Spiegel hier Eine Kolumne von Christian Stöcker 10.03.2024
Debatten über E-Autos und Elektrogeräte: Es gibt Zahlen, deren Bedeutung jeder sofort versteht. Und es gibt andere, viel wichtigere. Die sagen den meisten Menschen aber gar nichts. Gehören Sie dazu? Hier ein kleines Quiz.
Zum Einstieg ein paar Quizfragen.
1. Sie hören folgenden Satz: »Und dann ist sie mit 95 durch die Innenstadt.«
Worum geht es hier?
A) Eine ältere Dame macht einen Shoppingbummel durch die Fußgängerzone
B) Eine Stadtführerin betreut eine sehr große Reisegruppe
C) Eine Autofahrerin war viel zu schnell im Stadtverkehr unterwegs
2. Oder wenn Sie hören: »Der braucht acht Liter.«
Worum geht es da?
A) Den wöchentlichen Weinkonsum eines Mannes
B) Das Volumen eines neu anzuschaffenden Badezimmermülleimers
C) Den Spritverbrauch eines Autos
3. »Der schafft bis zu 135.«
Worum geht es hier?
A) Die Spitzengeschwindigkeit eines Motorrollers in Kilometer pro Stunde
B) Die Spitzenleistungen eines Gewichthebers in Kilogramm
C) Die maximale Leistung, mit der ein Elektroauto geladen werden kann, in Kilowatt
4. »Der braucht nur 120.«
Worum geht es hier?
A) Den monatlichen Finanzbedarf eines Abiturienten in Euro
B) Die für einen Kuchenteig nötige Zuckermenge in Gramm
C) Den jährlichen Stromverbrauch eines Kühlschranks mit Gefrierfach in Kilowattstunden
Meine Vermutung ist: Bei Frage eins und zwei hatten Sie keine großen Probleme. Dass mit der Zahl 95 Kilometer pro Stunde gemeint sind, erschließt sich fast ohne Kontext auf Anhieb, und dass sich acht Liter vermutlich auf den Verbrauch pro 100 Kilometer bei einem Auto mit Verbrennungsmotor beziehen, lehrt die Erfahrung. Natürlich ist beide Male C die gesuchte Antwort.
Uns fehlen die Bezugssysteme
Bei Frage 3 und 4 dagegen wussten viele Leserinnen und Leser vermutlich eher nicht reflexartig, was gesucht wird. Auch hier war jeweils C gemeint, aber war Ihnen das sofort klar? Antwort 3C bedeutet: Da lädt ein E-Auto ziemlich zügig. Hätten Sie gewusst, dass 135 kW Ladeleistung recht viel ist? Antwort 4C: Wenn es ein großer Kühlschrank ist, dann ist er ziemlich sparsam. Wäre Ihnen das gleich bewusst gewesen?
Kilowatt und Kilowattstunden, die wichtigsten Maßzahlen für unsere zwangsläufig überwiegend elektrifizierte Zukunft, gehören in Deutschland bis heute nicht zur Allgemeinbildung.
Wir haben für diese Werte – Leistung und Energieverbrauch (genauer: Leistungsaufnahme) – keine Koordinatensysteme im Kopf, kein ausgebildetes »Bezugssystem«, wie man das in der Wahrnehmungspsychologie nennt.
Solche Bezugssysteme lernen wir in vielen Bereichen von klein auf. Wenn Sie hören, dass jemand 1,83 Meter misst, haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie groß die Person wohl ist. Sie wissen spontan, dass 30 Grad Celsius Lufttemperatur ziemlich warm ist, und dass man bei 5 Grad draußen lieber eine gefütterte Jacke anhat. Für Angaben in Fuß und Inch oder Grad Fahrenheit gilt das bei den meisten Menschen hierzulande eher nicht – dafür haben wir kein Bezugssystem, wir müssen Werte mühsam im Kopf umrechnen.
kWh/100 km – ja, das ist verwirrend
Kilowatt und Kilowattstunden sind den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Landes bis heute fast so fremd wie Inch und Fahrenheit. Oder wissen Sie spontan, wie viele Kilowattstunden pro Jahr Ihr Fernseher verbraucht? Und wie viel davon im Standby-Modus? Oder Ihr Kühlschrank?
In anderen Bereichen ist das völlig anders. Jeder weiß, was mit »Drei-Liter-Auto« gemeint ist. Ohne nachzudenken.
Wer sich gerade mit dem Gedanken trägt, sich zum ersten Mal ein Elektroauto anzuschaffen, entwickelt vermutlich neue Koordinatensysteme. Der Verbrauch von Elektroautos wird in der Regel in Kilowattstunden (kWh) pro hundert Kilometer gemessen. »kWh/100 km« also. Das ist wirklich verwirrend: Eigentlich bräuchte man dringend eine griffigere Bezeichnung. Liter/100 km ist einfacher zu merken. Das muss sich ändern.
Was unterscheidet kW von kWh?
Ein anderes wichtiges Maß bei Elektroautos ist das Fassungsvermögen des Stromspeichers, also des Akkus. In einen normalen E-Auto-Akku passen etwa 50 Kilowattstunden , in die derzeit am PKW-Markt vertretenen größten Modelle über 100. Wie weit das E-Auto damit kommt, hängt natürlich nicht nur von der Größe des Akkus ab. Ebenso wenig wie die Größe des Tanks bei einem Verbrenner allein über dessen Reichweite entscheidet.
Interessanterweise sind Reichweiten pro Tankfüllung bei Autos mit Verbrennungsmotor eher keine allzu offensiv kommunizierte Maßzahl. Es zählt eher der Verbrauch pro 100 Kilometern, denn der sagt ja, wie teuer man mit dem Auto im Alltag unterwegs ist. Bei E-Autos dagegen ist die behauptete und die anschließend von unabhängigen Testern gemessene Reichweite derzeit ein zentrales Verkaufsargument. Das wird sich nach und nach ändern, mit noch besseren Akkus und vor allem einem besseren Ladenetz. Wir betreten eine neue Welt und die Veränderung ist noch in vollem Gang.
Lauter funktionale Analphabeten
Ein anderes Verkaufsargument ist die Ladegeschwindigkeit, und die wiederum hängt von dieser anderen nicht so richtig ins kollektive Unterbewusstsein eingesickerten Maßzahl ab: Kilowatt. Viele Menschen haben schon Schwierigkeiten, Kilowatt von Kilowattstunden zu unterscheiden. Das eine (kW) gibt an, wie viel Energie in einem bestimmten Moment durch die Leitung fließt – beispielsweise in den Akku hinein oder aus ihm heraus. Das andere (kWh) bezeichnet die Energiemenge, die bei einer Leistung von einem kW über eine Stunde hinweg verbraucht beziehungsweise bereitgestellt wird.
Hohe kW-Werte sind deshalb beim Laden erstrebenswert, – je mehr auf einmal in den Akku fließt, desto schneller ist er wieder voll. Eine gute Schnellader-Ladefähigkeit liegt derzeit jenseits von 120 kW, während eine Heim-Wallbox in der Regel nur 11 kW liefert. Oder 22 kW bei bestimmten Modellen, aber die muss man dann nicht nur anmelden (das muss man immer ), sondern sie vom lokalen Netzbetreiber eigens genehmigen lassen.
Wenn Sie das alles verwirrend finden: Das ist es auch. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir alle hinsichtlich der enorm wichtigen Frage, was unsere Zivilisation antreibt, jenseits fossiler Brennstoffe (»3-Liter-Auto«) überwiegend funktionale Analphabeten sind. Kilowatt und Kilowattstunden, Leistungsaufnahme und Leistung, das sind bis heute Themen für Technik-Nerds. Für Leute, die vor dem Kühlschrankkauf seitenlange Tests lesen. Für E-Auto-Fans.
Wer profitiert? Die Freunde des Fossilen.
Dieser weitverbreitete funktionale Analphabetismus in Sachen Energie und Energieverbrauch spielt denen in die Hände, die zum Beispiel mit absurder Desinformation Stimmung gegen energetisch zweifelsfrei und glasklar überlegene Wärmepumpen gemacht haben.
Oder denen, die weiterhin Zweifel daran säen wollen, dass E-Autos Verbrennern hoch überlegen sind, was Energieeffizienz und Emissionen angeht. Oder jenen, die immer noch so tun, als gebe es eine Alternative zum in Wahrheit unaufhaltsamen Siegeszug der erneuerbaren Energien und der Speichertechnologie. Wer nicht einmal die entscheidenden Maßzahlen richtig versteht, lässt sich leichter verladen.
All das muss sich schleunigst ändern: Die Zukunft ist ohne Zweifel elektrisch – es wird Zeit, dass wir die Sprache lernen, in der über diese Zukunft gesprochen wird.
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