Dienstag, 2. Mai 2023

Ende Verkehrswende?

hier in der Süddeutschen Zeitung  28. April 2023
Von Elisa von Grafenstein, Christina Kunkel, Marie Vandenhirtz, Paulina Würminghausen, Isabel Kronenberger (Design) und Jonas Jetzig (Grafiken)

Über die Mobilität der Zukunft wurde schon so viel diskutiert: weniger Autos, mehr Platz für Fahrradfahrer, selbstfahrende Shuttles. So hat man sich das Ganze mal vorgestellt. 

Doch die Realität sieht anders aus. Nie gab es so viele Autos in Deutschland wie heute, selbst kürzeste Strecken legen viele mit dem Wagen zurück, ob in der Stadt oder auf dem Land.

Warum es so schwer ist, das zu ändern – aber es vielleicht nicht sein müsste.

Bild links: Klimaaktivisten in Ravensburg

..Letschin ist eine Gemeinde im Landkreis Märkisch-Oderland. Nur 24 Prozent der Anwohner hier haben dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zufolge einen „komfortablen“ Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Umkehrschluss heißt das: Mehr als drei Viertel der Bewohner haben keinen Bahnhof und keine Bushaltestelle in der Nähe, an der wenigstens einmal in der Stunde ein Bus fährt. Also fahren sie Auto.

Die viel beschworene Verkehrswende – sie steht vor großen Hürden. Auf dem Land sind viele Menschen auf ihre Autos schlichtweg angewiesen. Doch auch in den Städten schafft kaum jemand den eigenen Pkw ab, obwohl viele genervt sind von Stau, Parkplatzsuche, Lärm und schlechter Luft. Und obwohl es dort mit Carsharing, Bussen, Bahnen, Leihrollern oder dem Fahrrad so viele Mobilitätsangebote gibt wie nie zuvor. Die Zahl der Pkws in Deutschland steigt immer weiter, 2022 waren es 48,5 Millionen. Vor zehn Jahren waren es noch 5,6 Millionen weniger.

Es muss sich etwas tun. 2019 trug der Verkehrssektor laut Umweltbundesamt 20 Prozent zu den bundesweiten CO₂-Emissionen bei. Doch es tut sich wenig. Mit dem 49-Euro-Ticket, das zum 1. Mai startet, keimt wieder ein bisschen Hoffnung auf, dass vielleicht doch der ein oder andere umsteigt in die Öffis. Aber die ganz große Verkehrswende wird wohl auch dieses Angebot nicht bringen. Und dafür gibt es Gründe, wie die Auswertung vieler Statistiken und zwei Ortsbesuche zeigen. Einer davon in Letschin.

Fährt der Bus nur selten, bringt er wenig

Die Ostbahn, die die Menschen hier nehmen, fährt von Kostrzyn in Polen über Seelow-Gusow bis nach Berlin. Aneta Tatała fährt die gesamte Strecke seit neun Jahren. Viermal die Woche verlässt sie das Haus um 3.30 Uhr, um gegen 7.30 Uhr an ihrem Arbeitsplatz in Berlin zu sein. Hier arbeitet sie als Reinigungskraft. Die Bedingungen auf der Strecke werden immer schlimmer, findet sie, die Züge seien überfüllt. „Wir fühlen uns wie zusammengetriebene Rinder.“ Hinzu kommen ausgefallene Heizungen im Winter, fehlende Klimaanlagen im Sommer, kaputte Züge und die unzähligen Baustellen auf der Strecke, durch die der Zug kaum zuverlässig kommt.

Viele Menschen fahren darum lieber Auto. Die Bushaltestelle in Letschin ist menschenleer, auf der Straße donnert der Verkehr. Die Leute zum Umsteigen bewegen? Schwierig, findet Rainer Schinkel, der Leiter des Wirtschaftsamts des Landkreises: „Die Menschen schätzen eben sehr die Freiheit loszufahren, wann sie wollen.“ Ein Problem, das viele ländliche Gemeinden haben: Fährt der Bus nur einmal die Stunde, kommt er für die meisten Alltagsbeschäftigungen nicht infrage. Doch wenn kaum jemand mit dem Bus fährt, lohnt es sich auch nicht, die Frequenz auszubauen.

 

Wie sich die Menschen in Deutschland fortbewegen, ermittelt alle sieben Jahre die vom Verkehrsministerium beauftragte Studie „Mobilität in Deutschland“. Auch dort lautet das jüngste Fazit: „Das Auto bleibt mit weitem Abstand Verkehrsträger Nummer eins.“ Ein Drittel aller Wege legen die Menschen aus beruflichen Gründen zurück, im Jahr 2021 fuhren Pendlerinnen und Pendler durchschnittlich 17 Kilometer zur Arbeit. Doch auch wenn rund jeder zweite Arbeitsweg höchstens zehn Kilometer hat, nutzen 68 Prozent dafür das Auto


Geht das wirklich nicht anders? Daten des BBSR geben Aufschluss. Sie zeigen, wie viele Menschen in einer Region einen guten Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel haben. Die Experten bezeichnen den Zugang dann als „komfortabel“, wenn Anwohner in 600 Metern Entfernung eine Haltestelle mit mindestens 20 Abfahrten am Tag haben oder in 1200 Metern einen Bahnhof. Bundesweit gilt das zwar für mehr als 90 Prozent der Bürger. Allerdings: Dass der Bus dann öfter als einmal die Stunde fährt und auch in den späten Abendstunden, sagen die Daten nicht. Darüber hinaus gibt es viele Regionen, besonders in Bayern, an der Grenze zu den Niederlanden und im Nordosten Deutschlands, in denen die Anbindung deutlich schlechter ist. Letschin zum Beispiel. Untersuchungen der Initiative Agora Verkehrswende zeigen außerdem, dass der Bus an vielen Orten, vor allem auf dem Land, nicht mal zur Hauptverkehrszeit stündlich fährt.

Was oft vergessen wird: Wie hoch die Kosten für ein Auto tatsächlich sind

Den Zubringerverkehr zu den S-Bahnen und Zügen zu verbessern, das sieht Jörn Richert vom Mobility Institute Berlin (MIB) als eine der großen Herausforderungen für die Verkehrswende. Auf den hochfrequentierten Pendlerstrecken mit Schienenverbindungen in die Stadt liefe es schon gut mit den Öffentlichen. Aber eben nur da. Das MIB berät Kommunen beim Thema Mobilität und setzt sich für einen besseren ÖPNV ein. Der sei vor allem eine Frage der Finanzierung: „Der allergrößte Teil des Sektors ist auf Zuschüsse angewiesen“, sagt Richert. Immer wieder fordern die Länder deswegen mehr Geld vom Bund. Mobilität ist Teil der staatlichen Daseinsvorsorge, und schließlich werde ja auch der Pkw großzügig finanziert, findet Richert. Etwa durch den Bau von Straßen, durch Steuervergünstigungen für Dieselkraftstoff oder die staatliche Kaufprämie für E-Autos. Richert sieht aber durchaus einen Stimmungswandel: „Das 49-Euro-Ticket ist ein richtig großer Wurf.“

Das sieht auch Antonios Tsakarestos so. Er leitet die Forschungsgruppe „New Transportation Systems“ an der Technischen Universität München. Aus seiner Sicht liegt es auch an den Kosten, dass zu wenig Menschen mit den Öffentlichen fahren: „Der ÖPNV ist in Deutschland eine teure Form des Reisens.“ Das Deutschlandticket, für das sich im ersten Jahr der Bund die Kosten mit den Ländern teilt, könnte das Mobilitätsverhalten der Menschen nachhaltig verändern. Denn wer das Ticket gekauft hat, fährt danach gefühlt umsonst. Viele würden beim Auto nur die reinen Fahrtkosten und nicht die viel höheren Gesamtkosten für Anschaffung, Versicherung und Reparatur sehen. Was auch oft vergessen wird: die sozialen Kosten, die ein Auto verursacht, etwa durch Luftverschmutzung, Landverbrauch, Lärm und für die Instandhaltung der Infrastruktur. Einer Studie aus Skandinavien zufolge subventioniert die Gesellschaft jedes Auto im Durchschnitt mit 5000 Euro.

Doch nicht nur in der Politik tut sich etwas in Sachen Verkehrswende, findet Richert vom MIB. Auch Arbeitgeber sorgten sich häufiger darum, wie ihre Mitarbeiter klimaschonender ins Büro kommen. Manche Unternehmen bieten statt Dienstwagen alternativ ein Mobilitätsbudget an, das zum Beispiel auch für eine Bahncard oder ein Fahrrad genutzt werden kann. Andere bezuschussen ÖPNV-Tickets stark oder leasen E-Bikes für die Mitarbeiter. Das ZEW in Mannheim ließ ein Unternehmen acht Wochen lang E-Mails an Mitarbeiter verschicken, in denen sie erfuhren, ob sie im Vergleich zu den Kollegen öfter oder seltener mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit kommen. Darin wurden die Mitarbeiter aber auch ermutigt, aus Klimaschutzgründen öfter mal aufs Auto zu verzichten. Es wirkte erstaunlich gut. „Die Kombination aus sozialen Vergleichen und moralischen Appellen führt zu einer deutlichen Veränderung des Mobilitätsverhaltens“, stellten die Forscher fest. Die Mitarbeiter verzichteten tatsächlich auf einige Autofahrten – gleichzeitig gaben sie mehr Geld für E-Scooter oder Bike-Sharing aus.

Veränderung muss also nicht immer viel kosten. Manchmal helfe es schon, an kleinen Schrauben zu drehen, sagt Mobilitätsexperte Richert: auf dem Land überdachte und sichere Abstellplätze für E-Bikes, das Ausweisen von Fahrradstraßen, eine neue Verkehrsleitung in der Stadt oder eine bessere Integration von Sharing-Angeboten für Fahrrad und Auto. „Diese Kombination hat unglaublich viel Potenzial“, sagt er. Auch „On-Demand-Services“ könnten noch eine wichtige Rolle spielen. Solche Ruf-Shuttles werden derzeit relativ breit getestet, vor allem in Großstädten wie Berlin und Hamburg, aber immer häufiger auch auf dem Land.

Rosi auf Abruf

Zweiter Ortsbesuch: Rosenheim. Seit einem Jahr gibt es hier fünf kleine Busse namens Rosi Mobil. In dieser Zeit ist „die Rosi“, wie die Menschen sie hier nennen, für viele unverzichtbar geworden. Rosi hat keinen festen Fahrplan, sie fährt dahin, wohin die Menschen sie rufen. Wie ein Sammeltaxi, nur moderner und günstiger. Und anders als beim Taxi darf Rosi nur an Bushaltestellen anhalten. Es gibt sehr, sehr viele Haltestellen. 615 in elf Gemeinden, um genau zu sein. Und es werden immer mehr.

Marie Neubert sitzt gerade allein auf der Rückbank. „Ich würde die Rosi nicht mehr missen wollen“, sagt sie. Vier- bis fünfmal die Woche fährt sie mit dem kleinen Bus, einem Siebensitzer, außen weiß, mit einem türkis-pinken Schriftzug. Und natürlich fährt es ganz vorbildlich auch elektrisch. Manchmal muss der Fahrer hupen, weil die Menschen auf der Straße den Bus nicht hören, so leise ist er. Neubert fährt mit der Rosi zum Supermarkt, zum Bahnhof oder – wie jetzt – zur Arbeit. Sie ist Angestellte im Rathaus. „Die Busverbindung hier kannste knicken“, sagt die 27-Jährige. Jetzt könne sie auch mal spontan am Wochenende eine Freundin besuchen. „Ich habe jetzt viel mehr Lebensfreude“, sagt Neubert. Einen Führerschein hat sie nicht und könne ihn aus gesundheitlichen Gründen auch nicht machen.

Die Preise für die Rosi hängen von der jeweiligen Zone ab, in der der Bus fährt. Alles unter vier Kilometern kostet 2,50 Euro. Bei zehn bis 15 Kilometern sind es sechs Euro. Insgesamt gibt es elf Orte rund um Rosenheim, die die Rosi ansteuert. Das Konzept kommt ziemlich gut an: Die App, über die man das Shuttle bestellen kann, hat schon 3000 Stammkunden. Das Projekt wird vom Landkreis gefördert, die Deutsche Bahn ist beteiligt, die Angebote wie dieses im großen Stil fördern will, wie sie kürzlich angekündigt hat. Bis 2030 sollen rund 200 Millionen Fahrgäste im On-Demand-Verkehr transportiert werden, so das Vorhaben. In ersten Pilotprojekten sollen auch autonome Shuttleservices zum Einsatz kommen.

Auch in der Stadt lässt die Verkehrswende auf sich warten

Leere Busse, weite Wege - das sind Probleme, die eher auf dem Land zutreffen. In den Städten gibt es dagegen sehr viele, aber teilweise auch sehr volle Verkehrsmittel. Und es gibt auch sehr viele Autos. Durch die entstehen andere Probleme als auf dem Land: Staus, volle Straßen, Lärm, schlechte Luft. Zwar mag die Anbindung der Menschen in den Städten an den öffentlichen Nahverkehr deutlich besser sein, wie etwa ein Blick auf München zeigt. Wie in allen Großstädten in Deutschland sprechen die Werte des BBSR für eine sehr gute Versorgung: 99,8 Prozent haben hier einen guten Zugang zu den Öffentlichen.

Doch trotz aller Angebote nutzen viele Münchner am liebsten das Auto. Nach der jüngsten Studie „Mobilität in Deutschland“ werden in der bayerischen Hauptstadt 34 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt und nur 24 Prozent mit dem öffentlichen Nahverkehr. Es sind fast doppelt so viele Fahrten mit dem Auto wie mit dem Fahrrad. Kein Wunder, dass München gerade wieder zur Stauhauptstadt gekürt wurde.

Doch selbst in der staugeplagten bayerischen Landeshauptstadt ist man mit dem Auto auf vielen Strecken deutlich schneller unterwegs als mit den Öffentlichen. Berechnungen des Mobility Institute of Berlin (MIB) zeigen, dass sich in den deutschen Großstädten die Reisezeit durchschnittlich verdoppelt, wenn man mit Bus und Bahn statt mit dem Auto fährt. München steht mit dem Faktor 1,94 noch am besten da, Hamburg ist mit 2,24 Schlusslicht......

Grundsätzlich sieht man an allen Karten, die das MIB für die elf größten Städte in Deutschland erstellt hat: Vor allem wer nah am Schienenverkehr wohnt, hat mit den Öffentlichen eine gute Alternative zum Auto. Laut Studien ist die eineinhalbfache Reisezeit übrigens die magische Grenze. Wer länger mit den Öffentlichen braucht, fährt dann doch lieber mit dem Auto.

Hier könnte eine gänzlich CO₂-neutrale Alternative zum Auto ein guter Ausweg sein: das Fahrrad. Zahlen, wie gut das Fahrrad im Vergleich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto abschneiden würde, erhebt das MIB nicht. Doch Studien zeigen, dass man gerade im städtischen Umfeld mit dem Fahrrad auf kurzen Strecken schneller unterwegs ist als mit dem Auto oder dem Bus.

Autonome Shuttles könnten die Lösung für staugeplagte Großstädte sein

Eine Stadt, die sich schon lange mit Auswegen aus dem Verkehrsdilemma beschäftigt, ist Hamburg. Auch hier zeigen die Werte des BBRS mit 99,1 Prozent eigentlich eine sehr gute Versorgung mit Öffentlichen. Aber auch in Hamburg kommen auf 1,8 Millionen Einwohner noch immer mehr als 800 000 Autos. Henrik Falk ist Chef der Hamburger Hochbahn. Er hat durchaus Verständnis dafür, dass für die meisten Menschen in der Stadt der Besitz eines eigenen Autos wichtig ist. „Ich kann mit einem verbesserten ÖPNV einiges erreichen“, sagt Falk. „Aber ich werde damit niemals 100 Prozent aller Lebenssituationen abdecken können.“

Autonome Fahrzeuge, das ist für Falk das entscheidende Puzzleteil, um eine echte Verkehrswende zu schaffen. Hamburg ist eine der Großstädte, in der trotz zahlreicher Mobilitätsangebote die Zahl der Privat-Pkws seit Jahren weiter steigt. Autonome Shuttles in großer Zahl – das wäre hier der Durchbruch, glaubt Falk: „In verschiedenen Größen, immer verfügbar für jeden Bedarf. Und wenn ich privat sein will, kann ich es auch alleine mieten.“ Die Shuttles würden auch immer günstiger. „Es werden sich dazu Geschäftsmodelle entwickeln“, prophezeit er. Noch gibt es zwar nirgendwo auf der Welt solche Fahrzeuge ganz ohne Fahrer – außer in ein paar Pilotprojekten. Doch schon 2024, so hofft der Hochbahn-Chef, könnten die ersten in Hamburg fahren. Und dann müssten es eben schnell mehr werden: Falk sieht sie schon vor sich, Zehntausende Fahrzeuge in unterschiedlichen Größen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren.

Es gibt Menschen mit großen Hoffnungen für die Verkehrswende. Es gibt Ideen. Es gibt Projekte. Sie alle brauchen vor allem eins: viel Geld. Während die Politiker ihre Pläne schmieden, oft mit den Städten im Fokus, warten sie in Letschin noch auf den Bus. Oder stehen mit ihrem Auto im Stau in Berlin.

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