Vor der Wahl und dann bei den Koalitionsverhandlungen:
zu früh gefreut? hier
Das waren die Partei- Aussagen während des Wahlkampfes hier
NTV hier 04.04.2023 Von Sebastian Huld
Wie viel Geld ist genug gegen Kinderarmut?
Familienministerin Paus braucht nach eigenen Angaben mindestens 12 Milliarden Euro mehr im Kampf gegen Kinderarmut.
Die Ampel hat offenkundig ein Problem mit Verträgen: Einmal Geeintes legen die Parteien hernach unterschiedlich aus und am Ende sitzt FDP-Chef Lindner am längeren Hebel: dem Geldhahn. Beim Streit um die Kindergrundsicherung geht es auch um die grundsätzliche Frage, ob mehr Geld auch mehr hilft.
Vielleicht ist es tatsächlich ganz vernünftig, dass die FDP den Bundesjustizminister stellt, denn Verträge können die Liberalen. "Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen und setzen dabei insbesondere auch auf Digitalisierung und Entbürokratisierung", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampelparteien. Wovon dort nicht die Rede ist: mehr Geld. Doch ausgerechnet daran entbrennt gerade der jüngste Zwist im Regierungsbündnis. Vor allem die Grünen mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus an der Spitze fordern, das gemeinsame Projekt Kindergrundsicherung auch mit mehr Geld für umfangreichere Sozialleistungen zu unterfüttern. Dem aber hat der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner am Sonntag eine klare Absage erteilt.
Wie so oft in der Dreierkoalition sind die gemeinsamen Ziele Auslegungssache. Ein Jahr ist es her, dass die Regierung eine interministerielle Arbeitsgruppe aus den Ressorts Justiz, Finanzen, Bildung (alle drei FDP), Wohnen und Soziales (beide SPD) unter Leitung des Grün-geführten Familienministeriums einberufen hat. Ein Jahr später ist aber erstens immer noch unklar, was das Vorhaben kosten soll, und zweitens, welche staatlichen Leistungen zur Kindergrundsicherung zählen sollen. Unstrittig darunter fallen
FDP sieht schon viel erreicht
Geht es um die Bemühungen, Kinderarmut zurückzudrängen, muss aus FDP-Sicht auch mitgerechnet werden, was die Koalition bereits für Kinder und Familien noch so getan hat: ein höheres Bürgergeld anstelle von Hartz IV, die Erhöhung des Wohngeldes, insbesondere für Familien, die Fortführung der kostenlosen Krankenkassen-Mitversicherung, mehr Geld für besseres Schulessen sowie der Ausbau von Ganztagsschulen und Kitas.
"Für Familien mit Kindern ist bereits viel passiert", sagte Lindner der "Bild am Sonntag". Die Bundesregierung stelle insgesamt für Familien und Kinder sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung - etwa durch das deutlich höhere Kindergeld. "Das Wesentliche für die Kindergrundsicherung ist damit finanziell getan", konstatierte Lindner.
Paus widersprach im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland umgehend: Die Erhöhung des Kindergeldes sei zuvorderst eine Reaktion der Bundesregierung auf die im Jahr 2022 sprunghaft gestiegene Inflation gewesen und dürfe nicht als Mehrleistung in der Kindergrundsicherung verrechnet werden. Andererseits besagt der Koalitionsvertrag genau das: Es solle einen Kindergarantiebetrag geben, und der wird bei allen, die kein Bürgergeld beziehen, das Kindergeld sein.
Der Verweis auf das erhöhte Kindergeld ist im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Kinderarmut zudem umstritten: "Das Kindergeld wird bei den Familien, die Bürgergeld beziehen, voll angerechnet", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, im Interview mit ntv.de. Sprich: Ein Großteil der Mehrleistungen für Kinder kommt ausgerechnet bei den Ärmsten nicht an. "Das ist politische Schaumschlägerei, die Herr Lindner da betreibt", sagte Schneider.
Interessant ist, dass beide Seiten mit nicht abgerufenen Geldern argumentieren, um ihre jeweilige Position zu untermauern. "Entscheidend wird beim Thema Kindergrundsicherung sein, dass diese Grundsicherung bei den Kindern ankommt", sagte etwa der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Otto Fricke, im Deutschlandfunk unter Verweis auf sozialpolitische Leistungen, die gar nicht abgerufen würden. Ein Grund dafür sei, dass Antragsverfahren zu kompliziert seien, sekundierte FDP-Fraktionschef Christian Dürr im ZDF.
Einer dieser nicht ausgeschöpften Töpfe entstammt dem Bildungs- und Teilhabegesetz, das unter anderem die 15-Euro-Gutscheine für Freizeitaktivitäten bereitstellt. Diese würden auch mit einer Bündelung der Leistungen nicht in Anspruch genommen, sagt Schneider, "weil die monatlich 15 Euro pro Kind nicht weiterhelfen". Ein Zuschuss für den dann noch immer zu teuren Klavierunterricht oder Fußballverein bringe Eltern nicht weiter, weshalb sie gleich ganz verzichteten, vereinfachte Antragstellung hin oder her.
Das Kinderhilfswerk bestätigt auf Anfrage von ntv.de: "Tatsächlich werden die derzeitigen Leistungen, wie der Kinderzuschlag und Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets, nur in relativ geringem Maß durch anspruchsberechtigte Familien genutzt." Besonders drastisch ist dies beim Kinderzuschlag der Fall, den Eltern mit geringem Einkommen beantragen können. "Armutsforscher gehen davon aus, dass rund zwei Drittel der Anspruchsberechtigten den Kinderzuschlag nicht in Anspruch nehmen", teilt das Kinderhilfswerk mit. Grund hierfür seien die komplizierten Antragsverfahren, komplexe Anrechnungsregeln und Einkommenshöchstgrenzen, die dazu führen, dass bei mehr Erwerbsarbeit der Kinderzuschlag abrupt eingestellt werde und Familien bei höherem Einkommen plötzlich mit weniger Geld dastehen.
Ein weiterer nicht ausgeschöpfter Geldtopf - den die FDP zu den Bemühungen des Bundes gegen Kinderarmut zählt - ist das Sondervermögen "Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter". Von bereitgestellten 3,5 Milliarden Euro wurden Stand Mitte März gerade einmal 750 Millionen Euro abgerufen. Grund hierfür dürfte aber weniger die fehlende Nachfrage der Eltern nach Ganztagsbetreuung sein, sondern die knappen Planungskapazitäten vieler Kommunen, nicht vorhandene Eigenmittel und eine mehr als ausgelastete Bau-Branche. Hinzu kommt der Mangel an pädagogischen Fachkräften, der auch den Kita-Ausbau bremst.
Was FDP-Haushälter Fricke "wirkungsorientierte Haushaltsführung" nennt, ist auch aus Sicht der Fachverbände ein Thema: Die bereitgestellten Milliarden erreichen zu oft die von Armut betroffenen Kinder nicht. Die Liberalen wollen neben der besseren Steuerung des Angebots deshalb vor allem bei den Eltern ansetzen und mehr von ihnen in Arbeit bringen. Schneider sagt, das gehe an der Realität vorbei: Unter den vier Millionen Hartz-IV-Beziehern seien mehr als eine Million Erwerbstätige, die von ihrer Arbeit nicht leben können, darunter viele alleinerziehende Mütter, die nur in Teilzeit arbeiten können.
