Ist Deutschland der „Geisterfahrer“ der Energiewende? Warum das großer Quatsch ist
Weniger Strom aus Kohle und Atom, dafür mehr Wind und Solar - ist nur Deutschland so dumm?
Solche Behauptungen finden sich immer wieder. Deutschland ist alles andere als ein „Geisterfahrer“ der Energiewende, schreibt Autor Jan Hegenberg in seinem neuen Buch „Klima-Bullshit-Bingo“ - im Gegenteil sind wir dem Ausland ähnlicher, als wir denken.
„Deutschland ist mit seiner Energiewende der Geisterfahrer der Welt!“ Dieser Bullshit ist in meinen Augen der bullshittigste, denn selbst wenn, was wäre dann? Empfinden die Menschen jetzt schon internationalen Gruppenzwang, wenn andere Länder etwas komplett anders machen?
Ich meine, schön wär’s. Dann könnten die Deutschen sich in anderen Ländern Tempolimits, Digitalisierung und die Zubereitung von Gemüse abgucken, die USA könnten mal ihr Verhältnis zu Schusswaffen, Krankenkassen und ÖPNV abgleichen und Frankreich sein Verhältnis zu pflanzlichen Ersatzprodukten (sehr unvollständige Liste).
Tatsächlich ist doch eher das Gegenteil der Fall. Tempolimit? Blödsinn, alle anderen Länder machen das halt falsch. Brokkoli bissfest kochen? Da gehen doch die Zähne beim Reinbeißen kaputt! Aber bei der Energiewende machen sich die Leute dann plötzlich Gedanken, was denn die anderen machen? Unglaubwürdig.
Über den ExpertenJan Hegenberg studierte BWL und arbeitete danach in der IT-Branche. Im Jahr 2014 war er zunehmend verärgert über wichtige Themen betreffende Fake News, entdeckte seine Liebe zum Schreiben und gründete seinen Blog „Der Graslutscher“. Darin widerlegte er die im Internet kursierenden Scheinargumente, zunächst nur gegen pflanzliche Ernährung (daher der Name), später dann zu immer mehr Themen.
Heute betreibt er den Blog hauptberuflich und veröffentlicht dort Aufklärung und Medienkritik zum Thema Ernährungs-, Energie-, und Verkehrswende. Mit seinem ersten Buch "Weltuntergang fällt aus!" gelang ihm 2022 ein Bestseller. Im August ist sein zweites Buch "Klima-Bullshit-Bingo" erschienen. Der Vater von drei Kindern lebt in Wiesbaden.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Klima-Bullshit-Bingo von Jan Hegenberg
Ausrufezeichen und wütende Smileys
Aber selbst wenn, was machen die anderen denn? Kern des Geisterfahrer-Vorwurfs ist meistens, dass Deutschland seine Atomkraftwerke vor Ende der Laufzeit abgeschaltet hat, während die meisten Reaktoren in anderen Ländern weiterlaufen. Das kann man natürlich skeptisch sehen und fragen, ob es nicht klüger gewesen wäre, erst aus der klimaschädlichen UND gefährlichen Kohlekraft auszusteigen. Etwas seltsam daran ist, dass der Geisterfahrer-Vorwurf eine recht neue Erscheinung ist und besonders bei Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke genutzt wurde, um die Politik der Ampel-Regierung zu kritisieren. Seltsam, denn die Entscheidung dafür liegt 13 Jahre zurück, ohne dass der damaligen Merkel-Regierung der gleiche Vorwurf gemacht wurde, als im Jahr 2011 unmittelbar nach der Reaktorhavarie von Fukushima acht Reaktoren auf einmal stillgelegt wurden.
Seltsam sind auch die hierzu gemachten Behauptungen, wahlweise sei Deutschland das „einzige Land ohne Atomkraft in der EU“ oder „nur von Ländern mit Atomkraft umgeben“ oder „das einzige Land, das aussteigt, während alle anderen einsteigen“. Das kommt in der Regel mit mehr Ausrufungszeichen und wütenden Smileys daher, aber ich dachte, ich erspare euch das, auch wenn die Authentizität darunter leidet, denn es ist ohnehin alles falsch.
35 sind weniger als 195
Europa ist einer der reichsten Kontinente des Planeten und beherbergt viele Länder der ehemaligen Sowjetunion mit historisch starkem Atomkraft-Bezug, aber dennoch sind die EU-Länder mit Atomkraft mittlerweile in der Unterzahl: Atomreaktoren laufen derzeit in Belgien, Bulgarien, Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechien und Ungarn, also in 12 von 27 EU-Ländern. Bei unseren direkten Nachbarländern gibt es zwar tatsächlich eine Mehrheit von Atomkraft-Nutzung (Belgien, die Niederlande, Tschechien, die Schweiz und Frankreich). Die These, wir seien „komplett von Atomkraft umzingelt“, muss damit aber verworfen werden.
Die mit Abstand abwegigste Behauptung ist aber die, „alle“ würden einsteigen, nur Deutschland nicht. Die Welt kennt heute 195 Staaten der Vereinten Nationen (zwei davon im Beobachterstatus) plus zehn weitere Staaten, Nationen, Länder oder Territorien mit umstrittenem Status (Stand April 2024). Wir betrachten jetzt nur mal die 195 anerkannten Staaten: Von diesen 195 nutzen 32 Atomkraft und in drei weiteren sind erstmals Atomkraftwerke im Bau (Türkei, Bangladesch, Ägypten, ebenfalls Stand April 2024). Mir ist kein viel eleganterer Weg eingefallen, das zu umschreiben, als so: 35 sind deutlich weniger als 195. Es sind weder „alle“ noch auch nur annähernd eine Mehrheit.
Das Märchen von der „Renaissance“
Voraussichtlich wird in ein paar Jahren noch Polen mitgezählt werden müssen, dort wurde 2023 der finale Vertrag mit dem US-Hersteller Westinghouse über den Bau von sechs sogenannten Small Modular Reactors unterschrieben. In den Atomländern selbst ist ein weiterer Ausbau die Ausnahme: 19 der 32 Länder mit Kernkraft haben aktuell keine Neubauprojekte oder dahingehenden Pläne. In den Ländern mit Neubauprojekten handelt es sich insbesondere bei den westlichen Staaten um einzelne Neubauten (manche davon dürften bei Erscheinen dieses Buchs fertiggestellt sein):
USA: 2Frankreich: 1Vereinigtes Königreich: 2Slowakei: 1Finnland: 1
Also sieben neue Reaktoren für Länder, in denen aktuell 168 Reaktoren laufen. Eine europäische „Renaissance der Atomkraft“, wie sie von manchen Medien immer wieder kolportiert wird, ist hier beim besten Willen nicht zu erkennen. Man muss kein Mathegenie sein, um sich auszurechnen, dass die Neubauten nicht im Ansatz ausreichen, um den aktuellen Stand zu halten.
Zur Erinnerung: All diese Staaten haben Pläne, ihre Emissionen auf netto-null zu senken, werden also in Zukunft einen deutlich höheren Strombedarf haben, um Erdöl, Erdgas und Kohle zu ersetzen. Wenn Kernkraft auch nur zehn Prozent dieses zusätzlichen Bedarfs decken sollte, wären etwa doppelt so viele neue Reaktoren nötig.
Die Sache mit der Absicht
Diese Entwicklung ist auch nicht sonderlich neu: In den letzten 25 Jahren (also seit 1999) wurden in der EU sieben neue Reaktoren zugebaut. Die Anlagen, aus denen heute der absolute Löwenanteil des EU-Atomstroms kommt, sind in den 1970er- und 1980er-Jahren gebaut worden. Das Durchschnittsalter liegt bei 37 Jahren. Ähnliches Bild in den USA, dem Staat mit den meisten aktiven Reaktoren überhaupt: Neu zugebaut wurden in den letzten 30 Jahren gerade mal drei Reaktoren, die 1970er- und 1980er-Jahre waren die goldenen Jahrzehnte der Atomkraft, aus denen 80 Prozent ihrer Anlagen stammen (Durchschnittsalter 42 Jahre).
Absichtserklärungen und politische Debatten über den Einstieg in die Technologie gibt es in diversen Staaten seit Jahrzehnten, so gibt es aktuell zum Beispiel Absichtserklärungen der italienischen Regierung. Aber wie das mit Absichtserklärungen so ist, hatte ich im Herbst 2023 die Absicht erklärt, dieses Buch bis Januar 2024 fertiggeschrieben zu haben. Es kam ganz offensichtlich nicht dazu.
Die Mehrheit aller Länder (163 von 195) nutzt keine Atomkraft und eine noch größere Mehrheit (179 von 195) baut aktuell keine. Die meisten Länder und insbesondere die größten Volkswirtschaften (China, USA, die komplette EU, Japan, Südkorea, Australien) bauen am stärksten ihre erneuerbare Kraftwerksleistung aus. Nun muss natürlich nicht automatisch richtig sein, was die Mehrheit macht. Wenn die Mehrheit von der Brücke springt, dann bleibt mal lieber in der Minderheit. Ich reite darauf nur wegen dieser absurden Geisterfahrer-Behauptung rum, laut der die ganze Welt den nuklearen Traum träumt und nur Deutschland will die Energiewende ohne Atomkraft durchziehen.
Die energetische Pizza Quattro Stagioni
Klar, der deutsche Energieweg sieht näher betrachtet aus, als wäre er unter dem Motto „Kontinuität ist scheiße“ entstanden. Bis 1998 war das Motto Atom + Kohle, dann kam Rot-Grün und wollte 100 Prozent EE-Strom über den schrulligen Umweg EE-Strom plus Kohle, dann kam Angela Merkel und wollte eine energetische Pizza Quattro Stagioni (bisschen Atom, bisschen Kohle, bisschen Erneuerbare, bisschen Gas). Dann kam Fukushima und Angela Merkel war Energie erst mal egal, sie wollte primär an der Macht bleiben. Dazu stieg sie aus der Atomkraft aus und bremste gleichzeitig den EE-Ausbau. Ja, das ist, als wenn ihr Hunger habt, vergesst, einkaufen zu gehen, und als Konsequenz den Vorratsschrank niederbrennt.
Das kann man gern bekloppt finden, aber das macht die jetzige Strategie „Erneuerbare + Speicher“ nicht sonderlich geisterfahrig: Diese Kombination bauen gerade so gut wie alle Länder aus – vielleicht abgesehen von Katar, Nordkorea und Saudi-Arabien. Aber selbst im Iran und in Russland steigt die Stromerzeugung aus Solar- und Windkraft, wenn auch langsam.
Und auch in den Demokratien mit Menschenrechten wird quasi überall mindestens Solar- oder Windkraft zugebaut, ebenso in den Atomländern USA, Frankreich und ganz besonders China: Da wurde allein letztes Jahr – in einem einzelnen Jahr – 2,5-mal so viel Solarkraft zugebaut, wie in ganz Deutschland installiert ist (juhu). Ist das nicht toll? Durch den deutschen, nicht ganz so durchdachten Plan wurden gleich zwei Technologien für CO2-arme Stromerzeugung so billig, dass sie heute weltweit boomen. Dass wir jetzt billige Solarmodule aus China importieren, ist da doch nur fair.
Deutschland ist im Mainstream
Fakt ist: Weltweit nutzen 32 von 195 Ländern Atomkraft. In 16 von 195 Ländern werden gerade neue Atomkraftwerke gebaut. Die Art, wie Deutschland aus der Atomkraft ausgestiegen ist, mag weltweit in der Tat nicht allzu viele Nachahmer gefunden haben, aber der (auch) in Deutschland begonnene Ausbau von Wind- und Solarkraft wird dafür mittlerweile weltweit kopiert. Er ist das Kernstück einer jetzt gerade stattfindenden, globalen Industrierevolution, von der Deutschland ein Teil ist und die es mit begonnen hat.
Klar, unsere CO₂-Emissionen pro Kilowattstunde könnten heute schon deutlich geringer sein, wenn hier noch die 17 Atomkraftwerke laufen würden, die 2010 Strom ins deutsche Netz gespeist haben. Energiewende ist aber ein Marathon, kein Sprint. Zu unserem langfristigen Strombedarf für das Jahr 2045 würden selbst diese 17 Atomkraftwerke von 2010 (ein Jahr vor dem Atomausstieg) nur neun Prozent beitragen. Mit der Antwort auf die Frage, wo die restlichen 91 Prozent herkommen, befindet Deutschland sich im globalen „Erneuerbaren+Speicher“-Mainstream.
Jan Hegenberg, „Klima-Bullshit-Bingo - 'Klimaschutz zerstört die Wirtschaft!', und andere Stammtischparolen widerlegt“, Komplett Media Verlag, 240 Seiten, 24,00 Euro
wen`s interessiert - noch mehr zum Atomausstieg in Dtl hier von Jan Hegenberg
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