Oder der Gerichtshof stellt tatsächlich eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens oder gar des Rechts auf Leben fest.
Der Klimaschutz ist immer häufiger Streitpunkt vor Gericht. Wie kommt das?
Klimaklagen sind ein globales Phänomen. Man erhofft sich, Staaten zu jenem rascheren Handeln zwingen zu können, das umweltvölkerrechtlich und klimaphysikalisch geboten ist. Hinter der Klage der Klimaseniorinnen steht Greenpeace. Die Umweltorganisation hat sich die erwähnte Klage in den Niederlanden zum Vorbild genommen für die Schweiz. Andere Klagen nehmen private Unternehmen ins Visier. Das bekannteste Beispiel ist ein Urteil gegen Shell: Das Unternehmen wurde im Jahr 2021 gerichtlich verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen bis 2030 drastisch zu reduzieren.
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