Freitag, 5. Mai 2023

"Abwasser kann zwölf Millionen Menschen mit Wärme versorgen"

Ein interessanter Artikel über die Zukunft mit Abwasserwärme, der nicht nur in großen Städten umgesetzt werden kann, sondern auch bei uns. Selbst in Wohnblocks ist das möglich.

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Grüne Energie unter jeder Stadt 

Durch deutsche Kanalisationen fließen jedes Jahr etwa zehn Milliarden Kubikmeter Abwasser. Das meiste davon wird in Kläranlagen gereinigt und dann ungenutzt in die Natur zurückgegeben. Ein Fehler, meint Stephan von Bothmer von der Kanalbaufirma UHRIG. Denn Abwasser enthält Restwärme, die zum Heizen genutzt werden kann. Unter deutschen Füßen schlummert demnach grüne Wärme für bis zu zwölf Millionen Menschen - unsichtbar und günstig: "Unter Erneuerbaren ist Abwasserwärme vielleicht sogar die Nummer eins", erklärt der Kanalspezialist im "Klima-Labor" von ntv. Doch noch wissen viele Kanalnetzbetreiber nicht, auf welchem Schatz sie sitzen.

ntv.de: In Deutschland hat gerade die große Wärmewende begonnen. Viele Menschen scheinen damit nicht besonders glücklich zu sein. Was halten Sie als Heiz- und Energieexperte von den Plänen der Bundesregierung?

Stephan von Bothmer: Ich muss leider direkt widersprechen. Begonnen hat die Wärmewende noch nicht, wir stehen kurz davor. Sorge bereitet uns natürlich, dass die Debatte derzeit einen negativen Touch bekommt, denn wenn man sich die Situation sachlich anschaut, wissen wir seit 30 Jahren, dass wir auch im Wärmesektor aus fossilen Energien rausmüssen. De facto ist in den letzten drei Jahrzehnten in dem Sektor aber fast nichts passiert. Umso wichtiger wäre es, das Thema mit positiven Anreizen anzuschieben anstatt über Regeln und Verbote.

Welche positiven Ansätze wären das denn Ihrer Meinung nach?

Das ist einfach. Wir wollen den Bereich auf strombasierte Technologien umstellen. Das ist eine super Idee, genauso wie die Wärmepumpe. Denn die nutzt ein kleines bisschen Strom, um Energie, die umsonst vorhanden ist, in Wärme zu verwandeln. Dieser Strom muss aber günstiger werden. Dann gäbe es automatisch einen Anreiz, umzusteigen. Stattdessen kostet Strom fünfmal mehr als Gas. Dann sind die Vorteile schwieriger zu erkennen.

Aber fossile Brennstoffe wie Gas und Öl werden mittelfristig durch den Zertifikate-Handel doch auf jeden Fall immer teurer.

Das ist richtig, aber egal, wie er erzeugt wird, allein durch Abgaben und Umlagen startet der Strompreis direkt bei 15 oder 20 Cent pro Kilowattstunde. Das ist ein Wettbewerbsnachteil, weil die Stromerzeugung eigentlich sehr günstig ist. Wenn alle Energieträger gleichgestellt werden, löst sich das Problem von allein.

Sehen Sie noch andere sinnvolle Optionen? Die FDP fordert eine technologieoffene Debatte, die alle Heizmöglichkeiten berücksichtigt und nicht nur Wärmepumpen.

So wahnsinnig viel gibt es nicht. Man kann natürlich sagen, wir wollen nicht überall mit Strom heizen, sondern auch mit Wasserstoff. Aber der wird auch aus Strom hergestellt - nur leider nicht sonderlich effizient. Insofern ist Wasserstoff eine Option für die Industrie, aber nicht fürs Heizen. Das ist die Realität.

Ansonsten gibt es noch Bioenergie wie Holzpellets. Aber die müssen transportiert und gelagert werden. Als natürlicher Rohstoff ist Holz außerdem mit Unsicherheiten verbunden. Man kann Solarenergie benutzen in Form von Solarthermie, aber dafür braucht man neue Flächen. Die Wärmepumpe ist eine Möglichkeit, die der Idee folgt, verschiedene Energiequellen wie Boden, Luft, Wasser und Abwasser anzuzapfen, die umsonst da sind, und mit ein bisschen Strom nutzbar zu machen. Das ist das heutige Set, mit dem man arbeiten muss. Wenn wir weiter Ölheizungen und Gasheizungen mit einer Lebenszeit von 20 bis 30 Jahren einbauen, werden wir 2045 nicht klimaneutral sein.

