Sonntag, 5. November 2023

Gesellschaftlicher Wandel: Das machen wir jetzt!


Das wäre schön, wenn sich auch bei uns endlich etwas bewegen ließe.
"Da geht mehr als Politikgezänk" - jawohl, da bin ich vollkommen dabei.

Ich jedenfalls hatte noch nie vom Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation gehört. Das war vor 12 Jahren - also 2011?  War nur ich so unwissend? War die Zeit noch nicht reif?
Im Prinzip liegen lauter gute Ideen in den Politik-Schubladen, man müsste sie nur rausholen.



Zeit hier Von Niels Boeing  4. November 2023

Gesellschaften sind zu träge für Transformation? Von wegen. Drei Gegenbeispiele, die Mut machen

Vor zwölf Jahren schrieben neun Professorinnen und Professoren auf, wie man Deutschland zu einem klimaneutralen, postfossilen Staat umbauen könnte. Es waren nicht irgendwelche Experten, sondern sie bildeten den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), geleitet vom Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. 

Das Vorhaben war sehr ambitioniert, sie nannten ihr Gutachten Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. 448 Seiten dick, mit großem Tamtam an Bundesumweltminister und Bundesforschungsministerin übergeben, Kurzfassung auf Englisch und Chinesisch. Sogar als Comic wurde das Werk herausgegeben, nun mit dem neuen Untertitel "Klima: Kriegen wir die Kurve?".

Der Name des Gutachtens spielt auf The Great Transformation an, ein Buch des Soziologen Karl Polanyi aus dem Jahr 1944 über die sozialen und politischen Verwerfungen in Folge der industriellen Revolution. Nun also die Transformation zur postfossilen Gesellschaft. Die Herausforderung, schreibt der WBGU, sei "hinsichtlich der Eingriffstiefe vergleichbar mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolithischen Revolution, also der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht, sowie der Industriellen Revolution". Puh! Eine Nummer kleiner ging es wohl nicht.

Das war also vor zwölf Jahren. Es folgten Euro-Krise, Geflüchtete, Pandemie, Krieg in Europa, Inflation, Heizungsgesetz. Irgendwie drängt sich der Eindruck auf, wir kriegen die Kurve eher nicht. Gesellschaften mit Millionen von Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, existenzielle Probleme so anzugehen, dass alle beflügelt nach vorne blicken. Oder? 

Tatsächlich zeigt die Geschichte: Manchmal ziehen Gesellschaften etwas durch. Alle ziehen am selben Strang – und verändern zusammen etwas Großes. Drei Beispiele.

Victory Gardens, USA: Gärtnern für das große Ganze

Dezember 1941. Der Krieg, der in Europa, Ostasien und Nordafrika tobt, fühlt sich von den USA aus noch weit entfernt an. Am 7. Dezember jedoch bombardiert die japanische Luftwaffe den Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. Drei Tage später befinden sich die Vereinigten Staat im Krieg mit Japan und Nazi-Deutschland. Sofort ist klar, dass dieser Krieg alle Ressourcen der Wirtschaft fordern wird. Gebraucht werden Waffen und Lebensmittel für Millionen von Soldaten, die schon bald in aller Welt kämpfen werden.

Am 19. Dezember lädt die Regierung Gartenbau-Experten, Unternehmer, Journalisten und Behörden zur Defense Gardening Conference nach Washington. Es ist der Beginn des National Victory Garden Program, der "Siegesgärten". Wer nicht in Rüstungsbetrieben oder beim Militär arbeitet, soll Hacke und Schaufel in die Hand nehmen und nebenbei Gemüse anbauen. Je mehr die Bürger selber anbauen, so die Idee, desto mehr Verpflegung können die Lebensmittelhersteller für das Militär produzieren. Außerdem werden Bahntrassen für den Transport von Kriegsgerät frei.

Die Amerikanerinnen und Amerikaner folgen dem Ruf: Ob auf dem Land oder in den Städten, überall graben sie Rasenflächen, Parks und unbebaute Grundstücke um, pflanzen Kohl, Bohnen, Zwiebeln, Kartoffeln an. Zeitschriften und Bücher informieren die Bürger über Anbaumethoden, veröffentlichen Tabellen mit Beetgrößen, Wachstums- und Erntezeiten. Ein Jahr später gibt es in den Städten bereits zehn Millionen Familien- und Nachbarschaftsgärten, fünf Millionen weitere sind auf Bauernhöfen angelegt worden. Zusammen produzieren sie 7,5 Milliarden Kilogramm Nahrungsmittel. Gärtnern ist Volkssport.

Im Golden Gate Park in San Francisco wird genauso geackert und geerntet wie im Garten des Weißen Hauses, den die First Lady Eleonore Roosevelt selbst zum Siegesgarten erklärt hat. Auch die Industrie beteiligt sich. Der Reifenhersteller Firestone pachtet 150 Hektar Gartenflächen, auf denen 2500 Angestellte ihr Gemüse anbauen können. Ende 1944, kurz vor Kriegsende, stammen über 40 Prozent allen Gemüses, das innerhalb der USA auf den Tisch kommt, aus den Victory Gardens.

Anders als bei den "Kriegsgärten" gegen Ende des Ersten Weltkriegs geht es nicht darum, für die hungernden Verbündeten in Europa Nahrungsmittel zu spenden. Das Motto der Victory Gardens lautet: produce, conserve, play square, share – produzieren, konservieren, ehrlich sein und teilen. Marvin Jones, War Food Administrator, sagt 1944: 

"Der Kontakt mit der Erde, mit Dingen, die wachsen,
ist gut für uns alle, erst recht in Zeiten wie diesen."

Nach dem Krieg ließ die Lust am Gärtnern zwar rasch nach, die neue amerikanische Konsumgesellschaft setzte andere Prioritäten. Doch die Erinnerung an die Victory Gardens blieb in vielen Familien lebendig. Die Landschaftsarchitektin Laura Lawson zieht eine direkte Linie zum Boom der Gemeinschaftsgärten in den vergangenen Jahren, zum Urban Gardening. 

Die Herausforderung für eine neue Gartenkultur heute liege darin,
 "einen Sinn für Beständigkeit zu vermitteln,
der nicht nur in Krisen-, sondern auch in Friedenszeiten trägt".

Dass die globalisierte Lebensmittelversorgung zumindest in den westlichen Industrieländern nicht nachhaltig ist, hat sich allmählich herumgesprochen. Die Victory Gardens von einst zeigen, dass schon in kurzer Zeit eine lokale, gemeinschaftliche Produktion hochgefahren werden könnte. Gerade auch in Städten.

Citizens’ Assembly, Irland: Bürger mit politischer Weitsicht

Nicht immer muss ein Krieg der Auslöser des Wandels sein. Manchmal ist es ein Unbehagen, das sich zugespitzt hat, weil überkommene Regeln mit dem Alltagsleben gar nicht mehr vereinbar sind. So wie in Irland in den 2010er-Jahren.

Noch vor einem halben Jahrhundert war die Inselrepublik eine landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft, tief durchdrungen von einem strengen Katholizismus, der auf dem europäischen Festland da schon als altmodisch galt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war in Irland eines der niedrigsten in Westeuropa, nur Spanien, Griechenland und Portugal erwirtschafteten weniger. 1983 wurde das Abtreibungsverbot in der Verfassung verankert. Eine heimliche Abtreibung konnte mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft werden. Viele Frauen, die ungewollt schwanger waren, reisten nach Großbritannien, um abzutreiben.

Doch Irland wandelte sich. Vor allem amerikanische IT-Konzerne eröffneten ihre europäischen Niederlassungen in Irland. Das Land war nun der "Keltische Tiger", globalisiert und digitalisiert, auf dem Sprung in die Moderne. Die junge Generation, die nun häufiger studierte und in internationalen Unternehmen arbeitete, wurde zunehmend kosmopolitisch.

