Ein sehr lesenswerter Bericht !
Riffreporter hier von Christian Schwägerl 01.11.2022
„Letzte Generation“ verstopft Autobahn, Radfahrerin wird von LKW erfasst
Nötigung sollte es in einer Demokratie nicht geben. Aber wer es ernst meint mit der Sicherheit im Verkehr, muss die täglichen Blockaden und Gewalttaten durch Autofahrer ahnden und endlich Platz für klimafreundliche Mobilität schaffen. Ein Kommentar
Ein Beitrag von: Busy Streets - Nachhaltig mobil in der lebendigen und lebenswerten Stadt von morgen.
Ein schrecklicher Verkehrsunfall in Berlin, bei dem eine Radfahrerin aus noch ungeklärter Ursache unter ein Betonmischfahrzeug geriet und dadurch so schwer verletzt wurde, dass sie inzwischen verstorben ist, bewegt die Gemüter. Solche Unfälle sind in Berlin trauriger Alltag. Laut Berliner Polizei kamen 2021 zehn Menschen, die mit dem Rad unterwegs waren, bei Unfällen ums Leben. 541 Radfahrerinnen und Radfahrer wurden schwer verletzt. Das entspricht drei schwerverletzten Menschen alle zwei Tage – oftmals mit gravierenden lebenslangen Folgen.
Der Verkehr in der Hauptstadt ist für Menschen, die mit dem Fahrrad unterwegs sind, besonders gefährlich. Obwohl 2021 Radfahrer nur an 5,5 Prozent der Unfälle beteiligt waren, war jeder vierte Verkehrstote und jeder dritte Schwerverletzte ein Radfahrer. Der schlimme Unfall in Wilmersdorf ist also nur Teil eines regelrechten Gemetzels im Alltagsverkehr, das meist nur in Polizeimeldungen wahrgenommen wird.
Grund für die Entrüstung ist nun aber, dass wenige Kilometer entfernt zur selben Zeit Mitglieder der Aktionsgruppe „Letzte Generation” auf Autobahnschilder kletterten, um für mehr Klimaschutz zu protestieren. Eine ihrer Forderungen ist ein permanentes 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr, das den Autoverkehr reduzieren soll. Die Polizei sicherte einer Rekonstruktion des Tagesspiegels zufolge den Ort der Aktion ab und sperrte dazu eine Fahrbahn der Stadtautobahn ab, was den ohnehin zähflüssigen Verkehr zum Stehen brachte.
Um Staus zu erzeugen, braucht es keine Klimaaktivisten
Die Aktion führte, was ihr erklärtes Ziel war, auf der Stadtautobahn zu einem zusätzlichen Stau. Dabei blieb aber einige Kilometer entfernt mangels Rettungsgasse ein Spezialfahrzeug stecken.
Das sollte den Betonmischer anheben und die verunglückte Frau befreien. Das Einsatzfahrzeug kam deutlich später ans Ziel, als es ohne Stau möglich gewesen wäre.
Medien, Politiker und Social-Media-Nutzer machen nun die „Letzte Generation” für die Unfallfolgen der Radfahrerin verantwortlich und fordern, schärfer gegen die Aktionsgruppe vorzugehen. Neben der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey hat sich sogar Bundeskanzler Olaf Scholz zu dem Geschehen geäußert. Natürlich kann man die spezielle Aktionsform, Autobahnen zu blockieren, verurteilen. Schließlich ist sie illegal. Juristen kommt Nötigung in den Sinn und der „gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr". Einer demokratischen Gesellschaft sind solche Aktionsformen eigentlich nicht würdig.
Die Motivation derer, die zum Mittel der Blockade greifen, hat freilich einen spiegelbildlichen Hintergrund: Auch die Missachtung der Interessen junger Menschen, die unter den Folgen der Klimakrise besonders lange leiden werden, ist einer Demokratie nicht würdig und das in ungleich größeren Dimensionen. Man könnte bei der Klimakrise von Nötigung in globalem Maßstab und für Jahrhunderte sprechen. Es geht, wie auch immer man die konkrete Aktionsform beurteilt, den Protestierenden darum, darauf hinzuweisen und mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gefährlichen Eingriffen in das Klima entgegenzuwirken.
Der Zweck heiligt in einer Demokratie nicht die Mittel. Die bundesweite Empörung über die „Letzte Generation” ist aber allenfalls scheinheilig – zumal inzwischen die behandelnde Notärztin laut Süddeutscher Zeitung in einem internen Vermerk festgehalten hat, dass die Verzögerung bei dem Spezialfahrzeug auf die Behandlung keinen Einfluss gehabt hat. Aber im Kern hatte und hat die Empörung vieler Medien und aus der Politik ohnehin nur wenig mit dem schlimmen Schicksal der Frau zu tun.
Im Gegenteil.
Für die lebensgefährlichen Blockaden der Radwege interessiert sich kaum einer
Ginge es den Empörten wirklich um die Radfahrerin, müssten sie jeden Tag jeden Unfall, bei dem Radfahrende schwer verletzt oder getötet werden, mit ähnlicher Verve sezieren und kommentieren. Aber Rettungsfahrzeuge, die tagtäglich im ganz normalen Stau steckenbleiben, stellen das Autofahren eben nicht in Frage wie die „Letzte Generation” es tut.
Es geht den Empörten nicht um sicherere Straßen, sondern um allzeit freie Bahn für Autos, auch auf Kosten von Leben und Gesundheit anderer.
Die Entrüstung über die „Letzte Generation” nach dem Unfall von Wilmersdorf zeigt vor allem die Unerbittlichkeit, mit der die Bewahrer einer radikal autozentrierten Verkehrspolitik bereit sind, selbst tragische Ereignisse auszuschlachten, um die freie Fahrt mit ihren Autos zu verteidigen. In ihrer Logik sollen wenn, dann nur Autos Staus erzeugen dürfen. Das aber immer und überall.
Die Empörten verschließen auch die Augen davor, dass Fußgänger und Radfahrer tagtäglich in Berlin gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr durch Autofahrende ausgesetzt sind.
Sie werden geschnitten, bedrängt, beim Überqueren der Fahrbahn angehupt, mit Raserei in Gefahr gebracht. Ihre Wege werden tagtäglich tausendfach zugeparkt und blockiert, oft mit Unfällen als Folge, weil Ausweichmanöver missglücken oder die Sichtbarkeit eingeschränkt war. Wie tolerant Polizei und Ordnungsämter in Berlin mit diesen Delikten umgehen, lässt sich mit dem Begriff „Vollzugsdefizit" kaum noch fassen.
Die genauen Hintergründe des Unfalls in Wilmersdorf sind noch unklar. Aber im Gesamtbild liegt es auf der Hand, dass der Autoverkehr die Hauptursache der Gefährdung ist, dass die Radinfrastruktur massiv ausgebaut, die Regeln im Straßenverkehr zugunsten von Menschen zu Fuß und mit dem Rad geändert und die Ahndung motorisierter Gewalt verstärkt werden müssen, wenn man Unfällen effektiv vorbeugen will.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat sogar schon vorgeschlagen, die Gestaltung des Straßenverkehrs in Städten und Gemeinden an den Bedürfnissen einer Elfjährigen auszurichten. Eine Broschüre seines Ministeriums bietet eine Blaupause für eine bundesweit sofort umsetzbare Umgestaltung im Dienst von Verkehrssicherheit und Klimaschutz. Die Entwürfe sehen im Vergleich zur Realität in Berlin und anderen Städten aus wie eine Darstellung des Paradieses. Ein solcher Wandel hieße, in großem Stil und flächendeckend in jeder Kommune Fahrspuren und Parkplätze an klimafreundliche Formen von Mobilität abzugeben, also an Busse und Trams, Radfahrende, Fußgänger.
Energieverschwendung auf 850 000 Kilometer Staustrecke pro Jahr
Nicht nur für Berlin gilt: Um kilometerlange Staus zu verursachen, in denen Rettungsfahrzeuge steckenbleiben, braucht es keine „Letzte Generation”, was auch immer man von deren Aktionsformen hält. Die Staus brocken sich die Autofahrenden in den allermeisten Fällen selbst ein, indem sie allein in tonnenschweren Fahrzeugen unterwegs sind, obwohl es vielfach Alternativen dazu gibt.
Allein auf deutschen Autobahnen gab es 2021 energieverschwendende Staus mit einer Gesamtlänge von 850.000 Kilometer, für die keine illegalen Klimaschutzaktionen verantwortlich waren. Rettungsdienste klagen häufig über Probleme, dass sie auf dem Weg zum Unfallort durch verstopfte Straßen aufgehalten werden. Auch die Berliner Stadtautobahn ist ganz ohne „Letzte Generation” notorisch durch Staus blockiert. Dass im Stau am Unfalltag keine Rettungsgasse gebildet wurde, um das Spezialfahrzeug durchzulassen, liegt nicht an den Klimaschutzaktivisten.
Die Instrumentalisierung des Unfalls von Wilmersdorf reiht sich ein in eine lange Kette versuchter und erfolgreicher Einflussnahmen auf die Politik mit nur einem Ziel: Nicht um Verkehrssicherheit geht es, sondern darum nichts, aber auch gar nichts an der Vormachtstellung des Autos im Straßenverkehr und bei den Verkehrsinvestitionen zu ändern. Tote und Verletzte im Straßenverkehr wie auch Lärm, Flächenverbrauch durch Parkplätze und der enorme CO2-Ausstoß aus Autos soll die Allgemeinheit als „Preis der Freiheit” akzeptieren.
Wer aus gutem Grund gegen die „Letzte Generation" anführt, dass es sich um Nötigung handelt, sollte mindestens genauso empfindlich auf die tagtägliche motorisierte Gewalt und die flächendeckende Blockade von Radwegen durch Falschparker reagieren.
Wie dieser Preis in einer durchweg automobilisierten Gesellschaft aussieht, legte ein Berliner Gericht 2019 offen: Ein junger Mann, der mitten in der Stadt mit 74 Stundenkilometern auf einer Busspur am stehenden Verkehr vorbeigerast war, um ein paar Sekunden zu sparen, und dabei ein vierjähriges Kind tötete, bekam in erster Instanz eine Strafe von 200 Euro und einen Führerscheinentzug für einen Monat auferlegt. Erst in zweiter Instanz wurde das Urteil 2020 auf eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren und drei Monate Fahrverbot verschärft.
Natürlich, auch der Zweck Klimaschutz heiligt nicht alle Mittel. Umgekehrt heiligt der Zweck des unbegrenzten, hemmungslosen Autofahrens aber nicht, dass wegen zu vielen Autos, zu wenig Rücksichtnahme und mangels sicherer Infrastruktur täglich unschuldige Menschen zu Schaden kommen und jährlich Millionen Tonnen vermeidbares Kohlendioxid in der Atmosphäre landen. Es ist einer Demokratie auch unwürdig, dass die Auto-Lobby seit Jahrzehnten die Verkehrspolitik dominiert und die dringend nötige Modernisierung unserer Mobilität blockiert.
Die Folgen der ungerechten Vorherrschaft des Autos und von jahrzehntelangem Lobbyismus in ihrem Dienst hat die Bundesregierung für den Klimaschutz in einem Papier festgehalten, das just am Tag des Unfalls in Berlin publik wurde. In einer Vorlage für ein Sofortprogramm Klimaschutz wird dargelegt, dass der Straßenverkehr im Gegensatz zu allen anderen Bereichen wie Stromversorgung oder Industrieproduktion bisher kaum einen Beitrag zur CO2-Reduktion geleistet hat. Der CO2-Ausstoß aus dem Verkehr muss nun rasch von 148 Millionen Tonnen heute auf 85 Millionen Tonnen im Jahr 2030 gedrückt werden – also um 42 Prozent.
ÖPNV und Radfahren unschlagbar attraktiv und sicher machen
Das ist nicht damit zu schaffen, jeden Verbrenner mit einem Elektroauto zu ersetzen. Es geht nur, wenn Städte und Gemeinden endlich mit der Verkehrswende ernst machen, also alle Hindernisse für klimaneutrale Mobilität umgehend beseitigen. Das bedeutet, flächig Autofahrspuren in abgesicherte Radschnellwege umzuwandeln, an Ampeln Fußgängern und Radfahrern Sicherheit und Vorrang geben und den ÖPNV massiv auszubauen.
Den genauen Hergang des vieldiskutierten Unfalls können nur die Ermittlungen erhellen. Laut Polizei war die Radfahrerin zwischen Nachod- und Spichernstrasse auf der Fahrbahn der Bundesallee unterwegs, obwohl parallel ein benutzungspflichtiger Radweg verläuft. Ob dem wirklich so war, müssen die Ermittlungen noch zeigen. Was vor Ort auffällt: Das Radwegschild ist deutlich kleiner und höher aufgehängt als normal und bei einem schnellen Blick nicht gut zu sehen. Der Radweg entlang der Bundesallee macht zudem einen Umweg, der bei jeder zweiten Ampelschaltung dazu führt, dass man als Radfahrer an der Spichernstrasse auf einer Mittelinsel hängenbleibt und auf die nächste Grünphase warten muss. Zu belebten Tageszeiten stauen sich auf dieser Mittelinsel Radfahrer und Fußgänger wie Pinguine auf einer Eisscholle, die von Orcas umkreist wird.
Für Menschen, die in Berlin zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, sind genau solche Unterbrechungen auf Mittelinseln vielerorts nerviger Alltag. Man kann eine Straße nicht einfach überqueren, sondern muss auf halbem Weg verharren – so, als ob Autofahrer an jeder Ampel kurz nach dem Anfahren wieder abbremsen und warten müssten. Zur Realität gehört, dass nicht nur Autofahrer „es eilig haben", wie es als Generalentschuldigung für alle Vergehen so gerne heißt, sondern eben auch Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind. Ständig kann man sehen, dass es Eilige doch versuchen, im Sprint über die Strasse zu kommen und dadurch in Gefahr geraten. Für Autos auf der Bundesallee und anderswo gilt dagegen „Grüne Welle".
In der Umgebung der Unfallkreuzung springen einem weitere Schwachstellen sofort ins Auge. An einer Baustelle führt der Radweg abrupt auf die vielbefahrene Hauptstrasse, dann verschmälert er sich auf einen Meter Breite. Radfahrer haben oft zwischen LKWs und Begrenzung kaum Platz zum Durchkommen. In der Nachodstrasse führt die Baustelle dazu, dass Radfahrer und schnell fahrende Autos zeitgleich in einen enge Furt gezwängt werden. An einem neu gestalteten Übergang für Radfahrer direkt an der Unfallstelle bekommt man auch zu Fuß zum Queren von vier Fahrbahnen mit 12 Metern Breite bei Grün nur 6 Sekunden. Wenn die Ampel in Sekunde 7 auf Rot springt, kommen längst Fahrzeuge zum Abbiegen um die Ecke. Es blinkt zwar noch eine Warnlampe und Stadtplaner reden gerne von der „Räumungszeit", die Fußgängern und Radfahrern noch zugestanden sei, wenn die Ampel schon auf Rot ist. Nur kennen leider Berliner Autofahrer dieses Konzept kaum. Sie gehen davon aus, dass die Kreuzung wieder ihnen gehört und sie dann durchstarten dürfen, sobald die Ampel für Fuß- und Radverkehr auf Rot springt. Was in der Nähe der Unfallkreuzung ebenfalls fehlt, ist adäquater Schutz für Fußgänger vor dem Radverkehr. Der Radweg, den die Verunglückte den Polizeiangaben zufolge hätte nutzen müssen, biegt ohne Haltelinie weiter in Richtung Wittenbergplatz ab, obwohl ihn dort ständig Fußgänger queren müssen.
Wer an der Kreuzung auch nur eine Stunde dem Verkehr zusieht, bekommt viele kritische Situationen mit, bei denen man jedes Mal erleichtert ist, dass nicht noch ein Mensch unter einem Fahrzeug gelandet ist. Kurzum: Diese Kreuzung ist alles andere als sicher und freundlich zu Radfahrern und Fußgängern, es ist das exakte Gegenteil von „Bullerbü", dem Begriff, mit dem die Regierende Bürgermeisterin Giffey Bemühungen um mehr Sicherheit und Lebensqualität lächerlich gemacht hat.
Offen ist auch die Frage, ob nur die Blockade der „Letzten Generation” das Rettungsfahrzeug aufgehalten hat oder vielmehr die Unfähigkeit der Autofahrer, im Stau eine Rettungsgasse zu bilden. Der zuständige Einsatzleiter sagte jedenfalls dem Tagesspiegel Checkpoint, Rettungsfahrzeuge blieben in Berlin „jeden Tag im Stau” stecken. Wird künftig auch dazu jedes Mal gegen die mutmaßlichen Verursacher ermittelt?
Wer das aktuelle Geschehen in größerem Kontext wirklich verstehen will, muss nur beobachten, wer sich auch in einer Woche noch um verunglückte Fußgänger und Radfahrerinnen kümmert und wer durch Alternativen zum Auto dafür sorgen will, dass die Zahl der Unfälle sinkt und Einsatzfahrzeuge jederzeit schnell ans Ziel kommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen