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Philosophin Nancy Fraser
Die bedeutende Philosophin Nancy Fraser untersucht Hintergrundbedingungen des Kapitalismus und zeigt, wie sich soziale Bewegungen gegen ihn verbünden könnten. Die „verschleierten Gesichter des Kapitalismus“ sind auch Thema ihrer Berliner Vorlesungen.
Klima-, Wirtschafts-, Demokratie-Krise: Nancy Fraser
betrachtet die „überwältigenden Probleme“ unserer Gegenwart als miteinander
verwoben und nicht als voneinander getrennt. Sie seien allesamt von ein und
demselben gesellschaftlichen System verursacht worden, meint die renommierte
US-amerikanische Philosophin – vom Kapitalismus.
Den begreift und analysiert sie nicht lediglich als Wirtschaftsform, sondern als ein komplettes Gesellschaftssystem, das uns die Klimakatastrophe und das Corona-Virus gebracht habe. Und: Der Kapitalismus habe die Tendenz, Arbeit, Lebensstandards und politische Demokratie zu unterminieren.
Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen
Fraser hat in den letzten Jahren an einer Kapitalismustheorie gearbeitet, die sich nicht nur für Ökonomie im engen Sinne interessiert, sondern auch für deren Hintergrundbedingungen. Als Voraussetzungen für eine profitable kapitalistische Wirtschaft identifiziert sie drei Typen von Arbeit:
- die ausgebeutete Lohnarbeit der Arbeiterklasse,
- enteignete Arbeit, verrichtet vor allem von rassistisch stigmatisierten Menschen, und
- Care-Arbeit, erledigt vor allem von Frauen.
Fraser möchte nun zeigen, welche Zusammenhänge zwischen diesen Formen bestehen – und wie sich emanzipatorische Bewegungen verbünden könnten.
Zu diesen Fragen hält die New Yorker Philosophin vom 14. bis
16. Juni die Walter-Benjamin-Lectures im Haus der Kulturen der Welt mit dem
Titel „Three Faces of Capitalist Labor“. Mit ihren Berliner Vorlesungen möchte
sie dazu beitragen, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der die
Verbindungen zwischen verschiedenen Problemen, Anstrengungen und Kämpfen im
Kapitalismus aufzeige – „egal wie unterschiedlich die Erfahrungen mit diesem
eben immer ein und demselben System sind“.
Frasers zentrale These ist dabei, dass die feministischen,
antirassistischen und antiimperialistischen Kämpfe unserer Zeit im Kern
allesamt als Arbeitskämpfe betrachtet werden können. Eine reale Alternative zum
bestehenden Kapitalismus könnte entstehen, wenn sich die drei emanzipativen
Bewegungen als Verbündete in ein und demselben Arbeitskampf erkennen und
zusammentun würden.
Wo ist die Gegen-Hegemonie?
Nancy Fraser sieht derzeit allerdings ein „schwerwiegendes
Missverhältnis zwischen dem Ausmaß des emanzipatorischen Engagements einerseits
und den Dimensionen der Probleme andererseits“.
Zwar existiere großes Engagement in vielen Bewegungen, aber
es sei „verstreut, vereinzelt, es gibt kaum Koordinierung“. Statements voller
guter Absichten zur Solidarität würden nicht umgesetzt in etwas wie ein
gemeinsames Projekt – „oder, um es mit Antonio Gramsci zu sagen, in eine Art
Gegen-Hegemonie“.
Voraussetzung dafür sei ein geteiltes Verständnis für die
gemeinsame Ursache der verschiedenen Probleme. Fraser bemängelt, dass sich
unsere Perspektive darauf, was die kapitalistische Gesellschaft ist, im Laufe
der Jahre verengt habe – im Hinblick auf die offizielle Wirtschaft, in der
Löhne gezahlt werden, Waren hergestellt, gekauft und verkauft werden und
Profite gemacht werden.
Demnach sei das, was in den Geschäftsbüchern der Unternehmen
auftaucht, Kapitalismus.
Aber was in den Familien passiert oder den Communitys, was mit der Natur passiert oder mit dem Staat und dem politischen System, wird kaum im Zusammenhang mit dem Kapitalismus gesehen. Meiner Ansicht nach ist das ein Fehler. Der Kapitalismus ist riesig, so groß wie der Feudalismus.
In diesem System habe das Kapital – die Klasse der Menschen,
die große Unternehmen besitzen, Investoren und so weiter – handfeste Gründe,
unfreie oder halb-freie Arbeit zu nutzen, wenn diese für sie erhältlich sei,
weil sie so billig sei. „Es passt in ihre Logik, als Trittbrettfahrer von der
günstigen Hausarbeit oder Care-Arbeit zu profitieren, ohne dafür zu bezahlen.“
Das erlaube diesen Menschen, die Kosten der Arbeit gering zu
halten und Profit zu erwirtschaften, erklärt sie. Auch die ökologischen
Schäden, die sie ständig verursachten, müssten sie nicht beheben. Das System
sporne diejenigen an, die Kapital besitzen und „ihr Leben dessen Ansammlung
verschrieben haben, ihre Schäden eben nicht zu beheben, nichts für die
Reproduktionskosten des von ihnen genutzten Inputs auszugeben“.
Der verpasste Zusammenschluss
Fraser bezieht sich auf das Buch „Black Reconstruction“ von
1935, in dem W. E. B. Du Bois die These entwickelte, dass die US-amerikanische
Geschichte anders verlaufen wäre, hätte sich die Bewegung zur Abschaffung der
Sklaverei mit der weißen Arbeiterbewegung im Zeichen eines gemeinsamen
Arbeitskampfes verbündet.
„Aber es zeigte sich, dass der Rassismus der weißen Arbeiter
dem im Wege stand“, rekapituliert Fraser. „Sie waren nicht in der Lage zu
verstehen, wie die Situation der versklavten schwarzen Menschen ihnen selbst
schadete. Sie dachten, sie könnten einen Vorteil daraus ziehen, den Zustand so
zu belassen. Du Bois machte klar deutlich, dass sie sich damit täuschten.“
Das Buch sei eine Art Diagnose einer Tragödie, eines
verpassten Zusammenschlusses, der zu einer neuen Form der Demokratie hätte
führen können.
Heute gebe es neben antirassistischen Bewegungen auch eine
ganze Reihe feministischer Kämpfe, die sehr eng mit dem Thema Arbeit verbunden
seien, darunter etwa die Forderungen nach großzügigerer Elternzeit, nach besser
bezahlter Altenpflege, nach Kinderbetreuung.
All das seien Kämpfe für die Neubewertung reproduktiver
Arbeit.
Es geht darum, zu sagen, dass die Gesellschaft diese Arbeit wertschätzt und bereit ist, dafür zu zahlen und sie zu organisieren. Und das großzügig und auf hohem Niveau, was bedeutet, die Menschen über den Profit zu stellen.
Nancy Fraser
Der globale Süden als Mülldeponie
Im gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung
werde die Demokratie von Besitz und Geld bestimmt – ein großer Verlust, meint
Nancy Fraser. Auch bezüglich der globalen Nord-Süd-Frage könne man ähnlich
argumentieren.
„Schließlich haben wir alle in Bezug auf den Klimawandel und
auf Covid und so weiter gelernt, dass wir uns nicht schützen können. Der
Schaden, den wir dort anrichten, bleibt nicht einfach nur bestehen, er wendet
sich gegen uns“, erklärt sie. „Wenn wir also überleben wollen, müssen wir
aufhören, den globalen Süden als Giftmülldeponie zu behandeln.“
Auf die Frage, ob der Kapitalismus zusammenbräche, wenn all
die ausgelagerte Care-Arbeit in das kapitalistische Lohnarbeitssystem
integriert würde, sagt Fraser: „Ich denke, die Privilegien des Kapitalismus
würden zumindest stark eingeschränkt. Das bringt uns zu einer interessanten
Frage: Ab wann kann man sagen, dass das System nicht mehr kapitalistisch ist, weil
das Kapital so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr im großen Stil angehäuft
werden kann?“
Der Kapitalismus habe in seiner Geschichte schon oft
überrascht und sich als sehr erfindungsreich erwiesen. Vielleicht werde
irgendwann eine neue Form des öko-feministischen Kapitalismus möglich sein,
aber darüber solle man sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.
Frasers Appell lautet stattdessen: „Lasst uns gemeinsam für
die Dekarbonisierung der Wirtschaft eintreten, lasst uns die Prioritäten der
gesellschaftlichen Reproduktion und des Profits umkehren, lasst uns die
Ausbeutung abschaffen! Lasst uns all das tun und dann später entscheiden, ob
wir das nun Kapitalismus nennen oder nicht.“
Weniger könnte mehr sein
Fraser fordert dazu auf, stärker qualitativ denken.
Es geht nicht nur darum, dass ich vielleicht weniger Dinge haben werde, sondern darum, ob ich ein erfüllenderes, emotional reichhaltiges, befriedigendes Leben haben werde. Das ist etwas, von dem ich mir sicher bin, dass der Kapitalismus es uns nicht geben kann.
Nancy Fraser
Im Moment sei sie nicht besonders optimistisch, sagt Fraser,
aber dieser Augenblick sei nicht in Stein gemeißelt. Antonio Gramsci spreche
von einem Interregnum, einer Zwischenphase.
„Wir kommen aus dem Neoliberalismus und wissen noch nicht,
wo wir hingehen“, glaubt Nancy Fraser. Momentan sterbe das Alte und das Neue
könne noch nicht geboren werden. Stattdessen treten „alle möglichen Arten
morbider Symptome auf. Wir leben in einer Zeit morbider Symptome, weil das Alte
nicht funktioniert und wir noch nicht wissen, wie wir das Neue schaffen können.
Aber das ist eine Situation, die zwar viel Gefahr birgt, aber auch viele
Möglichkeiten“, so die Philosophin.
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