Zeit hier 4. März 2023, Interview: Elisabeth von Thadden
Nikolaj Schultz: "Die ökologische Klasse ist potenziell in der Mehrheit"
Der Soziologe Nikolaj Schultz denkt Klimafragen in Begriffen der Marxschen Klassentheorie. In der Ökologie gehe es nämlich nicht um Frieden, sondern Konflikt.
.... In unserem Neuen Klimaregime – einer Epoche, die durch ökologische Katastrophen und klimatische Mutationen bestimmt wird – erleben wir jetzt die Transformation der Infrastruktur der Gesellschaft. Noch einmal: Alles Feste löst sich in Luft auf!
Als Ergebnis sehen wir, dass sich eine ökologische Klasse herausbildet und gestärkt werden muss.
ZEIT ONLINE: Wer gehört ihr an?
Schultz: Sie besteht aus all denjenigen, die gegen die Praktiken der Produktion selbst und deren Horizont kämpfen. Ihr gemeinsames Interesse ist auf die Erhaltung der lokalen und planetarischen Lebensbedingungen gerichtet. Ihr Kampf will die Bewohnbarkeit der Erde erhalten.
ZEIT ONLINE: Wer ist das Subjekt in dieser Geschichte?
Schultz: Die Zeitungen sind voll von Beispielen neuer Gegnerschaften. In meiner dänischen Heimatstadt Aarhus hat sich eine große Gruppe von Menschen zusammengefunden, um gegen den Ausbau des Industriehafens der Stadt zu kämpfen, weil dieser das Meeresleben der Stadt zerstört und enorme CO₂-Emissionen, Verkehr und Luftverschmutzung mit sich bringen wird. Das Gleiche könnte man über die Menschen in Lützerath sagen, die gegen den Kohleabbau kämpfen. Oder über den Fall der Insel Porquerolles, den ich in meinem neuen Buch Land Sickness untersuche. Dort entsteht eine neue sozio-ökologische Spaltung in den ökologischen Ruinen einer Tourismuswirtschaft, die die Luft, das Land und die Gewässer der Insel verschmutzt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Tourismus auf der Insel aufrechterhalten oder ausbauen wollen, und auf der anderen Seite diejenigen, die dafür kämpfen, diese Praktiken einzuschränken, weil sie zerstörerische Folgen für die ökologischen Lebensbedingungen auf der Insel haben. Viele weitere Beispiele könnten angeführt werden. Immer handelt es sich um eine völlig heterogene Gruppe von Menschen, die jedoch aufgrund ihres gemeinsamen Interesses, dem buchstäblichen Raub des Bodens entgegenzutreten und seine Bewohnbarkeit zu erhalten, als eine Art geosoziales Kollektiv auftreten.
ZEIT ONLINE: Dieses Buch Land Sickness, das bald auf Englisch erscheint, erzählt fast poetisch von Ihrer "Landkrankheit": einem Gefühl der existenziellen Entwurzelung und Entfremdung, das der Klimawandel hervorbringt. Ist diese Erfahrung der Grund, warum Ihre Texte in der jungen Generation wie Handbücher gelesen werden?
Schultz: Ich glaube, in der längst routinierten Redeweise der Klimaberichte des IPPC oder der Klima-Wissenschaftsprosa steckt nicht mehr viel Hoffnung. Jedenfalls reicht diese Art zu reden nicht aus. Wir brauchen eine eigene Ästhetik und auch eine ernst zu nehmende Intellektualisierung der Klimafragen, um Menschen nicht nur zu informieren. Wir sollten ihrem Interesse an einer bewohnbaren Erde gedanklich angemessen und auf ästhetisch anziehende Weise Ausdruck geben. Da gibt es nicht nur eine junge Generation, sondern eine große Mehrheit von Menschen, die sich unwohl fühlt, zugleich gelähmt, auf eine diffuse Weise schuldig und ratlos. Ich meine, es kommt darauf an, ihnen für ihr Selbstverständnis als ökologische Klasse Begriffe zu leihen: etwa den Anspruch, als Erben der Werte von Freiheit und Emanzipation anzutreten, um sie neu zu begreifen, damit die Erde erhalten bleibt. Wer sich als von der Erde abhängig versteht, gewinnt auch eine neue Freiheit zu handeln und lebendig zu werden.
ZEIT ONLINE: Warum kommt es auf Begriffe an, nicht auf die Praxis?
Schultz: Der Liberalismus, die Konservativen oder der Sozialismus haben ihre eigenen Begriffe geschaffen und ihrem politischen Weg eine Richtung gegeben. Ihre Wertehorizonte haben Gedichte inspiriert und Tragödien, sie haben Standardwerke des Denkens hervorgebracht, sie sind jedenfalls nicht bei öden Wissenschaftsreporten stehen geblieben, die natürlich wichtig sind, aber allein nicht genug bewirken. Das pädagogische Reden über Notwendigkeiten führt nirgendwo hin. Ökologen versetzen die Menschen in Panik oder bringen sie vor Langeweile zum Gähnen, und beides wirkt lähmend. Darüber habe ich auch mit Luisa Neubauer gesprochen, die in meinen Augen ein wirklich politischer Mensch ist und weiß, dass die Politik der Bilder, Visionen und Ideen bedarf, um sich zu entfalten und Menschen zu mobilisieren. Ohne eine aufbauende ideologische und ästhetische Arbeit in diesem Sinne wird sich die Lähmung nicht überwinden lassen. Die Affekte brauchen eine positive Richtung. Die ökologische Klasse ist potenziell in der Mehrheit.
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