Dann geht die Gesetzesvorlage der Bundesregierung doch in die richtige Richtung.

Die Pläne stoßen eine wichtige Debatte an, wie die Frage: Wie kann man die Wärmewende sozialverträglich gestalten? Aber der Vorschlag lässt ein paar Themen außer Acht, denn momentan scheint es nur um die Frage zu gehen, wie einzelne Personen die neue Heizung bezahlen können. In großen Städten gibt es aber viele große Gebäude mit sehr vielen Wohnungen, in denen dieser Fall gar nicht eintreten wird. Dafür brauchen wir andere Lösungen und Energiequellen wie Abwasser.

Ihr Spezialgebiet.

Richtig. Das Spannende am Abwasser ist, dass es da ist, wo die Menschen sind: vor allem in städtischen Gebieten mit wenig Platz, um Energie zu erzeugen. Je mehr Gebäude man an dieses Wärmenetz anschließt, desto weiter weg bewegen wir uns von der Verbotsdebatte.

Wir haben schon einmal mit den Berliner Wasserbetrieben über das Thema gesprochen. Das Fazit war damals: Abwasserwärme ist eine tolle, aber leider auch sehr teure Idee, mit der man lediglich drei bis fünf Prozent der Wärmemenge, die in Berlin zum Heizen benötigt wird, bereitstellen kann. In anderen deutschen Städten ist die Lage noch komplizierter. Sie dagegen sagen, dass Abwasser bis zu 15 Prozent des Wärmebedarfs im deutschen Gebäudesektor abdecken könnte. Wie kommen diese Unterschiede zustande?

Für die Angaben sind unterschiedliche Perspektiven verantwortlich. Für uns als Anlagenbauer kann ich sagen, dass wir gegen den Trend schon 120 Projekte in Europa realisiert haben. Davon befinden sich 70 oder 80 in Deutschland, die meisten außerhalb von Berlin (9). 11 haben wir in Paris realisiert. Wir wissen also, dass das Potenzial an unterschiedlichen Orten vorhanden ist. Mehrere Studien ordnen es bei 5 bis 15 Prozent des Wärmebedarfs ein. Aber wir wollen gar nicht über einzelne Prozente streiten, sondern die Möglichkeiten gerne mit etwas Euphorie bekannter machen.

Sehr gerne.

Ganz konkret könnten wir über unser Abwasser vier bis zwölf Millionen Menschen mit grüner Wärme versorgen, es gibt in jeder Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern interessante Kanäle. Und weil Gebäude in Zukunft energieeffizienter sein werden, wird der Wärmemarkt schrumpfen. Um wie viel, ist offen. Das heißt aber, dass der prozentuale Anteil von Abwasser als Wärmequelle steigen wird.

Auf Deutschland. Hierzulande sind 600.000 Kilometer Kanäle verbaut - wir reden von riesigen, unsichtbaren Netzen unter jeder Stadt. Das ist genau das, was man sich für die Energiewende wünscht. Zum Beispiel beziffert der Londoner Kanalnetzbetreiber Thames Water sein Potenzial auf zehn Terawattstunden (TWh) im Jahr. Das ist dieselbe Wärmemenge, die die Bundesregierung bis 2030 deutschlandweit aus der Geothermie ziehen will - ein erhebliches Ziel nur für eine Stadt, denn London will das komplette Potenzial heben.

In der Studie wird noch ein anderer Vergleich gezogen: Zehn TWh wären 40 Prozent der Energie, die Hinkley Point C in Großbritannien eines Tages liefern soll. Das Potenzial entspricht also einem halben modernen Atomkraftwerk mit einer Leistung von 1,6 Gigawatt, falls das irgendwann doch noch fertig wird. Jetzt bleibt nur noch die Frage: Wie kommen wir an die Energie in unserem Abwasser?