Die FDP verweist hingegen darauf, dass der jüngste Anstieg der Kinderarmut auf die allgemein hohe Zuwanderung zurückzuführen sei, nicht zuletzt auf die vielen Menschen aus der Ukraine, die überwiegend noch auf Sozialleistungen angewiesen sind. Diese Menschen gelte es schnell für den Arbeitsmarkt zu ertüchtigen. Schneider sagt, auch mehr Anstrengungen brauchten Zeit, um Wirkung zu entfalten. "Es kann doch nicht sein, dass man die Kinder dieser Eltern so lange in Einkommensarmut hält." Ähnlich sieht es auch das Kinderhilfswerk: Dessen Präsident, Thomas Krüger, fordert "eine an den tatsächlichen Bedarfen von Kindern ausgerichtete Neubemessung des kindlichen Existenzminimums".
Auf mindestens zwölf Milliarden Euro schätzt Bundesfamilienministerin Paus den Mehrbedarf, wenn allein die bestehenden Leistungen endlich bei den armutsbetroffenen Familien ankommen. Eine Erhöhung der Leistungen sei da noch gar nicht einberechnet. Unklar ist, warum der Konflikt aber jetzt schon den Haushalt 2024 trifft: Die Kindergrundsicherung soll zwar bis zum Sommer verabschiedet werden, aber erst 2025 kommen. Für 2023 meldet das Bundesfamilienministerium nur einen Mehrbedarf von drei Millionen Euro an, um die Kindergrundsicherung in die Spur zu setzen.
Die FDP will dennoch jetzt über die Gegenfinanzierung sprechen, bevor die Kosten zu Buche schlagen. Paus' Vorschlag, die Kinderfreibeträge herabzusetzen, überzeugt die Liberalen bislang nicht, weil das eine Mehrbelastung auch für die besserverdienende Mittelschicht bedeuten würde. (Verhinderung klimaschädlicher Subventionen wäre da doch ein toller Ansatz!)
So wird einmal mehr die SPD den Ausschlag geben in dem Konflikt: Unisono bekräftigten SPD-Politiker am Montag, dass die Kindergrundsicherung in jedem Fall kommen werde. Scharfe Kritik an Lindner war aber nur von Partei-Linken aus der zweiten oder dritten Reihe zu vernehmen. Dass die Kindergrundsicherung auch zwingend mit höheren Regelsätzen einhergehen müsse, sagten prominente Sozialdemokraten wie SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert oder die Parlamentarische Geschäftsführerin Katja Mast indes nicht. Sie haben ihren Vertrag mit der FDP offenbar genau gelesen.
RND hier Steven Geyer 02.04.2023
Kommentar zur Kindergrundsicherung
Kinderarmut, Steuerplus und Superreiche in Rekordhöhe: Das passt nicht zusammen
Zunehmende Kinderarmut ist ein Zukunftsrisiko.
Die Grünen haben noch nicht verdaut, wie SPD und FDP sie beim Klimaschutz untergebuttert haben, da kommt von Finanzminister Lindner die nächste Kampfansage: Trotz Rekordsteuereinnahmen mag er kein Geld für die Kindergrundsicherung geben. Damit zeigt er erneut Unwillen zum Kompromiss – und zur Umverteilung. Dieses Mal kann die SPD sich nicht wegducken, kommentiert RND-Korrespondent Steven Geyer.
Wer geglaubt hatte, der Ampel sei vor dem Wochenende mit der Einigung über fossile Öl- und Gasheizungen ein Neustart in eine konstruktive Zusammenarbeit geglückt, wurde keine 48 Stunden später eines Schlechteren belehrt.
Die Grünen waren noch dabei, ihre Wunden zu lecken – denn nicht nur im Heizungsstreit, auch in Sachen Autobahnausbau und Aufweichung des Klimaschutzgesetzes hatten SPD und FDP gemeinschaftlich den Klimaschutz rasiert und die Ökopartei düpiert. Da meldete sich Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner auch schon mit der nächsten Kampfansage: Er rechne fürs nächste Jahr zwar mit Steuereinnahmen in der Rekordhöhe von über einer Billion Euro. Für die Einführung einer erhöhten Kindergrundsicherung reiche das aber nicht. Schließlich habe man ja mit der Erhöhung des Kindergeldes schon einiges getan, das müsse genügen.
Das war schon deshalb mehr als eine Meinungsäußerung, weil die Grünen nach ihrer Klimaschlappe genau diese neue Kindergrundsicherung gerade als ihr nächstes zentrales Projekt in der Ampel ausgerufen hatten.
Doch mehr noch: Lindner betonte zugleich, dass er das zusätzliche Geld lieber in Schienenwege und eben auch Straßen sowie die Bundeswehr und „Modernisierung von Handwerk, Mittelstand und Industrie“, also Wirtschaftsförderung, stecken werde.
Lindner hat Selbstbewusstsein getankt
So machte er sehr deutlich, dass er nicht vor finanziellen Zwängen steht, sondern die „Umverteilung von Geld bei der Armutsbekämpfung“, wie er sagt, ablehnt. Und zeigt zugleich, dass er in dem Koalitionsmarathon reichlich Selbstbewusstsein getankt hat und deshalb gar nicht daran denkt, zurückzukehren zu einer konstruktiven Koalitionsarbeit mit Willen zum Kompromiss. Sonst hätte er zuerst den Weg vertraulicher Gespräche gesucht.
Immerhin hat die Ampel dem Projekt der Kindergrundsicherung im Koalitionsvertrag eine lange Passage gewidmet. Als Ziel steht da, man wolle „mehr Kinder aus der Armut holen“. Das kann man durchaus so lesen, dass es dafür auch mehr Geld geben muss. Man kann es aber auch lesen wie Lindner, der es bei organisatorischen Änderungen belassen will. Die können durchaus mehr bedürftigen Familien zu ihrem Recht verhelfen, die bisher die ihnen zustehenden Leistungen nicht beantragen.
Ein großer sozialpolitischer Wurf wäre das allerdings nicht – zumal in Zeiten von Inflation und direkt nach einer Pandemie, die die soziale Kluft weiter verstärkt hat. Erst vor ein paar Wochen wurde vermeldet, dass 81 Prozent des Vermögens, das 2020 und 2021 in Deutschland erwirtschaftet wurde, beim reichsten Prozent der Bevölkerung landeten. Ein Prozent strich 81 Prozent ein. Dabei hatten schon vor Corona 45 einzelne Deutsche so viel besessen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Dass der Finanzminister ins Feld führt, das Geld reiche nicht, um gegen den aktuellen Höchststand an Kinderarmut in Deutschland vorzugehen, klingt da zynisch. Jedes fünfte Kind ist hierzulande arm oder von Armut bedroht – und Lindner erklärt, man müsse stärker gegen die Arbeitslosigkeit der Eltern vorgehen. Auch das verträgt sich schlecht mit den Zahlen etwa der Bundesarbeitsagentur, laut der längst keine Massenarbeitslosigkeit herrscht und zugleich Hunderttausende Erwerbstätige zusätzliche staatliche Hilfe erhalten mussten.
Wo die FDP bei der Frage der Kindergrundsicherung steht, ist mit Lindners Aussagen jedenfalls geklärt. Entscheidend wird nun sein, wie die anderen beiden Ampelpartner sich verhalten.
Die grüne Familienministerin Lisa Paus muss endlich konkreter werden, wie sie das Instrument gestalten will, mit dem für 12 Milliarden Euro die Kinderarmut gesenkt werden soll. Den Bedarf anzumelden allein ist noch kein Konzept.
Und besonders spannend wird es, wie die SPD reagiert. Mag sie den Klimaschutz als grünes Thema sehen, kann sie sich bei dieser sozialpolitischen Frage nicht wegducken. Knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,5 Millionen junge Erwachsene sind in Deutschland armutsgefährdet. Darüber kann eine sozialdemokratische Partei, die kein bloßer Kanzlerwahlverein sein will, selbst dann nicht schweigen, wenn der Bundeskanzler aus machtpolitischen Gründen erneut dem FDP-Chef zur Seite springen sollte.
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