Hier Geschichte von Tobias Stahl • 11.3.24
Zweifelhafte Studie über E-Autos: Jetzt nimmt sie ein Chemiker auseinander
Der Verein deutscher Ingenieure (VDI) hat Ende 2023 eine Studie zur Klimabilanz von Elektro- und Verbrenner-Pkw vorgelegt – EFAHRER.com berichtete. Das Expertengremium „Antriebe“ der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik hat dazu Fahrzeuge der Kompaktklasse wie VW ID.3, Ford Focus, Toyota Corolla Hybrid und VW Golf auf den Prüfstand gestellt.
Im Rahmen der Analyse wurden die CO₂-Emissionen beim Fahren und Aufladen beziehungsweise Tanken, aber auch die bei der Produktion des Autos, der Motoren und der Batterien entstehenden Emissionen untersucht. Der VDI kommt in der Studie unter anderem zum Ergebnis, dass ein durchschnittliches E-Auto der Kompaktklasse ab etwa 90.000 Kilometern Laufleistung klimafreundlicher fährt als ein vergleichbarer Verbrenner. Würde man ausschließlich Ökostrom tanken, sinkt diese Schwelle auf 65.000 km. Ein Elektroauto stößt demnach 24,2 Tonnen CO₂ in seinem Lebenszyklus aus, den der VDI auf eine Laufleistung von 200.000 Kilometern festgelegt hat. Ein Diesel-Pkw verursacht auf der gleichen Strecke 33 Tonnen CO₂, ein Benziner 37 Tonnen.
„Wenn ich als Grundannahme wähle, dass jeder Partygast 200 Milliliter Bier trinkt, dann wird's am Ende trotzdem eng“
Im Berufsnetzwerk LinkedIn meldete sich der deutsche Autor Jan Hegenberg mit seinen Betrachtungen und Berechnungen zur VDI-Studie zu Wort. Hegenberg ist Gründer und Betreiber des Faktencheck-Blogs Graslutscher und Verfasser des Buchs „Weltuntergang fällt aus“. Hegenberg zweifelt einige der für die VDI-Berechnungen zugrunde gelegten Werte an. Diese wirken laut dem Faktenchecker zwar „erst mal plausibel“, das Problem seien jedoch die Parameter. „Ich kann ja so gut rechnen, wie ich will, aber wenn ich als Grundannahme wähle, dass jeder Partygast 200 Milliliter Bier trinkt, dann wird's am Ende trotzdem eng“, erklärt Hegenberg.
So habe der VDI die CO₂-Emissionen bei der Herstellung von Batterien mit 105 Kilogramm CO₂ pro kWh Kapazität angegeben. „Das bisher als am robustesten geltende Ergebnis aus der 2019er-IVL-Studie [die sogenannte „Schwedenstudie“, Anm. d. Red.] war eine Range von 61 bis 106 kg CO₂/kWh“, stellt der Faktenchecker fest. Der VDI ordnet die CO₂-Emissionen also am oberen Ende der Skala an, die im Rahmen der „Schwedenstudie“ errechnet wurde. Diese ist inzwischen zudem vier Jahre alt, die Zellfertigung dürfte in dieser Zeit umweltverträglicher geworden sein, nicht jedoch umweltschädlicher. „Warum er überhaupt die Fertigung pauschal mit (dem zudem noch falschen) chinesischen Kohlemix durchrechnet, wird nicht ganz klar, verwenden deutsche Autofabriken gerade perspektivisch Batterien aus Europa, Südkorea und China“, merkt Hegenberg weiter an.
Hegenbergs zweiter, wichtiger Kritikpunkt bezieht sich auf den in der VDI-Studie angesetzten Verbrauch des VW Golf 2.0 TDI, für den der VDI „fantastische 3,6 Liter (!) Diesel“ auf 100 Kilometern angibt. Der Onlinedienst Spritmonitor gibt für dieses Modell einen Durchschnittsverbrauch von 5,83 Litern auf 100 Kilometer an, zudem setze das Verkehrsministerium den Schnitt aller Diesel-Pkw laut Hegenberg doppelt so hoch an. Das Branchenmagazin Auto Motor und Sport (ams) kommt für den VW Golf 2.0 TDI auf einen Verbrauch zwischen 4,4 Litern (ams-Eco-Verbrauch) und 7,5 Litern (ams-Sportfahrer-Verbrauch). Der Pendler-Verbrauch soll bei 5,9 Litern liegen. Der VDI gibt den Verbrauch des Diesel-Pkw also offenbar zu niedrig an.
Verbrenner gegen Stromer: Sind die vom VDI zugrunde gelegten Werte plausibel?
Hegenberg kritisiert weiter: Die VDI-Studie berechne die Emissionen für ein E-Auto für den schlechtesten Wert „nicht etwa mit dem Strommix“, sondern mit dem sogenannten 'Marginalmix'“. „Die Idee: Wenn ich ein E-Auto ans Netz anschließe, dann muss in dem Moment ein Kohlekraftwerk hochfahren, um die Mehrleistung zu erbringen, denn all der erneuerbare Strom wird schon von anderen verbraucht“, stichelt der Faktenchecker. Dieses Konzept habe aber zahlreiche Unstimmigkeiten. So sei etwa unklar, welche Verbraucher stattdessen den Erneuerbaren-Strom laden. Die Berechnungsmethode impliziere zudem, dass E-Autos null Gramm CO₂ ausstoßen, wenn aktuell mehr erneuerbarer Strom zur Verfügung steht als benötigt wird. Außerdem können Kohlekraftwerke nicht so schnell hochfahren, dass sie überhaupt zur Netzstabilisierung verwendet werden können. „Wenn überhaupt, müsste Gasstrom angenommen werden“, erklärt Hegenberg.
Der Strommix in Deutschland liege aktuell bei unter 400 Gramm CO₂/kWh, mit sinkender Tendenz in den kommenden Jahren aufgrund des Erneuerbaren-Ausbaus. Der VDI ziehe zur Berechnung bis 2025 im Marginalstrom-Szenario jedoch 750 Gramm CO₂/kWh an, kritisiert der Faktenchecker. „Interessant in diesem Zusammenhang: Für die Produktion von Diesel und Benzin macht der VDI diese pfiffige Unterscheidung komischerweise nicht“, schreibt Hegenberg. „Da fährt der VW Golf TDI mit Standard-Diesel, auch wenn die OPEC die Förderung drosselt und mehr kanadisches Schieferöl hier ankommt.“
Hegenbergs bissiges Fazit:
„Wenn Batterien viel klimaschädlicher wären als sie sind,
der Strommix viel schmutziger wäre als er ist und
Verbrenner viel sparsamer gefahren würden als es der Fall ist,
dann wären beide Antriebsarten etwa gleich gut.
Und wenn meine Oma ein Auto wäre, könnte sie hupen.“
VDI bezieht Stellung zur Kritik an der Ökobilanz-Studie
In den Kommentaren unter Hegenbergs Beitrag melden sich Zweifler und Unterstützer zu Wort, aber auch der VDI selbst bezieht Stellung. Der Verein bleibt jedoch bei seinen Ergebnissen: Man habe die Emissionen bei der Batterieherstellung neu berechnet und sich dabei auf die "ecoinvent"-Datenbank gestützt. Diese Datenbank des schweizerischen Ecoinvent-Zentrums gilt aktuell als ein weltweit führendes Datensystem für Daten zur Ökobilanz unterschiedlicher Fahrzeuge. „Wir wollten hier in der Untersuchung die komplette Kette selbst erarbeiten“, schreibt der VDI.
Der Dieselverbrauch des Golf, der mit 3,6 l/100 km angegeben wurde, sei tatsächlich herangezogen worden, „aber nicht in den Zahlen auf unserer Pressekonferenz, im Factsheet und der Zusammenfassung der Studie“, erklärt der VDI. „Dort war es der zulassungsrelevante und überall verbreitete WLTP-Verbrauch 4,2 l/100 km“, wohl wissend, dass auch der WLTP-Verbrauch seine Schwächen habe. Tatsächlich gilt der WLTP-Verbrauch auch bei Elektroautos lediglich als Richtwert, der in reellen Fahrszenarien teils deutlich nach oben oder unten abweichen kann.
Hegenbergs Aussage über die Berechnung des Strom- beziehungsweise Marginalmix sei in seiner jetzigen Form unzutreffend, so der VDI. „Wir berechnen alle E-Fahrzeuge in der Studie [...] mit dem Strommix. Zusätzlich wird auch hier ein Szenario Marginalansatz herangezogen. Ebenso aber auch ein Szenario Solar. Dieses weisen wir auch in unserem Factsheet zur Studie und der Pressemitteilung genauso aus.“
Der Betreiber des VDI-Profils auf LinkedIn lädt Hegenberg in einem weiteren Kommentar dazu ein, „in einen weiteren fachlichen Austausch zur Studie“ zu gehen. Bislang hat Hegenberg auf das Angebot aber nicht reagiert – es bleibt spannend.
Auch ein deutscher Chemiker und Batterieexperte kritisiert die Annahmen der VDI-Studie
In einem jüngst erschienenen YouTube-Video präsentiert auch der deutsche Chemiker und Batterieexperte Tom Bötticher seine Gedanken zur Studie. Auch Bötticher macht sich für eine differenzierte Betrachtung der Studienergebnisse stark.
So habe der VDI in seiner letzten Ökobilanz-Studie von 2020 die CO₂-Emissionen bei der Herstellung eines Elektroauto-Akkus mit 185 Kilogramm CO₂ pro Kilowattstunde Batteriekapazität angegeben. Knappe vier Jahre später liegt dieser Wert jedoch nur noch bei 102 Kilogramm CO₂ pro Kilowattstunde. Dabei handle es sich um eine Konsequenz der Skalierungs- und Lerneffekte, die in der noch recht jungen Batterieindustrie zutage treten. Perspektivisch dürfte dieser Wert laut Bötticher weiter sinken, zumal aktuell zahlreiche Batteriefabriken in Europa entstehen, die stärker auf die Nachhaltigkeit der Energiespeicher achten und von einem immer höheren Anteil Erneuerbarer Energien in der Produktion profitieren.
Auch Bötticher kritisiert zudem den in der Studie zugrunde gelegten „Marginalmix“, laut dem E-Autos hauptsächlich mit Kohlestrom geladen werden, weil jedes gekaufte E-Auto letztlich den Stromverbrauch erhöhe – ein Argument, das laut dem Batterieexperten „kompletter Mist“ ist. Schließlich werde mit jedem gekauften E-Auto anderswo auch ein fossiler Energieträger abgeschaltet. E-Autos können laut Bötticher außerdem mit eigens produziertem Solarstrom geladen werden oder von flexiblen Stromtarifen profitieren, bei denen besonders viel Erneuerbaren-Strom genutzt wird. Zudem gibt Bötticher zu bedenken, dass der deutsche Strommix seit Jahren kontinuierlich CO₂-ärmer wird.
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