Man nutzt das physikalische Prinzip der Wärmeübertragung: Im Kanal fließt zuverlässig warmes Abwasser. Dieses warme Abwasser fließt über Wärmetauscher, die direkt in die Infrastruktur eingebaut werden und in denen sich kaltes Wasser befindet. Dieses kalte Wasser wird erwärmt. Wenn man eine Wärmepumpe damit füttert, kann man es zum Heizen verwenden. Das funktioniert in Berlin genauso gut, wie in London oder New York, weil alle Kanäle ähnlich aufgebaut sind. Das ist auch technologisch nicht schwierig, unsere älteste Anlage ist bereits seit 15 Jahren in Betrieb. Entscheidend ist, dass man die richtigen Player zusammenbringt, denn wie bei allen Innovationen müssen Menschen zusammenarbeiten, die es vorher nicht getan haben.

Kanalnetzbetreiber wie die Berliner Wasserbetriebe zum Beispiel, denn die besitzen den Schlüssel zur Energiequelle. Wenn sie den rausrücken, ist ein großer Schritt getan. In Berlin ist das der Fall, das ist toll. Dann muss die entsprechende Technologie verbaut werden, das können wir liefern. Und es braucht einen Dritten, der das Ganze finanziert und betreibt. Das ist wichtig, denn die Umsetzung kostet Geld. Wenn Sie dieses Geld gerade nicht haben, springt der Dritte ein, kauft die Anlage für Sie oder Ihr Gebäude, betreibt sie und verkauft Ihnen die Wärme pro Monat zum fixen Preis. Sie müssen nur noch Ihre Rechnung bezahlen. Nach 15 Jahren ist die Anlage bezahlt und kann noch Jahrzehnte weiterlaufen.

Ist das denn ein lohnendes Geschäft?

Ja, unter erneuerbaren Wärmequellen ist Abwasserwärme konkurrenzfähig, vielleicht sogar die Nummer eins. Ich möchte auch die 15 Jahre noch mal einordnen: Natürlich können Sie sagen, dass Sie lange an einen Anbieter gebunden oder sogar geknebelt sind. Sie haben aber auch für 15 Jahre Sicherheit und wissen, zu welchem Preis die Wohnung im Winter warm wird. Das gibt es bei keinem Gasvertrag mehr, weil niemand weiß, wie sich die Preise entwickeln. Abwasser ist also ein sehr zuverlässiges und stabiles Modell, mit demselben Dilemma wie alle anderen erneuerbaren Energiequellen: Der Treibstoff ist kostenfrei, aber wenn ich ihn haben will, muss ich am Anfang hohe Investitionen leisten. Aber das Gute ist, dass Dritte bereitstehen, um diese Investitionen zu übernehmen.

Und Abwasser kann tatsächlich genügend Energie produzieren, um ganze Gebäude zu heizen?

Es gibt in jeder Stadt Hotspots, an denen besonders viel Abwasser fließt und Stellen, wo es weniger ist. Deswegen versorgen manche Projekte gesamte Gebäude mit Wärme; in anderen Fällen kann das Abwasser nur 30 Prozent abdecken, die übrige Energie stammt aus anderen Quellen. Das wird die Zukunft sein. Deswegen plädieren wir dafür, dass die Städte ihre Hotspots definieren. Dann können wir hingehen, eine fertige Lösung anbieten und für die umliegenden Gebäude ein Angebot machen. So schaffen wir vielleicht mehr als 20 oder 30 Projekte im Jahr. Die sind toll, aber in dem Tempo bräuchten wir in Deutschland etwa 8000 bis 10.000 Jahre, um das Potenzial zu erschließen. Das passt nicht ganz zum Plan, in den nächsten 20 Jahren 42 Millionen Wohneinheiten auf grünes Heizen umzustellen.

Also brauchen Sie eigentlich weitere Mitbewerber, oder?

Wir können selbst relativ viele Anlagen bauen. Durch unsere eigene Produktion haben wir unsere Kapazitäten um das 35-Fache erhöht. Trotzdem werden wir nie den Weltmarkt bedienen können, das ist klar. Viel wichtiger sind aber Kanalnetzbetreiber, die Lust auf das Thema haben. Das ist nämlich auch ein tolles Zusatzgeschäft, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Aber dafür müssen wir ins Gespräch kommen: Die Abwasserwirtschaft sitzt auf der Quelle, die Energiewirtschaft kann sie gebrauchen, die Technologien sind da - jetzt müssen wir das alles nur noch zusammenknoten.


Mit Stephan von Bothmer sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet worden.

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