Am 28. Oktober 2012 starb die 31-jährige Savita Halappanavar in Galway nach einer Fehlgeburt, weil ihr die Ärzte im örtlichen Krankenhaus eine Abtreibung verweigert hatten. Sie war in der 17. Woche schwanger gewesen. Ein Aufschrei ging durchs Land. Die Politik traute sich dennoch nicht, die Abtreibungsgesetze zu ändern. Im Frühjahr 2016 – das BIP pro Kopf betrug da schon das Eineinhalbfache von dem Deutschlands – geschah dann etwas, das kein anderes EU-Land ausprobiert hatte. Um sich eine fehlende Stimme im Parlament zu sichern, willigte die neu gewählte Minderheitsregierung des konservativen Premiers Enda Kenny in ein Experiment ein: Eine Citizens’ Assembly, eine Bürgerversammlung, sollte einberufen werden, um über das Abtreibungsverbot zu beraten.

Im Sommer 2016 wurden 99 Bürgerinnen und Bürger repräsentativ ausgewählt. Im November trat die Versammlung erstmals zusammen. Sie hörte über Wochen Expertinnen, Interessengruppen, Betroffene an und sortierte die Argumente. Im April 2017 empfahl sie in ihrem Abschlussbericht, den 8. Verfassungszusatz von 1983 zu streichen und Abtreibungen damit zu legalisieren. Im katholisch geprägten Irland kam das einem politischen Erdbeben gleich. Parlament und Regierung standen zu ihrem Wort. Eine Parlamentskommission empfahl schließlich ein Referendum.

Sofort begannen Abtreibungsgegner, massiv finanziert von evangelikalen Organisationen in den USA, mit einer Kampagne gegen die Empfehlung der Citizens’ Assembly. Die Irinnen und Iren ließen sich nicht davon beeindrucken: Am 25. Mai 2018 kippten sie mit einer Mehrheit von 66 Prozent das Abtreibungsverbot.

Dass ausgerechnet in Irland erstmals in der EU erfolgreich eine Form der sogenannten deliberativen Demokratie angewendet wurde, ist kein Zufall. Bereits 2011 hatten Politikwissenschaftler um David Farrell und Jane Suiter als Experiment eine Versammlung mit dem Namen "We the Citizens" organisiert. Irland plagte sich damals mit den Folgen des Finanzcrashs von 2008 herum, die Arbeitslosigkeit war hoch. Für Farrell und Suiter war klar: "Politiker müssen bereit sein, den Bürgern zuzuhören, und daran glauben, dass man den Entscheidungen des Volkes trauen kann." Auch wenn es damals nur ein Testlauf war: Die Bürger von "We the Citizens" begriffen sofort, was für ein Potenzial in dieser Form von deliberativer Demokratie steckte. "I know I had a vote, but didn’t feel I had a voice", sagte eine Teilnehmerin über die Versammlung.

2014 wagte sich Irland an einen Verfassungskonvent, in dem neben Parteien erstmals auch Bürger saßen. Die Arbeit des Konvents mündete in ein Referendum: Im Mai 2015 sprachen sich die Irinnen und Iren für die gleichgeschlechtliche Ehe aus. Damit war der Boden für die Citizens’ Assembly bereitet. Inzwischen ist sie eine feste Institution in der irischen Politik. Die vierte Versammlung – die Bürger werden jedes Mal neu ausgewählt – berät derzeit über eine zeitgemäße Drogenpolitik.

Natürlich sind immer wieder Bedenken zu hören, eine deliberative Demokratie lege wichtige Entscheidungen in die Hände von schlecht informierten Bürgern. Wissenschaftler der University of Dublin, die die Citizens’ Assembly begleitet und ausgewertet haben, widersprechen:

 "Wenn Bürger in dieser Art einbezogen und informiert wurden,
ließen sie Eigeninteressen hinter sich,
um kollektive Entscheidungen für das Allgemeinwohl zu treffen." 

Die Bundesregierung, die demnächst zum ersten Mal eine solche Versammlung einberufen will, sollte den Bürgern vertrauen – sie sind nicht leichtfertig, wie die Iren gezeigt haben.

Nord- und Ostsyrien – Frauen für die Demokratie

Dass die Iren im Frieden ihre Demokratie erneuert und zugleich die Frauenrechte gestärkt haben, ist eine enorme Leistung. Einer anderen Region gelang dies, obwohl oder vielleicht auch weil 2011 ein Krieg über sie hereinbrach: Nord- und Ostsyrien, auf Kurdisch Rojava genannt. Sie hat die bislang radikalste Erneuerung geschafft und trotzt damit Bombardements, Blockaden und Verschleppungen.

Lange wurde die Region vom syrischen Staat unterdrückt. 1962 erkannte die Regierung den Hunderttausenden Kurden, die dort lebten, die Staatsbürgerschaft ab. Sie waren fortan Staatenlose. Manche flohen in die Türkei, während das Regime Zigtausende arabische Syrer in ihrer Heimat ansiedelte. Der fruchtbare Landstrich westlich des Euphrats wurde zur Kornkammer ausgebaut. Die Bevölkerung konnte den eigenen Weizen jedoch mangels Getreidemühlen nicht selbst verarbeiten und musste teures Mehl aus Damaskus und anderen Städten importieren. Ebenso bei Öl und Benzin: Die Bodenschätze wurden ausgebeutet, aber die Raffinerien standen im Landesinneren. So blieb die Region abhängig – und arm. Von 2004 an folgte die nächste Welle der Unterdrückung: Journalisten, Dissidenten und Aktivisten wurden verhaftet und als kurdische Terroristen gebrandmarkt.

Das Assad-Regime dachte wohl, den rebellischen Geist erfolgreich eingedämmt zu haben. Es hatte sich verrechnet. Während viele Männer im Gefängnis saßen oder sich ins Privatleben zurückzogen, begannen vor allem Frauen, sich zu treffen. "Sie hatten sich sehr gut organisiert", sagt die Hamburger Ethnologin Anja Flach. "Sie bildeten sich weiter, hielten Versammlungen ab und machten Basisarbeit." Die Vision der Frauen: der demokratische Konföderalismus. Beschrieben hatte ihn zuvor Abdullah Öcalan, Chef der auch in Deutschland verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei, PKK. Öcalan hatte in seiner Gefängniszelle offenbar einen Sinneswandel vollzogen: Wahre Demokratie, schrieb er, sei nicht erreichbar, wenn nicht die Herrschaft der Männer über die Frauen überwunden werde. Patriarchal waren auch Nord- und Ostsyrien. Aber das sollte sich ändern.

Als die syrische Armee im Juli 2012 aus Nordsyrien abzog, begannen die im Untergrund organisierten Komitees sofort damit, Versammlungen einzuberufen und das Alltagsleben neu zu organisieren. Der demokratische Konföderalismus nahm Gestalt an, festgeschrieben in einem "Gesellschaftsvertrag". Kernstück ist nicht etwa ein Parlament nach westlichem Vorbild. Sondern auf allen Ebenen – Nachbarschaft, Bezirk, Kanton, Region – wird in Bürgerversammlungen beraten, welche Entscheidungen zu treffen sind. Die unteren Versammlungen schicken Delegierte, die jederzeit abberufen werden können, in die höher angesiedelten Versammlungen. Fachkomitees befassen sich mit Justiz, Bildung, Wirtschaft und anderen Themen. Jedes Gremium hat eine Doppelspitze: einen Mann und eine Frau. Außerdem müssen mindestens 40 Prozent Frauen vertreten sein.

Parallel dazu gibt es dieselben Versammlungen und Gremien noch einmal, aber ausschließlich mit Frauen besetzt und mit einem Vetorecht gegenüber ihrem gemischten Pendant. So soll verhindert werden, dass mit der Zeit machthungrige oder laute Männer doch wieder die Oberhand gewinnen.
Der Gesellschaftsvertrag hat Kindesheiraten, Vielehen, "Ehrenmorde" und andere Formen der Unterdrückung von Frauen geächtet und strafbar gemacht. Zugleich wurde in dem Vertrag verankert, dass alle Ethnien, Sprachen und Religionen gleichberechtigt sind: arabische, kurdische und turkmenische Muslime, Aramäisch sprechende assyrische Christen, kurdischsprachige Jesiden, armenische Christen.

In Rojava entsteht der Gegenentwurf zu den autoritären, vom traditionellen Islam geprägten Staaten

Es sind vor allem Frauen, die seit 2012 die lokale Wirtschaft wieder in Gang gebracht haben, so gut das unter Kriegsbedingungen geht. Sie haben Kooperativen gegründet, um Ackerland zu bestellen, Brot und Lebensmittel zu produzieren, Kleidung zu nähen oder Bildungseinrichtungen zu betreiben. Frauen stellen auch eigene Polizeieinheiten ebenso wie militärische Kompanien, die entscheidend mitgeholfen haben, den "Islamischen Staat" aus Nord- und Ostsyrien zu vertreiben.

Dass diese Umwälzung den umliegenden Staaten ein Dorn im Auge ist, verwundert nicht. Sie ist der Gegenentwurf zu den autoritären, vom traditionellen Islam geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens. Doch auch westliche Medien blieben an der Oberfläche hängen. Sie verloren sich in immer gleichen Schilderungen von bewaffneten Frauen, die sich vor dem Gefecht tatsächlich Lippenstift auflegten. Dabei ist diese Allianz von Demokratie und Feminismus bislang das radikalste Gesellschaftsexperiment des 21. Jahrhunderts.


Gesellschaften können über sich hinauswachsen, wenn die passenden Umstände zusammenkommen. Gerade angesichts der sozial-ökologischen Transformation, die uns aus dem fossilen Zeitalter herausführen soll, zeigen die Beispiele: Die Vergangenheit ist kein Korsett, das sich nicht aufschnüren lässt. Die Transformation mag im Kleinen anfangen, aber gelingen wird sie nur, wenn eine ganze Gesellschaft sich einen Ruck gibt. Man möchte hoffen, dass diese Beispiele weltweit mutige Nachahmer finden, die sagen: Wir ziehen das jetzt durch. Gemeinsam. Als Gesellschaft. 


Niels Boeing verfolgt Experimente partizipativer Demokratie seit Jahren. Er wünscht sich den Spirit aus den drei Beispielen auch für die deutsche Gesellschaft. Da geht mehr als Politgezänk.


hier von 2012

Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Die Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft erfordert einen modernen Orientierungsrahmen für ein „gutes Zusammenleben“ von bald neun Milliarden Menschen mit sich und der Natur - einen neuen „Contrat Social“. 

Ein solcher, weitgehend virtueller Gesellschaftsvertrag beruht nicht zuletzt auf dem Selbstverständnis jedes Einzelnen als verantwortungsbewusstem Erdenbürger. Dieser Kontrakt wird auch zwischen Generationen geschlossen.

Herausforderung Klimaverträglichkeit

Bei der Transformation zur Nachhaltigkeit kommt dem Klimaschutz eine besondere Bedeutung zu, denn er ist eine conditio sine qua non für nachhaltige Entwicklung: Klimaschutz allein kann zwar den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschheit nicht sichern, aber ohne wirksamen Klimaschutz entfallen absehbar essentielle Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit.

Klimaschutz in drei zentralen Transformationsfeldern

Der Übergang zur Klimaverträglichkeit im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung betrifft vor allem die folgenden drei Hauptpfeiler der heutigen Weltgesellschaft, an denen die Politik zur Transformation ansetzen sollte: Erstens, die Energiesysteme unter Einschluss des Verkehrssektors, von denen die gesamte Wirtschaft abhängt und die derzeit wegen der hohen Entwicklungsdynamik der Schwellenländer vor einem neuen Wachstumsschub stehen. Der Energiesektor verursacht derzeit etwa zwei Drittel der Emissionen langlebiger Treibhausgase. 

Zweitens, die urbanen Räume, die derzeit für drei Viertel der globalen Endenergienachfrage verantwortlich sind und deren Bevölkerung sich bis 2050 auf 6 Mrd. verdoppeln wird.

Drittens, die Landnutzungssysteme (der Land- und Forstwirtschaft einschließlich der Waldrodungen), aus denen derzeit knapp ein Viertel der globalen Treibhausgasemissionen stammen. Die Landnutzung muss nicht nur die Ernährung für eine weiter wachsende und anspruchsvoller werdende Weltbevölkerung sichern, sondern auch Nachfragesteigerungen wegen der zunehmenden Nutzung von Bioenergie und biobasierten Rohstoffen decken.

Transformationskonzept und Umsetzungsstrategie

Die bisherigen großen Transformationen der Menschheit waren weitgehend ungesteuerte Ergebnisse evolutionären Wandels. Die historisch einmalige Herausforderung bei der nun anstehenden Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft besteht darin, einen umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht voranzutreiben.

Transformationsverständnis des WBGU

Der WBGU begreift den nachhaltigen weltweiten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft als „Große Transformation“. Auf den genannten zentralen Transformationsfeldern müssen Produktion, Konsummuster und Lebensstile so verändert werden, dass die globalen Treibhausgasemissionen im Verlauf der kommenden Dekaden auf ein absolutes Minimum sinken und klimaverträgliche Gesellschaften entstehen können. Das Ausmaß des vor uns liegenden Übergangs ist kaum zu überschätzen. Er ist hinsichtlich der Eingriffstiefe vergleichbar mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolithischen Revolution, also der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht, sowie der Industriellen Revolution, die von Karl Polanyi (1944) als „Great Transformation“ beschrieben wurde und den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft beschreibt.

Topographie der Transformation

Um vom Status quo zu einer klimaverträglichen Weltgesellschaft (vollständige Dekarbonisierung) zu gelangen, sind zunächst Hürden zu überwinden, die als ein Anstieg der gesellschaftlichen Kosten dargestellt sind. Dieser Anstieg wird derzeit durch Blockaden (rot) verstärkt: Die gesellschaftlichen Kosten des derzeitigen Zustands stellen sich geringer dar als angemessen, etwa durch Fehlanreize wie Subventionen fossiler Energieträger oder nicht einberechnete Umweltkosten. Gleichzeitig erscheinen die erforderlichen gesellschaftlichen Kosten des Umbaus höher zu sein als sie tatsächlich sind: Zwar erfordern verschiedene blockierende Faktoren hohe Anstrengungen, etwa die kostenintensive Überwindung von Pfadabhängigkeiten. Dem stehen jedoch begünstigende Faktoren gegenüber: Viele Technologien für die Transformation sind bereits vorhanden und ihr Einsatz ist finanzierbar. Mit Hilfe der begünstigenden Faktoren können die Hürden abgesenkt und so der Weg für die Transformation geebnet werden. Sind die entscheidenden Hürden einmal genommen, ist eine große Eigendynamik in Richtung Klimaverträglichkeit zu erwarten. Quelle: WBGU

Zeitliche Dynamik und Handlungsebenen der Transformation.

Zeitliche Dynamik und Handlungsebenen der Transformation. Ziel der Transformation ist der Übergang in eine klimaverträgliche Gesellschaft. Kernstück der Transformation ist die Dekarbonisierung der Energiesysteme. Links: Der gestaltende Staat und die Pioniere des Wandels sind die zentralen Akteure. Bei den Pionieren des Wandels geht es darum, die Nische zu verlassen und ihre Breitenwirksamkeit durch gesellschaftliche Routinierung zu erhöhen. Rechts: Für die Transformation müssen die entscheidenden Weichen innerhalb der nächsten zehn Jahre gestellt werden, damit der Umbau in den nächsten 30 Jahren gelingen kann. Der nachhaltige Pfad (grün) schafft rechtzeitig den Übergang von der fossilen zur klimaverträglichen Gesellschaft. Durch eine Überkompensation von Dekarbonisierungsfortschritten (z. B. durch Rebound-Effekte) können Klimaschutzmaßnahmen wirkungslos werden, so dass die Transformation scheitert (gelb). Werden nur schwache Anstrengungen unternommen, drohen Pfadabhängigkeiten, die zu einer globalen Klimakrise führen (rot). Quelle: WBGU modifziert nach Grin et al., 2010

Die Dekarbonisierung der Energiesysteme ist machbar

Der wichtigste Ansatzpunkt für die Transformation zur Nachhaltigkeit ist die Reduktion der CO₂-Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger. Neben der Dekarbonisierung ist das zweite große Ziel eines Umbaus der Energiesysteme, die weltweite Energiearmut zu überwinden.

Handlungs- und Forschungsempfehlungen

Der Ausstoß von Treibhausgasen erfolgt überwiegend durch die Energiewirtschaft und die Landnutzung, wobei die dramatische globale Urbanisierung eine entscheidende Rolle spielt. Damit sind drei zentrale Transformationsfelder benannt, wo Strategien zur Senkung von Emissionen schnell und umfassend greifen müssen. In diesem Zusammenhang empfiehlt der WBGU detailliert beschriebene Maßnahmenbündel, die besonders für die Beschleunigung und Verbreiterung des Übergangs zur Nachhaltigkeit geeignet sind.

Zehn Maßnahmenbündel mit großer strategischer Hebelwirkung

Um eine Dekarbonisierung weltweit voranzutreiben, sollte der Staat seine Rolle als Gestalter bewusst wahrnehmen. Dies ist jedoch nur zu legitimieren, wenn gleichzeitig den Bürgerinnen und Bürgern bessere Partizipationsmöglichkeiten eingeräumt werden.

Das Treibhausgas CO₂ sollte möglichst rasch und global mit einem angemessenen Preis belegt werden.

Eine europäische Energiepolitik, die auf eine vollständige Klimaverträglichkeit des Energiesystems bis spätestens 2050 zielt, sollte schleunigst entwickelt und umgesetzt werden. Sie muss Partnerschaften mit Nordafrika gezielt fördern.

Einspeisevergütungen für erneuerbare Energien sollten weltweit eingeführt werden.

Entwicklungspolitik sollte insbesondere darauf zielen, dass die 2,5 bis 3 Mrd. Menschen, die heute in Energiearmut leben, Zugang zu nachhaltigen Energien bekommen.

Große Anstrengungen sollten unternommen werden, um die sich beschleunigende weltweite Urbanisierung nachhaltig zu gestalten.

Die Landnutzung sollte klimaverträglich gestaltet werden, insbesondere die Agrikultur und die Waldwirtschaft.

Zur Finanzierung der Transformation und der erforderlichen massiven Investitionen sollten verstärkt neue Geschäftsmodelle herangezogen werden, die helfen, vorhandene Investitionsbarrieren abzubauen.

In der internationalen Klimapolitik sollte weiterhin auf ein ambitioniertes globales Abkommen hingearbeitet werden. Zugleich muss die multilaterale Energiepolitik die weltweite Verbreitung klimaverträglicher Technologien fördern.

Die Vereinten Nationen sollten in die Lage versetzt werden, wirksame Beiträge zur Transformation zu leisten. Entwicklungsorganisationen sollten zu Transformationsagenturen für Nachhaltigkeit umgebaut werden. Die G 20 sollten einen Fahrplan für wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Grenzen des planetarischen Systems erarbeiten.

Die Wissensgesellschaft im Transformationsprozess

Im Rahmen der erforderlichen Transformation kommen Forschung und Bildung zentrale Rollen zu, denn die Einsicht in die Notwendigkeit des Umbaus der Weltwirtschaft ist primär wissenschaftlich begründet. Die Gesellschaft sollte sich daher zu Handlungen entschließen, die nicht als direkte Reaktion auf unmittelbar erfahrbare Anlässe, sondern vorausschauend und vorsorgend motiviert sind. Die Diskussion zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sollte zu diesem Zweck wesentlich besser strukturiert, verbindlicher und lebendiger gestaltet werden, um eine diskursive und dennoch konstruktive Auseinandersetzung um die besten Wege zur Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Partizipativ angelegte Forschung und Bildung können hier entscheidende Beiträge leisten.

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