Ein neues Buch mit neuen Gedanken - vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken, was momentan schief läuft? Aus den gewohnten Bahnen auszusteigen, neu zu denken?
FAZ hier Von Ingolfur Blühdorn 30.07.2024
Um Fridays for Future ist es ruhig geworden; die Letzte Generation stößt auf Unverständnis. Die Klimakrise und die sozial-ökologische Wende sind in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund getreten, Postwachstumsbewegungen scheinen vergessen. Selbst junge Menschen orientieren sich vermehrt zu konservativen und rechten Parteien. Die Sicherung und die Verteidigung des Wohlstands sind gegenüber Themen der sozial-ökologischen Transformation prioritär.
Doch die umfassende Krise, die noch unlängst so viele Aktivisten auf die Straße gebracht hatte – Umwelt, Klima, Demokratie –, ist nicht verflogen. Der Abgrund, vor dem António Guterres anlässlich der UN-Vollversammlung 2021 so eindringlich gewarnt hatte, hat sich nicht geschlossen. Vielmehr sind die Extremwetter, die Migrationsproblematik, die soziale Spaltung und all das, was Begriffe wie Polykrise oder Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit sonst noch erfassen, konkreter denn je. Warum entfaltet der Abgrund nicht den erwarteten Schrecken? Worin genau besteht er überhaupt?
Für Klimaforscher und Umweltbewegungen liegt dieser Abgrund im drohenden Untergang der Menschheit und der Unbewohnbarkeit einer überhitzten Erde. Unmittelbarer akut ist aber ein anderer Untergang: der der Gewissheiten, die gerade progressiver Politik über Jahrzehnte Orientierung gegeben haben. Zu ihnen gehört:
(1) Die ökologische Krise und der Klimawandel sind die größte und drängendste Herausforderung der Menschheit.
(2) Die Demokratie ist die größte politische Errungenschaft moderner Gesellschaften. Wir müssen sie verteidigen, denn sie ist immer prekär.
(3) Für eine sozial-ökologische Transformation ist die weitere Demokratisierung der Demokratie das aussichtsreichste Mittel.
(4) Die sozialen Bewegungen und ihre zivilgesellschaftlichen Organisationen sind die Pioniere dieser Transformation.
Diese Annahmen hat die sich als progressiv verstehende Öffentlichkeit seit dem öko-emanzipatorischen Aufbruch der 1970er-Jahre fest verinnerlicht. Doch heute sind sie zumindest zweifelhaft und womöglich falsch. Das ist ein zutiefst verunsichernder Verdacht; so verunsichernd, dass auch die Sozialwissenschaften sich kaum trauen, ihm ernsthaft nachzugehen.
Besonders hart trifft das die grünen Bewegungen. Seit der stillen Revolution der Siebzigerjahre hatten sie schrittweise die progressiven Werte und demokratischen Gestaltungsansprüche durchgesetzt, deren Unerfüllbarkeit heute offenbar wird – und zum Zündstoff für die rechtspopulistische Revolte. Klima- und Umweltaktivisten reagieren auf diese Erfahrung, indem sie ihre Kampagne noch einmal verstärken. Mit Nachdruck verteidigen sie, was Erhard Eppler einst die Machbarkeit des Notwendigen nannte, den Glauben an die mündigen Bürger, an die gute Zivilgesellschaft und die kollektive Gestaltbarkeit der Zukunft. Sie bekräftigen die Forderung nach echter Demokratisierung und insistieren, dass die Daten der Klimawissenschaft nun einmal objektiv und die ökologischen Probleme nicht wegzureden seien. Es müsse gehandelt werden, sofort.
Wie die Demokratie die Nicht-Nachhaltigkeit stabilisiert
Dabei übergehen sie allerdings mindestens dreierlei:
Erstens zeigen die wissenschaftlichen Daten keine objektiven Probleme, sondern ihre Bewertung bleibt eine Frage gesellschaftlicher Normen und politischer Prioritätensetzung.
Zweitens bietet die Ausweitung und Vertiefung demokratischer Rechte kaum mehr eine plausible Perspektive für eine effektivere Nachhaltigkeitspolitik. Unter Bedingungen hoher gesellschaftlicher Differenzierung, Komplexität, Beschleunigung, Pluralisierung und Ungleichheit führt sie eher in eine öko-politische Blockade, eine Art ökologische Unregierbarkeit. Jeder fordert für sich Konzessionen, und so stabilisiert die Demokratie die Nicht-Nachhaltigkeit. Und vielleicht am schlimmsten: Ohne, dass sie dies bemerkt oder gar intendiert hätten, haben die öko-emanzipatorischen Bewegungen – etwa durch ihre Suche nach authentischer Selbstverwirklichung – erheblich dazu beigetragen, dass die Voraussetzungen, auf denen der Glaube an die demokratische Transformation zur Nachhaltigkeit beruhte, heute immer weniger erfüllt sind.
Das ist eine traumatische Erkenntnis, zumal nach dem Projekt der Demokratisierung der Demokratie keine Aussicht auf eine andere politische Form besteht, die nachhaltigkeitspolitisch erfolgversprechender wäre; insbesondere keine, die auch die emanzipatorischen Werte der Selbstbestimmung bedient.
