FAZ hier Artikel von Rüdiger Soldt 1.1.24
Bauprojekte in Gefahr: Vom Schutz der Schienen, die niemand plant
Die Union will nicht das „Ersatzrad“ für Vorhaben der gescheiterten Ampelregierung sein.
Trotzdem könnte es bei der Novellierung des „Allgemeinen Eisenbahngesetzes“ (AEG) zugunsten des schnelleren Wohnungsbaus und einiger städtebaulicher Großprojekte in deutschen Großstädten doch noch eine Zustimmung der Union für einen Änderungsvorschlag der Fraktionen von SPD und Grünen geben. Die Bebauung von ehemaligen Gleis- oder Bahnhofsflächen würde damit in einigen Fällen erst möglich, in anderen in jedem Fall erleichtert.
Eigentlich wollte die Ampelregierung mit der Gesetzesnovellierung im Jahr 2023 Politik für künftige Generationen machen: Sie erschwerte die Nachnutzung und Bebauung stillgelegter Gleise, Bahnanlagen und Bahnhöfe, weil sie für die nächsten Jahrzehnte einen stetig wachsenden Mobilitätsbedarf und einen weiteren Ausbau des Schienennetzes erwartet. Faktisch war danach auf ehemaligen Bahnflächen nur noch der Bau dringend benötigter Infrastruktureinrichtungen wie etwa Panzergaragen oder Windparks möglich.
Denn im Gesetz hatten die Ampelparteien dem „öffentlichen Interesse am Bahnbetriebszweck“ absoluten Vorrang eingeräumt. In der politischen Realität sind dadurch nun 150 städtebauliche Entwicklungsprojekte gefährdet.
Viele Kommunen und der Städtetag liefen Sturm gegen die Novellierung, nachdem den Stadtplanern in den Bauämtern die Folgen dieser von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Novellierung bewusst geworden waren. Viele bereits geplanten Projekte waren auf der neuen gesetzlichen Grundlage nicht mehr genehmigungsfähig, die „Freistellung“ von der Nutzung für den Bahnverkehr war nicht mehr möglich.
Stuttgart: 5700 Wohnungen stehen infrage
Ende Dezember legten nun die Fraktionen von SPD und Grünen einen Vorschlag zur Änderung des AEG vor, der nach Informationen der F.A.Z. eine realistische Chance haben könnte, in der letzten Sitzung des Bundestags Ende Januar auch mit den Stimmen der Union und eventuell der FDP eine Mehrheit zu bekommen.
Besonders betroffen von der jetzigen Regelung ist Stuttgart mit dem angeblichen Jahrhundertprojekt Stuttgart 21. Dort hat die Stadt im Jahr 2001 von der Bahn für 459 Millionen Euro knapp hundert Hektar Gleis- und Bahnflächen gekauft, um auf ihnen – nach der Fertigstellung von Stuttgart 21 – das neue Quartier „Rosenstein“ zu bauen; der Architektenwettbewerb wurde im Juli 2019 zugunsten des Stuttgarter Büros „asp“ entschieden. Für ein kleines Teilgelände des Quartiers werden gerade die Bauanträge vorbereitet.
Wenn der neue Stuttgarter Bahnhof tatsächlich Ende 2026 in Betrieb gehen sollte, könnte mit dem Bau des Quartiers auf einer Fläche von 85 Hektar wahrscheinlich 2030 begonnen werden. Die dort geplanten 5700 Wohnungen für etwa 10.000 Menschen werden dringend benötigt. Nach der jetzigen Fassung des Eisenbahngesetzes wäre das Quartier nicht genehmigungsfähig, weil dort „Bahnbetriebszwecken“ Vorrang eingeräumt werden müsste – obwohl Politiker von CDU, SPD und FDP seit mindestens zwanzig Jahren damit werben, dass das neue Stadtquartier einer der größten Vorzüge des Stuttgarter Infrastrukturprojekts sei.
CDU: Ein „Treppenwitz der Gesetzgebungsgeschichte“
Einen „Treppenwitz der Gesetzgebungsgeschichte“ nennt deshalb der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) die Novellierung des AEG, die die Ampelparteien nur in „kollektiver legislativer Verirrung“ getroffen haben könnten. Nopper war in den vergangenen Monaten bei Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesbauministerin Klara Geywitz (beide SPD) wegen der speziellen Problematik in Stuttgart vorstellig geworden.
Jede weitere Verzögerung für das „in Europa einmalige Projekt“ (Nopper) ist schlecht für die baden-württembergische Landeshauptstadt. Bis 2040 wird die Stadt ohnehin eine Dauerbaustelle bleiben, dann werden die Bürger fast ein halbes Jahrhundert zwischen Betonmischern und Abraumhalden gelebt haben.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Donth, Mitglied des Verkehrsausschusses, sagte der F.A.Z.: „Der Vorschlag der Fraktionen von SPD und Grünen geht tendenziell in die richtige Richtung. Ich sehe eine Chance, eine Einigung noch vor dem Ende der Legislaturperiode zu erreichen, zumal von der FDP auch ein Vorschlag vorliegt.“
Die Union würde sich von der Formulierung eines „überragenden Interesses“ für den Bahnverkehr am liebsten vollständig verabschieden, will aber das Gespräch mit den beiden Fraktionen im neuen Jahr suchen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und württembergische CDU-Bezirksvorsitzende Steffen Bilger sagte: „Wenn es zu einer Klärung vor der Bundestagswahl kommen soll, dann muss sichergestellt sein, dass es keine Probleme für die geplante Wohnbebauung in Stuttgart gibt.“ Die Union werde keine faulen Kompromisse machen.
Auch Inselflächen dürfen nicht bebaut werden
Es geht indes nicht nur um die Stuttgarter Dauerbaustelle, die sich permanent verzögert und teurer wird, sondern auch um zahlreiche Projekte in anderen Bundesländern. In Berlin können etwa 6000 Wohneinheiten auf einem ehemaligen Bahngelände vorerst nicht gebaut werden; in Biberach ist die Errichtung eines Mobilitätshubs gefährdet.
Und in Nürtingen steht die „Östliche Bahnstadt“ auf der Kippe, ein ökologisches Vorzeigewohnprojekt. „Das ist ein Gelände“, sagte Donth, „auf dem seit 1945 kein Zug mehr gefahren ist.“ Durch die jetzige Gesetzeslage könnten sogar „Inselflächen“ nicht bebaut werden, also Flurstücke, die von Neubauprojekten schon jetzt vollständig umschlossen sind.
Auch der grüne Bundestagsabgeordnete und Stuttgart-21-Gegner Matthias Gastel ist optimistisch, dass es noch in dieser Legislaturperiode eine Lösung für das Problem geben könnte. Der Ball liege bei der Union, die müsse einen Termin vorschlagen und entscheiden, ob sie dem Novellierungsvorschlag zustimmen wolle: „Wir haben mit einem eigenen Gesetzesvorschlag einen gut austarierten Interessenausgleich zwischen dem Schutz noch benötigter Bahnflächen einerseits und der Nutzung für andere Zwecke andererseits vorgelegt. Die nicht mehr benötigten Flächen von Stuttgart 21 sind damit für den Wohnungsbau verwendbar“, sagte Gastel der F.A.Z.
Zugleich stelle der Änderungsvorschlag sicher, dass die Praxis der Entwidmungen strenger als bis Ende 2023 gehandhabt werde. In dem Entwurf heißt es, dass das „überragende öffentliche Interesse“ zum Bau der Infrastruktur entfalle, sobald eine „langfristige“ Nutzung für Eisenbahnzwecke nicht mehr absehbar sei. Außerdem sollen alle Anträge, die vor dem 29. Dezember 2023 gestellt wurden, nach dem alten Gesetz behandelt werden.
Novellierung im Januar oder im Herbst?
Zur Ironie der Novellierung gehört auch, dass ausgerechnet der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Gastel, zumindest aus Sicht von CDU und FDP, als derjenige gilt, der sich 2023 stark dafür eingesetzt hatte, Bahnnutzungen immer den Vorzug zu geben. Dabei liegt das Projekt in Nürtingen sogar in Gastels Wahlkreis. Ein Grund für die übermäßige Verschärfung des Eisenbahngesetzes war allerdings die Erfahrung der Politiker, dass die Bahn in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur jene Strecken stilllegte, die schlicht unrentabel waren.
Der Stuttgarter Oberbürgermeister Nopper hofft jetzt auf eine schnelle Einigung: „Wir brauchen in Sachen Rosensteinquartier Planungssicherheit, weswegen es deutlich besser wäre, wenn die Gesetzesänderung noch Ende Januar 2025 beschlossen würde.“ Denn die neue Bundesregierung könne die Gesetzesänderung frühestens im Herbst 2025 beschließen.
Stuttgart arbeite gerade an den Bebauungsplänen, damit „Anfang der Dreißigerjahre“ mit den ersten Baumaßnahmen für das neue Stadtquartier begonnen werden könne. Für die Stuttgarter ist das immer noch eine vage Wette auf die Zukunft. Sie müssen sich wahrscheinlich noch einmal acht bis zehn Jahre gedulden, bis das Rosensteinquartier mehr ist als ein Pappmodell in einer Ausstellung in einem Ladenlokal in der Nähe des Rathauses.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen