Donnerstag, 9. November 2023

Jenseits aller Vernunft

Tagesanbruch bei t-online hier  Camilla Kohrs  Aktualisiert am 09.11.2023

MEINUNG

Erinnern Sie sich noch an das Tempolimit? Vor allem im Sommer, zur besten Reisezeit, wurde es in Deutschland hoch und runter diskutiert, SPD und Grüne waren dafür, FDP aber dagegen. Nun sind die Sommerferien lange vorbei, und die Ampelkoalition hat es offenbar als einen weiteren unlösbaren Fall zu den Akten gelegt.

Nun könnte ausgerechnet Sahra Wagenknecht neuen Schwung in die Debatte gebracht haben. Gezwungenermaßen, muss man dazu sagen, denn eigentlich war es ARD-Moderatorin Sandra Maischberger, die die Ex-Linken-Politikerin am Dienstagabend darauf festnagelte. Maischberger befragte in ihrer Talksendung Wagenknecht, die ja bekanntlich eine neue Partei gründen möchte, unter anderem zum Tempolimit. So recht Lust hatte Wagenknecht nicht, sich festzulegen, ließ sich aber schließlich zu einem "Ich denke, 130 kann man vertreten" hinreißen.

Nun kann ich das Zögern verstehen, einerseits. Schließlich wird kaum eine Debatte so leidenschaftlich und unversöhnlich geführt wie diese. "Spaßbremsen", "Neider", "Moralapostel" werfen die Verfechter der limitfreien Fahrt den Befürwortern des Tempolimits an den Kopf – alles Eigenschaften, die in Deutschland zwar recht weit verbreitet sind, aber niemand gern auf sich bezieht. Die Argumente beider Positionen hat mein Kollege Markus Abrahamczyk übrigens hier für Sie zusammengefasst.

Der Slogan "Freie Fahrt für freie Bürger" hat sich tief in die deutsche DNA eingebrannt – und findet auch über die Grenzen hinaus ihre Anhänger. Als ich eine Zeit lang in Frankreich lebte, lernte ich Menschen kennen, deren liebstes Hobby es war, sich schnelle Autos zu mieten und durch Deutschland zu brettern. Auch ich war lange unentschieden, denn, das gebe ich gern zu, schnell fahren macht mir tatsächlich Spaß. Doch jetzt kommt das Aber.

Ein Hauptargument gegen das Tempolimit ist die Vernunft des Menschen: Jeder fährt nur dann schnell, wenn es geht, wenn er niemanden gefährdet. Der Gesetzgeber braucht es nicht zu regeln, der Verkehr regelt sich selbst. Nun besitze ich seit einem Jahr selbst ein Auto, war viel auf Autobahnen unterwegs und kann sagen: Das ist Wunschdenken. Fast nirgendwo bricht sich der Egoismus so sehr Bahn wie auf der linken Spur deutscher Autobahnen.

Drängeln, bei 160 Kilometern pro Stunde fast bis auf die Stoßstange auffahren, Platz schaffen mit Lichthupe im dichten Verkehr, all das ist auf Autobahnen gang und gäbe. Und spätestens an dieser Stelle hat der Freiheitsbegriff ausgedient. Denn der gilt nur für diejenigen, die sich ein entsprechend PS-starkes Auto leisten können oder wollen. Für die anderen ist es ein Spießrutenlauf, bei dem jeder Überholvorgang zum Nervenkitzel wird. Dabei ist es auch egal, ob man sich selbst überhaupt auf die linke Spur traut. Zieht jemand mit mehr als 200 Sachen an einem vorbei, muss man in einem Kleinwagen das Lenkrad schon sehr fest umklammern.

Folgende Statistik möchte ich Ihnen an diesem Morgen noch zumuten: Fast ein Viertel der Unfälle mit Personenschaden, wie es im Polizeijargon heißt, gehen auf zu wenig Abstand zurück. Ja, ein Tempolimit würde das Problem nicht gänzlich lösen, schließlich lässt es sich auch bei 130 km/h gut drängeln. Die extrem hohen Geschwindigkeiten aber machen es ungleich gefährlicher. Und es gibt weitere gute Gründe, wie diese Studie zweier Ökonomen zeigt: weniger Unfälle, weniger Staus, weniger Schadstoffemissionen. Einschränkend sei aber gesagt, auch darauf weisen die Autoren hin: Die Datenlage insgesamt ist derzeit dürftig.

Sicher: Schnellfahrer sind nicht gleich Drängler, es gibt auch viele Vernünftige. Doch sind es leider viel zu viele, die eben keine Rücksicht nehmen. Davon zeugen auch Polizeimeldungen. Beispiel A8 bei Pforzheim im vergangenen März: Nach einer Abstandskontrolle drohte mehr als 40 Fahrern ein Fahrverbot, über 70 Anzeigen gingen raus. Spitzenreiter war ein Autofahrer, der bei 192 Kilometern pro Stunde auf 15 Meter auffuhr. Dabei beträgt selbst bei einer Vollbremsung der Bremsweg bei dieser Geschwindigkeit fast 200 Meter. Auf der A5 bei Frankfurt, einer besonders problematischen Strecke, erwischte die Polizei im Juli in nur einer Stunde mehr als 400 Drängler, 20 drohte danach ein Fahrverbot.

Kurz zusammengefasst: Die einen rasen, die anderen zittern. Und das macht die Frage nach dem Tempolimit auch zu einer nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Denn derzeit gilt auf vielen Strecken das Recht des Stärkeren. Zeit, das zu ändern.

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