Montag, 30. Mai 2022

Zeit der Vielfachkrisen: „Wir leben in einer Zeit morbider Symptome“

Deutschlandfunk hier auch zum Anhören

Philosophin Nancy Fraser

Die bedeutende Philosophin Nancy Fraser untersucht Hintergrundbedingungen des Kapitalismus und zeigt, wie sich soziale Bewegungen gegen ihn verbünden könnten. Die „verschleierten Gesichter des Kapitalismus“ sind auch Thema ihrer Berliner Vorlesungen.

Klima-, Wirtschafts-, Demokratie-Krise: Nancy Fraser betrachtet die „überwältigenden Probleme“ unserer Gegenwart als miteinander verwoben und nicht als voneinander getrennt. Sie seien allesamt von ein und demselben gesellschaftlichen System verursacht worden, meint die renommierte US-amerikanische Philosophin – vom Kapitalismus.

Den begreift und analysiert sie nicht lediglich als Wirtschaftsform, sondern als ein komplettes Gesellschaftssystem, das uns die Klimakatastrophe und das Corona-Virus gebracht habe. Und: Der Kapitalismus habe die Tendenz, Arbeit, Lebensstandards und politische Demokratie zu unterminieren.

Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen

Fraser hat in den letzten Jahren an einer Kapitalismustheorie gearbeitet, die sich nicht nur für Ökonomie im engen Sinne interessiert, sondern auch für deren Hintergrundbedingungen. Als Voraussetzungen für eine profitable kapitalistische Wirtschaft identifiziert sie drei Typen von Arbeit:

  • die ausgebeutete Lohnarbeit der Arbeiterklasse, 
  • enteignete Arbeit, verrichtet vor allem von rassistisch stigmatisierten Menschen, und 
  • Care-Arbeit, erledigt vor allem von Frauen.

Fraser möchte nun zeigen, welche Zusammenhänge zwischen diesen Formen bestehen – und wie sich emanzipatorische Bewegungen verbünden könnten.

Zu diesen Fragen hält die New Yorker Philosophin vom 14. bis 16. Juni die Walter-Benjamin-Lectures im Haus der Kulturen der Welt mit dem Titel „Three Faces of Capitalist Labor“. Mit ihren Berliner Vorlesungen möchte sie dazu beitragen, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der die Verbindungen zwischen verschiedenen Problemen, Anstrengungen und Kämpfen im Kapitalismus aufzeige – „egal wie unterschiedlich die Erfahrungen mit diesem eben immer ein und demselben System sind“.

Frasers zentrale These ist dabei, dass die feministischen, antirassistischen und antiimperialistischen Kämpfe unserer Zeit im Kern allesamt als Arbeitskämpfe betrachtet werden können. Eine reale Alternative zum bestehenden Kapitalismus könnte entstehen, wenn sich die drei emanzipativen Bewegungen als Verbündete in ein und demselben Arbeitskampf erkennen und zusammentun würden.

Wo ist die Gegen-Hegemonie?

Nancy Fraser sieht derzeit allerdings ein „schwerwiegendes Missverhältnis zwischen dem Ausmaß des emanzipatorischen Engagements einerseits und den Dimensionen der Probleme andererseits“.

Zwar existiere großes Engagement in vielen Bewegungen, aber es sei „verstreut, vereinzelt, es gibt kaum Koordinierung“. Statements voller guter Absichten zur Solidarität würden nicht umgesetzt in etwas wie ein gemeinsames Projekt – „oder, um es mit Antonio Gramsci zu sagen, in eine Art Gegen-Hegemonie“.

Voraussetzung dafür sei ein geteiltes Verständnis für die gemeinsame Ursache der verschiedenen Probleme. Fraser bemängelt, dass sich unsere Perspektive darauf, was die kapitalistische Gesellschaft ist, im Laufe der Jahre verengt habe – im Hinblick auf die offizielle Wirtschaft, in der Löhne gezahlt werden, Waren hergestellt, gekauft und verkauft werden und Profite gemacht werden.

Demnach sei das, was in den Geschäftsbüchern der Unternehmen auftaucht, Kapitalismus.

Aber was in den Familien passiert oder den Communitys, was mit der Natur passiert oder mit dem Staat und dem politischen System, wird kaum im Zusammenhang mit dem Kapitalismus gesehen. Meiner Ansicht nach ist das ein Fehler. Der Kapitalismus ist riesig, so groß wie der Feudalismus.

In diesem System habe das Kapital – die Klasse der Menschen, die große Unternehmen besitzen, Investoren und so weiter – handfeste Gründe, unfreie oder halb-freie Arbeit zu nutzen, wenn diese für sie erhältlich sei, weil sie so billig sei. „Es passt in ihre Logik, als Trittbrettfahrer von der günstigen Hausarbeit oder Care-Arbeit zu profitieren, ohne dafür zu bezahlen.

Das erlaube diesen Menschen, die Kosten der Arbeit gering zu halten und Profit zu erwirtschaften, erklärt sie. Auch die ökologischen Schäden, die sie ständig verursachten, müssten sie nicht beheben. Das System sporne diejenigen an, die Kapital besitzen und „ihr Leben dessen Ansammlung verschrieben haben, ihre Schäden eben nicht zu beheben, nichts für die Reproduktionskosten des von ihnen genutzten Inputs auszugeben“.

Der verpasste Zusammenschluss

Fraser bezieht sich auf das Buch „Black Reconstruction“ von 1935, in dem W. E. B. Du Bois die These entwickelte, dass die US-amerikanische Geschichte anders verlaufen wäre, hätte sich die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei mit der weißen Arbeiterbewegung im Zeichen eines gemeinsamen Arbeitskampfes verbündet.

„Aber es zeigte sich, dass der Rassismus der weißen Arbeiter dem im Wege stand“, rekapituliert Fraser. „Sie waren nicht in der Lage zu verstehen, wie die Situation der versklavten schwarzen Menschen ihnen selbst schadete. Sie dachten, sie könnten einen Vorteil daraus ziehen, den Zustand so zu belassen. Du Bois machte klar deutlich, dass sie sich damit täuschten.“

Das Buch sei eine Art Diagnose einer Tragödie, eines verpassten Zusammenschlusses, der zu einer neuen Form der Demokratie hätte führen können.

Heute gebe es neben antirassistischen Bewegungen auch eine ganze Reihe feministischer Kämpfe, die sehr eng mit dem Thema Arbeit verbunden seien, darunter etwa die Forderungen nach großzügigerer Elternzeit, nach besser bezahlter Altenpflege, nach Kinderbetreuung.

All das seien Kämpfe für die Neubewertung reproduktiver Arbeit.

Es geht darum, zu sagen, dass die Gesellschaft diese Arbeit wertschätzt und bereit ist, dafür zu zahlen und sie zu organisieren. Und das großzügig und auf hohem Niveau, was bedeutet, die Menschen über den Profit zu stellen. 

Nancy Fraser

 

Der globale Süden als Mülldeponie

Im gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung werde die Demokratie von Besitz und Geld bestimmt – ein großer Verlust, meint Nancy Fraser. Auch bezüglich der globalen Nord-Süd-Frage könne man ähnlich argumentieren.

„Schließlich haben wir alle in Bezug auf den Klimawandel und auf Covid und so weiter gelernt, dass wir uns nicht schützen können. Der Schaden, den wir dort anrichten, bleibt nicht einfach nur bestehen, er wendet sich gegen uns“, erklärt sie. „Wenn wir also überleben wollen, müssen wir aufhören, den globalen Süden als Giftmülldeponie zu behandeln.“

Auf die Frage, ob der Kapitalismus zusammenbräche, wenn all die ausgelagerte Care-Arbeit in das kapitalistische Lohnarbeitssystem integriert würde, sagt Fraser: „Ich denke, die Privilegien des Kapitalismus würden zumindest stark eingeschränkt. Das bringt uns zu einer interessanten Frage: Ab wann kann man sagen, dass das System nicht mehr kapitalistisch ist, weil das Kapital so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr im großen Stil angehäuft werden kann?

Der Kapitalismus habe in seiner Geschichte schon oft überrascht und sich als sehr erfindungsreich erwiesen. Vielleicht werde irgendwann eine neue Form des öko-feministischen Kapitalismus möglich sein, aber darüber solle man sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.

Frasers Appell lautet stattdessen: „Lasst uns gemeinsam für die Dekarbonisierung der Wirtschaft eintreten, lasst uns die Prioritäten der gesellschaftlichen Reproduktion und des Profits umkehren, lasst uns die Ausbeutung abschaffen! Lasst uns all das tun und dann später entscheiden, ob wir das nun Kapitalismus nennen oder nicht.“

Weniger könnte mehr sein

Fraser fordert dazu auf, stärker qualitativ denken.

Es geht nicht nur darum, dass ich vielleicht weniger Dinge haben werde, sondern darum, ob ich ein erfüllenderes, emotional reichhaltiges, befriedigendes Leben haben werde. Das ist etwas, von dem ich mir sicher bin, dass der Kapitalismus es uns nicht geben kann. 

Nancy Fraser

 Was er zu bieten habe, werde als Handelsware eingeebnet, zu einer Form von Konsum – „das wird auf die Dauer ein wenig schal, es wird etwas weggenommen vom qualitativen Aspekt des Lebens“.

Im Moment sei sie nicht besonders optimistisch, sagt Fraser, aber dieser Augenblick sei nicht in Stein gemeißelt. Antonio Gramsci spreche von einem Interregnum, einer Zwischenphase.

„Wir kommen aus dem Neoliberalismus und wissen noch nicht, wo wir hingehen“, glaubt Nancy Fraser. Momentan sterbe das Alte und das Neue könne noch nicht geboren werden. Stattdessen treten „alle möglichen Arten morbider Symptome auf. Wir leben in einer Zeit morbider Symptome, weil das Alte nicht funktioniert und wir noch nicht wissen, wie wir das Neue schaffen können. Aber das ist eine Situation, die zwar viel Gefahr birgt, aber auch viele Möglichkeiten“, so die Philosophin.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen