Süddeutsche Zeitung hier 2. November 2022,Interview von Markus Balser
Diesen Mittwoch entscheidet sich bei einem Bund-Länder-Gipfel, ob die Deutschen von Januar an wieder bundesweit billiger Bus und Bahn fahren können. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann spricht sich für das Ticket aus - aber nur, wenn die erhofften Milliardenhilfen kommen.
Endlich wieder einfach einsteigen? Seit Monaten verhandeln Bund und Länder über einen Nachfolger für das Ende August ausgelaufene bundesweite Neun-Euro-Nahverkehrsticket. Ob das neue 49-Euro-Ticket wirklich wie vorgesehen zum 1. Januar kommt, entscheidet sich, wenn an diesem Mittwochnachmittag die Ministerpräsidenten der Länder mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) über Finanzhilfen für die Länder beraten. Im Interview mit der SZ warnt Hermann: Wenn der Bund nicht zu hohen Milliardenhilfen bereit sei, müssten die Länder "leider Nein zum Ticket sagen".
SZ: Herr Hermann, ein Busticket zu kaufen ist vielerorts eine Wissenschaft für sich. Zone, A, B oder C? Liegt das Ziel noch in der dunkel- oder doch schon in der hellgrauen Wabe? Wann sind Sie zuletzt an einem Ticketautomaten verzweifelt?
Winfried Hermann: Die Automaten ärgern mich eigentlich immer. Ich bedaure wirklich alle, die sich durch Tarifsysteme kämpfen müssen. Aber zur Wahrheit gehört auch: Ich bin privilegiert. Ich habe eine Netzkarte und kann in Busse und Bahnen einfach einsteigen.
Die Deutschen wollen das nach Auslaufen des Neun-Euro-Tickets endlich auch wieder. Sie haben sich mit den anderen Verkehrsministern eigentlich auf ein bundesweites 49-Euro-Ticket ab Januar geeinigt. Doch das stockt wegen des Streits um die Nahverkehrsfinanzierung. Wie stehen die Chancen?
Um es klar zu sagen: Dieses bundesweite Ticket wäre ein großer Fortschritt. Wir Länder wollen das, denn das einfache Einsteigen ist ein Riesenfortschritt für den Nahverkehr. Bedingung aber ist eine solide Finanzierung des gesamten Nahverkehrs. Ohne die geht es nicht.
Die Ministerpräsidenten verhandeln am Mittwoch um mehr Geld mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Was fordern Sie zusätzlich?
Wegen der erheblichen Kostensteigerungen im ÖPNV schon vor dem Ukrainekrieg droht uns Ländern bis 2031 insgesamt ein Defizit von 30 Milliarden Euro im Nahverkehr. Hinzu kommen die rasanten Energiekostensteigerungen in diesem Jahr. Die Folge: Wir müssten Takte ausdünnen, Fahrten streichen und georderte neue Züge wieder abbestellen. Das kann es doch nicht sein. Um das zu verhindern, brauchen wir zwingend zusätzliche Mittel vom Bund. Die sogenannten Regionalisierungsmittel für den Nahverkehr müssen schon ab diesem Jahr dauerhaft um 1,5 Milliarden Euro steigen. Für die zusätzlichen, extremen Energiekostensteigerungen in diesem und dem nächsten Jahr - zusammen rund drei Milliarden Euro - muss die Nahverkehrsbranche Zugang zum Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit 200 Milliarden Euro bekommen. Das hat die Verkehrsministerkonferenz jüngst einstimmig beschlossen.
Was passiert, wenn dieses Geld nicht fließt? Wird das 49-Euro-Ticket dann gar nicht erst eingeführt?
Wenn der Bund die von den Ländern geforderte Erhöhung der Regionalisierungsmittel verweigert, müssen wir leider Nein zum Ticket sagen.
Wäre das nicht fahrlässig, angesichts der Beliebtheit des Neun-Euro-Tickets und des Ziels, mehr Deutsche zum Umstieg auf Busse und Bahnen zu bewegen?
Für uns Verkehrsminister ist klar: Wir wollen die Leute nicht betrügen mit einem billigen Angebot, und anschließend kommen die Züge nicht - oder nur noch sehr selten. Das würde doch zu Recht großen Frust auslösen.
Die Fronten waren lange verhärtet. Nun kommt etwas Bewegung in die Gespräche. Der Bund ist zur Zahlung von einer Milliarde Euro bereit. Rechnen Sie mit einer Einigung in letzter Minute?
Wir hatten die Einigung eigentlich schon beim letzten Treffen erwartet. Leider haben wir vernommen, dass der Bund die Länderforderung nicht ernst genommen hat. Nun liegen sie wieder auf dem Tisch. Wir erwarten, dass diesmal ernsthaft darüber verhandelt wird. Und ja: Wir hoffen auf Anerkennung der Finanzprobleme der Länder und auf eine Einigung.
Falls weitere Milliarden fließen: Wie realistisch ist der Starttermin des 49-Euro-Tickets im Januar überhaupt noch?
Dass ein Start am ersten Januar klappt, glaube ich persönlich nicht. Das ist kaum zu schaffen. Die Länder müssten das Ticket ja zur Hälfte finanzieren. Damit müssten sich deshalb noch im Dezember die Parlamente beschäftigen. Das wäre ein fast schon abenteuerlicher Zeitplan. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir so ein neues Ticket gut machen und dass alles klappt. Da müssen Automaten umgestellt, Tarifsysteme angepasst und Gremienbeschlüsse gefasst werden. Ein Start im März oder April wäre eher realistisch.
Die Regierung will die Passagierzahlen im Nahverkehr für mehr Klimaschutz bis 2030 verdoppeln. Wie realistisch ist das?
Für den Klimaschutz und die Verkehrswende ist das zwingend. Aber die Ziele zeigen auch, dass langfristig noch deutlich mehr Geld für den Nahverkehr aufgebracht werden muss.
Wir können die Passagierzahlen ja schlecht mit demselben Wagenmaterial oder der gleichen Zahl an Lokführern verdoppeln. Wir brauchen mehr Züge und mehr Personal. Ohne zusätzliche Regionalisierungsmittel können wir uns das abschminken. Die jetzt geforderten Mittel decken ja nur die zusätzlichen Kosten des heutigen Bestandsverkehrs ab. Für Klimaschutz und Verkehrswende müssen wir den öffentlichen Verkehr aber qualitativ und quantitativ erheblich ausbauen.
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