Für Konservative scheint die Lage einfacher. Erleichtert diagnostizieren einige das „Ende der grünen Hegemonie“, der „Macht der Minderheit“, und hoffen auf eine Rückkehr zum wachstumsbasierten, demokratischen Kapitalismus. Das war ein bürgerlicher Kapitalismus, der an die Vereinbarkeit bürgerlicher und kapitalistischer Werte glaubte. Doch abgesehen davon, dass es eine grüne Hegemonie im behaupteten Sinne nie gegeben hat – hegemonial war vielmehr der Neoliberalismus –, übersehen solche Hoffnungen erstens, dass dieser Rückweg versperrt ist.
Denn der Wachstumskapitalismus beruhte auf Grundlagen, nicht zuletzt fossilen, die heute ausgezehrt sind. Zweitens übersieht diese Hoffnung, dass die öko-emanzipatorischen Bewegungen letztlich dieselben bürgerlich-humanistischen Werte vertraten, an die auch Konservative glauben.
Und hinter dem Ende der angeblichen grünen Hegemonie steht in Wahrheit das Ende der bürgerlichen Moderne und des westlichen Selbstverständnisses . Das bedeutet nicht, dass der Kapitalismus zusammenbricht, wohl aber, dass es für die Ideale der Selbstbestimmung, der offenen Gesellschaft, universeller Menschenrechte und der befriedeten Weltgesellschaft enger wird. Der Kapitalismus wird in der Spätmoderne oligarchisch und autoritär.
Die ganze Debatte steckt in vagen Formeln fest
Beunruhigt mobilisieren Konservative wie ihre vermeintlichen Gegner daher für die Verteidigung der Demokratie. Aber deren Krise hat strukturelle Ursachen. Sie lässt sich durch Großdemonstrationen ebenso wenig bewältigen wie die Klimakrise durch Appelle zum entschiedenen Handeln. Solche Demonstrationen zeigen nicht eine plötzliche Wiederherstellung der für die Demokratie unerlässlichen Voraussetzungen und auch nicht die Wiederentdeckung von egalitären, redistributiven und inklusiven Werten. Eher sind sie wohl Ausdruck des Bemühens, die Privilegien und die Berechenbarkeit zu sichern, die die Demokratie für viele geschaffen hat. Und sie artikulieren die Angst vor der Rache derer, die sich bisher vergessen fühlten und sich auch in Zukunft nichts mehr von der Demokratie versprechen.
Die Krise, mit der spätmoderne Gesellschaften es zu tun haben, liegt also in der doppelten Unhaltbarkeit der bestehenden Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit einerseits und des öko-emanzipatorischen Reparaturprojekts andererseits. Sowohl die Demokratisierungs- als auch die Ökologisierungshoffnung der Bewegungen ist zerplatzt. Damit wird aber die Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit nicht plötzlich wieder haltbar. Vielmehr ist auch das Projekt der Konservativen und die bürgerliche Moderne erschöpft. Genau das ist der Abgrund. Mit unhaltbaren Narrativen versuchen Grüne und Konservative ihn zu überdecken.
Das Traumatische dieser Konstellation zu erfassen, wäre die große Aufgabe der Zeit. Einstweilen steckt die Debatte aber noch in vagen Formeln fest. Die Welt sei in Aufruhr, der Kapitalismus am Limit, die Zukunft verkauft und die Demokratie in der Dämmerung. Flankiert werden solche Diagnosen von unbegründeten, die Krise möglicherweise noch verschärfenden, weil Enttäuschungen nach sich ziehenden Versprechen, dass wir auch anders könnten und eine demokratische Revolution das Blatt noch wenden könne. Wer aber verstehen will, welche nächste Gesellschaft sich vor unseren Augen entfaltet, muss über solche Formeln und die modernistischen Werte, die ihnen zugrunde liegen, hinausgehen.
Wir stehen am Abgrund
Ist der einzige Weg vielleicht, möglichst nüchtern zu artikulieren, dass die Demokratie sich in der Spätmoderne überlebt hat, anachronistisch wird und sich auch nicht wiederherstellen lässt? Wer sich bisher als progressiv verstand und gestalten wollte, wird diesen Gedanken zutiefst reaktionär finden. Bestimmte Formen der Demokratie mögen sich überlebt haben, aber gilt das auch für die Demokratie insgesamt? Einen Rückweg zu den Glaubenssätzen, die bisher Orientierung gaben, gibt es jedenfalls nicht. Das bürgerliche Verteidigen der etablierten Demokratie gießt womöglich nur Öl ins Feuer derer, die von ihr enttäuscht sind, gegen ihre Institutionen rebellieren und damit endgültig den Weg für die Herrschaft der Stärksten frei machen.
António Guterres hatte schon recht: Wir stehen am Abgrund. Eine Welt geht unter, es entfaltet sich eine neue, jenseits modernistischer Werte. Die Gestaltung dieser nächsten Moderne darf man, wenn man von den Idealen der verblassenden etwas retten will, weder den Rechtspopulisten überlassen noch jenen, die leichtfertig über das Ende der grünen Hegemonie frohlocken.
Ingolfur Blühdorn ist Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Leiter des dortigen Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit. Zuletzt erschien von ihm „Unhaltbarkeit – Auf dem Weg in eine andere Moderne“ (Suhrkamp)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen