Sonntag, 10. März 2024

Gegen den Backlash: Feministischer Aktivismus "Nicht einen Schritt zurück"

hier  Zeit  Von Andrea Böhm und Carlotta Wald  Aktualisiert am 8. März 2024

Der globale Backlash gegen Frauenrechte ist in voller Fahrt. Jetzt wächst in vielen Ländern der Widerstand.

Der Mann mit der Kettensäge, Javier Milei, war noch keine Woche im Amt, da traf ihn der Zorn der Frauen. "Ni un paso atrás" – "Nicht einen Schritt zurück" –, skandierten auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires mehr als 50.000 Menschen. Es war der 25. November 2023, der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen, und die Demonstranten, unter ihnen auch Männer, schrien ihre Wut heraus gegen Milei: Argentiniens neu gewählter Präsident hatte unter anderem versprochen, das Ministerium für Frauen abzuschaffen und Abtreibung wieder unter Strafe zu stellen. "Ni un derecho menos" – "Kein Recht weniger" –, rief auf der Plaza de Mayo die Anwältin und Künstlerin Lala Pasquinelli, eine der Organisatorinnen des Protestes.

Und das war erst der Anfang: Wenn Pasquinelli und ihre Verbündeten jetzt, zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, wieder zum Protest aufrufen, rechnen sie mit bis zu 500.000 Teilnehmern.

In Liberia war der Mann mit den tiefen Taschen, Verteidigungsminister Prince C. Johnson, keine zehn Tage im Amt, da fegten ihn die Frauen weg. "Tritt zurück, oder wir kommen zu dir nach Hause", riefen Tausende in dem westafrikanischen Land. Mit Matratzen, Kochgeschirr und Reifen blockierten sie Hauptverkehrsstraßen (wow, ganz ohne Traktoren!) und forderten besseren Sold und bessere Kasernen für ihre Männer in der Armee. Johnson, in Korruptionsskandale verwickelt, musste seinen Rücktritt einreichen. Heute sitzt auf seinem Stuhl eine Frau.

In Frankreich löste Präsident Emmanuel Macron Anfang dieser Woche eine Forderung von Frauenrechtlerinnen ein: Auf seine Initiative hin verankerte die Nationalversammlung das Recht auf Abtreibung in der Verfassung. An der Fassade des Eiffelturms leuchtete die Parole "Mon corps, mon choix" – "Mein Körper, meine Entscheidung".

Drei Länder, drei Beispiele für den Widerstand gegen einen globalen "organisierten Backlash". So beschreiben die UN in ihrem jüngsten Jahresbericht zur Geschlechtergerechtigkeit, was derzeit auf der Welt passiert.

In China fordert Staatschef Xi Jinping Frauen auf, zu Hause zu bleiben und Kinder zu gebären. Gleiches propagieren in Deutschland Mitglieder der AfD, von denen einige Frauen sogar zu Eizellspenden verpflichten wollen. In Ungarn empören sich Anhänger von Viktor Orbáns Fidesz-Partei über einen Frauenanteil von 55 Prozent an Unis: "Rosa Bildung" sei gefährlich. In vielen Ländern steigt die Zahl der Femizide, in Österreich wurden vor wenigen Wochen an einem Tag vier Frauen und ein Mädchen von Männern ermordet. In Russland dürfen Ehemänner ihre Frauen straffrei schlagen, solange diese daraufhin nicht ins Krankenhaus müssen. In Argentinien werden Milei-kritische Journalistinnen bedroht, ihre Telefonnummern und Adressen ins Netz gestellt.

Die "Rache der Patriarchen" nennen Erica Chenoweth und Zoe Marks diese Entwicklungen. Die Politikwissenschaftlerinnen der Harvard-Universität untersuchen seit Jahren empirisch Erfolge und Scheitern sozialer Bewegungen. Es sei kein Zufall, schreiben sie, dass Attacken gegen Feminismus, Gendertheorie und frauenfördernde Politik mit einem wachsenden Hang zum Autoritären einhergehen. Demokratie und Frauenrechte bedingen einander. Wo Erstere geschliffen wird, geraten auch Letztere schnell in Gefahr. "Freie, politisch aktive Frauen", so Chenoweth und Marks, "sind eine Bedrohung für autoritäre und zum Autoritarismus neigende Führer."

Umso bemerkenswerter ist die Furchtlosigkeit, mit der Frauen weltweit aufbegehren. Die Hartnäckigkeit, mit der sie mobilisieren, Wahlen beeinflussen, Themen setzen.

Das bekam zuletzt die nationalkonservative PiS-Partei in Polen zu spüren. Ihre populistisch-antifeministische Politik wurde ihr zum Verhängnis: Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, mit der die PiS wie viele konservative Parteien weltweit versucht hatte, ihr Profil zu schärfen, hatte vor allem junge Polinnen auf die Straße getrieben. In "schwarzen Protesten" gedachten sie Frauen, die an Komplikationen in der Schwangerschaft gestorben waren, weil Ärzte aus Angst vor Strafverfolgung keinen Abbruch vorgenommen hatten. Die Regierung reagierte mit Repressalien gegen die Demonstrantinnen.

"Jetzt müssen wir erneut um grundlegende Menschenrechte kämpfen"

Bei den Wahlen im vergangenen Oktober gaben dann erstmals in der Geschichte Polens mehr Frauen als Männer ihre Stimme ab – mehrheitlich für Parteien, die sich für eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze starkmachten. Überrascht konnte darüber nur sein, wer das Recht auf Schwangerschaftsabbruch für ein nebensächliches Frauenthema hält.

Nicht, dass Frauen grundsätzlich weniger anfällig für Rechtskonservatismus und -populismus wären – Politikerinnen wie Marine Le Pen in Frankreich, Alice Weidel in Deutschland, Giorgia Meloni in Italien sind prominente Gegenbeispiele. Ältere Polinnen wählen bis heute am liebsten die PiS. Entscheidend bei der Abstimmung im vergangenen Jahr in Polen waren jedoch jene Frauen, die bis dahin nicht gewählt hatten. Und die vielen Menschen, die den Abbau des Rechtsstaates nicht mehr hinnehmen wollten.

Auf eine vergleichbare Wut hofft Lala Pasquinelli in Argentinien – und dass sie etwas schneller wirken möge als in Polen, wo sich die PiS acht Jahre lang an der Macht halten konnte.

Die 48-jährige Pasquinelli hatte im Jahr 2015 nach der Ermordung einer Jugendlichen durch ihren Freund eine Protestbewegung mit ins Leben gerufen, die schon bald erste Erfolge erzielte. 2019 wurde in Argentinien ein Ministerium für Frauen, Gender und Diversität gegründet, Not-Telefone für Opfer häuslicher Gewalt wurden eingerichtet, Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legalisiert. Doch dann zog 2023 Javier Milei in den Präsidentenpalast und mit ihm der antifeministische Backlash: "Ein historischer Rückschlag", sagte Pasquinelli vergangene Woche in einem Zoom-Gespräch mit der ZEIT. "Jetzt müssen wir erneut um grundlegende Menschenrechte kämpfen."

Der selbst ernannte "Anarchokapitalist" hatte die Wahlen im vergangenen Herbst deutlich gewonnen – mit dem Schwur, den Staatsapparat zu zerlegen (symbolisiert durch die Kettensäge). Freiheit versprach er vor allem für den Markt und fand damit Zuspruch insbesondere bei jungen, von massiver Arbeitslosigkeit betroffenen Männern. Denen stellte er nicht nur das Ende der Eliten in Aussicht, sondern auch das Ende der "feministischen Agenda", die Argentinien angeblich in die ökonomische Dauerkatastrophe geführt habe.

Für den Massenprotest am 8. März mobilisieren Aktivistinnen wie Pasquinelli seit Wochen. Wobei es eben keine reine Frauendemonstration werden soll. "Wir protestieren auch gegen die Inflation", sagt sie, "die steigende Armut, die gekürzten Sozialausgaben." Mit Notärzten, Sanitätern und Erste-Hilfe-Zelten stellt man sich auf staatliche Gewalt ein: In den vergangenen Wochen war die Polizei mit Gummigeschossen und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgegangen.

Gummigeschosse. Wasserwerfer. Und auf der anderen Seite Frauen: Symbolisch beschreibt die Szene ganz gut den Kampf für und gegen mehr Geschlechtergerechtigkeit, der seit Mitte der Neunzigerjahre weltweit tobt. Damals demokratisierten sich nach dem Zerfall des Ostblocks zahlreiche Staaten in Osteuropa und Afrika. Gesetze wurden liberalisiert. Frauen und sexuelle Minderheiten erstritten neue Rechte.

"Wir werden Geschichte schreiben"

Die UN, damals noch mehr respektiert als heute, verknüpften Frauenrechte mit Sozial- und Sicherheitspolitik. Je mehr Gleichberechtigung in Ländern herrsche – so die empirische Erfahrung –, desto erfolgreicher der Kampf gegen Armut, je mehr Familienplanung, desto gesünder Mütter und Kinder. Vor allem gegen Letzteres, die Familienplanung, liefen religiöse Gruppen sofort Sturm. Evangelikale Organisationen aus den USA und Lateinamerika vernetzten sich in erstaunlichem Tempo mit konservativen und nationalistischen Gruppen in Osteuropa und Afrika gegen einen neuen gemeinsamen Feind: Eine "liberale, säkulare westliche Elite", die mit ihrer "homosexuellen und feministischen Agenda" die traditionelle Kleinfamilie und damit die Gesellschaft bedrohe.

Die ersten Gesetze zur drakonischen Bestrafung von Homosexualität in Uganda trugen ebenso die Handschrift amerikanischer Lobbyisten wie die Strafkataloge russischer Regionalparlamente für "homosexuelle Propaganda". Heute mobilisieren Gruppen wie die in Spanien gegründete Plattform CitizenGo mit Onlinepetitionen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in der EU oder Frauenrechtlerinnen in Kenia – finanziell unter anderem unterstützt von russischen Oligarchen wie dem Putin-Vertrauten Konstantin Malofejew. Der hat wiederum gute Kontakte zur AfD.

Die antifeministische Internationale ist derzeit etwas besser aufgestellt als ihre politischen Gegnerinnen und Gegner. Aber das heißt nicht, dass ihr überall der politische Durchmarsch gelingt.

Auch nicht in den USA, wo der Oberste Gerichtshof im Juni 2022 unter dem Jubel der Abtreibungsgegner und dem Beifall von Donald Trump die Entscheidungsfreiheit von Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch gekippt hatte. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner reagierte empört. Bei den Mid-Term-Wahlen im Herbst 2022 schnitten die Republikaner schlechter ab als erwartet, was Beobachter auch als Folge der Abtreibungsdebatte werteten. In mehreren Bundesstaaten stimmten Wählerinnen und Wähler seither über Parteigrenzen hinweg per Referendum dafür, Frauen weiterhin den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen. Der kompromisslose Kurs seiner Partei könnte Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl im November Stimmen kosten.

Wer nicht wolle, dass die Erzählung vom Feminismus als linker, männerfeindlicher Ideologie weiter um sich greift, sagen die Harvard-Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Zoe Marks, müsse sich ein Beispiel an rechten Netzwerken nehmen und ebenfalls effektive globale Koalitionen schmieden. Und die Zivilcourage und Protestformen jene Gruppen studieren, die am härtesten für ihre Erfolge kämpfen müssen. Die streiten in der Regel nicht um inklusive Toilettenschilder in Universitäten oder geschlechtsneutrale Pronomen, sondern um existenziellere Probleme. Zum Beispiel bei den gut organisierten Untergrundschulen für Mädchen in Afghanistan; im anhaltenden, oft lebensgefährlichen Widerstand iranischer Frauen und Männer gegen das Regime und dessen markantestes Symbol, die Verschleierungspflicht; bei den Protestbewegungen gegen sexualisierte Gewalt in afrikanischen Ländern.

Die liberianischen Frauen können auf eine lange, bittere Widerstandsgeschichte zurückblicken. Mit Massenblockaden und anderen Aktionen – darunter einem landesweiten Sex-Streik – hatten sie vor zwanzig Jahren zum Ende eines verheerenden Bürgerkriegs beigetragen und in den folgenden Jahren immer wieder gegen die Straffreiheit von Warlords mobilisiert.

Auch in Argentinien demonstrierten schon Ende der Siebzigerjahre Großmütter auf der Plaza de Mayo und verlangten von der Militärdiktatur Auskunft über das Schicksal ihrer verschwundenen Söhne, Töchter und Enkelkinder. Netzwerke von Frauen organisierten Suchtrupps nach Vermissten. Diese Strukturen bestehen bis heute fort. "Wir werden Geschichte schreiben" – der Satz soll an diesem Internationalen Frauentag auf dem Transparent von Lala Pasquinelli stehen.


Ich frage mich: wie passt das zur aktuellen Blockade von Marco Buschman? hier

NTV  hier  10.03.2024

"Für Frauenrechte eintreten"

Liberale und Grüne wollen Abtreibung im EU-Grundrecht verankern

Frankreich nimmt vor wenigen Tagen als erstes Land der Welt das Recht zur Abtreibung in seine Verfassung auf. Grüne und Liberale im EU-Parlament fordern jetzt eine ähnliche Änderung: "Das Recht auf sicheren Schwangerschaftsabbruch gehört als Grundrecht in die EU-Charta."

Nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron haben sich auch Liberale und Grüne im Europaparlament dafür ausgesprochen, das Recht auf Abtreibung in die EU-Grundrechtecharta aufnehmen zu lassen. "Das Recht auf sicheren Schwangerschaftsabbruch gehört als Grundrecht in die EU-Charta", sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Terry Reintke dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen dürfe nicht von politischen Mehrheiten abhängen.

Warum sich Deutschland bei Abtreibungen an 1993 klammert

Auch die Vorsitzende der Liberalen, Renew-Fraktionschefin Valérie Hayer, sagte dem RND, dass sie den Vorstoß Macrons unterstütze: "Während die radikale Rechte hart daran arbeitet, neue Wege zu finden, um ihre reaktionäre Agenda durchzusetzen, müssen wir in einer wirklich liberalen Gesellschaft entschlossener denn je für die Rechte der Frauen eintreten: Das Recht auf Abtreibung muss in die EU-Grundrechtecharta verankert werden, denn Frauenrechte dürfen wir niemals den Populisten überlassen."

Paris nimmt Freiheit zur Abtreibung in Verfassung auf

Macron hatte am Freitag erklärt, die Freiheit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, solle in die Charta der Grundrechte der EU aufgenommen werden. Davor hatten am Montag die beiden französischen Parlamentskammern mit breiter Mehrheit dafür gestimmt, das Recht auf Abtreibung in der Verfassung des Landes zu verankern. Bei einer Zeremonie zur feierlichen Besiegelung dieser Verfassungsänderung erklärte Macron, dies solle auch in die Grundrechte-Charta der Europäischen Union aufgenommen werden. "In Europa ist heute nichts mehr selbstverständlich und alles zu verteidigen."

"Es ist nur der Beginn des Kampfes", fuhr Macron fort. "Wir werden erst Ruhe geben, wenn das Versprechen (der Gleichberechtigung) überall in der Welt gehalten wird." Die EU-Grundrechtecharta ist nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung für alle Staaten der Europäischen Union außer Polen verbindlich.

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