Montag, 30. September 2024

„Ich leide mit den Kunden der Deutschen Bahn mit“

Focus hier  /Kooperation mit Tagesspiegel  29.09.2024, Adrian Schulz und Casper Schwietering

Warum es Deutschland nicht hinkriegt: Schweizer Bahnchef beobachtet Lage

Vincent Ducrot ist der Chef der für ihre Zuverlässigkeit berühmten Schweizer Bahn. Warum kriegt Deutschland nicht hin, was bei unseren Nachbarn möglich ist? Ein Gespräch.



Herr Ducrot, welches Gefühl regt sich in Ihnen als Chef der für Ihre Pünktlichkeit gerühmten Schweizer Bahn, wenn Sie mit dem Zug die Grenze nach Deutschland überqueren?
Ihr Land hat ein sehr komplexes System, das nicht in einem guten Zustand ist. Ich stehe meinem Kollegen Richard Lutz sehr nahe und sage ihm oft: Das ist unglaublich, was ihr leistet – mit dem, was ihr habt. Alle wissen, dass es oft Verspätungen und Probleme gibt. 

In einem Wort: Mitleid.
Ja, das kann man so sagen. Ich leide mit den engagierten Eisenbahnern und den Kunden mit. Aber in Deutschland haben die Rahmenbedingungen in den letzten Jahrzehnten einfach viel weniger gestimmt als bei uns.

Wann war Ihre letzte Bahnreise nach Deutschland?
Im Juni für das EM-Spiel Deutschland–Schweiz nach Frankfurt. Da ist alles gut gegangen. In Frankfurt habe ich Richard getroffen, er kam aus Berlin. Wir hatten einen super Abend, haben zusammen leidenschaftlich das Spiel angeschaut. Also mal etwas anderes als die übliche Arbeitsagenda.

Und Sie haben sich am Frankfurter Hauptbahnhof getroffen – ohne große Wartezeit, bei so langen Anreisewegen?
Ja. Wir haben auch eine Runde durch die Leitzentrale gemacht, die Mitarbeiter begrüßt und sind dann zum Stadionbahnhof gefahren. Aber da waren schon Schwierigkeiten erkennbar: Dieser kleine Bahnhof ist einfach nicht für Tausende Fußballzuschauer konzipiert.
Die Kunden wollen ein absolut zuverlässiges System. Sie wollen ohne Risiko fahren (Vincent Ducrot)

Wie hat Bahn-Chef Richard Lutz darauf reagiert?
Die Probleme sind ihm bewusst. Jeder kann nur das Beste aus dem machen, was er geerbt hat. Richard tut genau das. Ich sage meinen Leuten immer: keine Lektion erteilen, keine Vorwürfe machen. Allein die Diskussion um die Finanzierung der Bahn ist in Deutschland viel schwieriger. Viele Funktionäre wissen gar nicht, was Bahnbetrieb bedeutet.

Um Ihren Fahrplan pünktlich zu halten, stoppen Sie seit dem vergangenen Jahr ICEs mit mehr als 15 Minuten Verspätung kurz hinter der Grenze in Basel und lassen sie nicht weiterfahren. Das ist bei jedem zehnten Zug der Fall. Ist die Deutsche Bahn eine Gefahr für ihre Nachbarn?
Eine Gefahr ist sie nicht. Das Problem haben wir auch mit anderen Ländern. Dieses Jahr waren bisher 93,7 Prozent aller SBB-Reisezüge in der Schweiz pünktlich. Das heißt bei uns: weniger als drei Minuten verspätet …

… in Deutschland liegt die Grenze bei sechs Minuten – und jeder dritte Fernverkehrszug schafft nicht einmal das.
Wir sind sehr stolz auf unser System. Und wir wissen, dass wir ohne internationale Züge noch 0,5 bis ein Prozentpunkt besser wären. Darum haben wir strikte Regeln definiert. Weil die internationalen Züge ab der Grenze als SBB-Züge gelten, dürfen wir sie brechen, sie also bei zu großer Verspätung vorzeitig enden lassen und ihnen einen pünktlichen Ersatzzug von uns vorausschicken. An den neuralgischen Punkten im Netz halten wir ohnehin eine sogenannte warme Reserve vor, also fahrbereite Ersatzzüge mit Lokführer und Begleitpersonal, die im Zug warten. Die Schweizer Reisenden erwarten diese Pünktlichkeit, die Schweizer Politik erwartet diese Pünktlichkeit. Das ist das oberste Prinzip bei uns: sicher und pünktlich fahren.

Ist das Stoppen deutscher Züge auch eine Erziehungsmaßnahme, damit sich die Deutschen endlich anstrengen?
Bis zur Grenze ist die DB verantwortlich. Ab da muss ich meinen Kunden und Kundinnen einen guten Service anbieten. Aber das aktuelle Modell mit Zügen aus Deutschland funktioniert sehr gut. Wir haben es im Fall Basel zusammen mit der DB abgestimmt.

Die Schweiz investierte 2023 pro Kopf 477 Euro ins Schienennetz, Deutschland 115 Euro.
Darum kann die Politik auch mehr von uns verlangen. Allerdings lag die Pünktlichkeit zum Beispiel 2019 nur knapp über 90 Prozent. Auch deshalb wurde ich damals zur SBB geholt.

Nun beträgt die Pünktlichkeit wieder deutlich über 90 Prozent. Sie sind Spitzenreiter in Europa. Liegt das nur am Geld?
Zuerst muss die Basis stimmen: Gleise, Weichen, Stellwerke. Man muss seine Infrastruktur sehr gut überwachen. Wir rechnen: Wie oft haben wir im Durchschnitt an dieser oder jener Stelle eine Störung? Davon ausgehend kann man den Fahrplan entwickeln. In der Westschweiz verlängern wir die Fahrzeiten ab dem nächsten Jahr zum Beispiel etwas, weil wir sehen, dass der jetzige Fahrplan nicht robust genug gegenüber Störungen ist.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland: Unsere Finanzierung ist stabil.
 (Vincent Ducrot)

Ihre Kunden dürften nicht begeistert sein.
Ja, es gab eine politische Diskussion. Aber für die Kunden ist es besser, wir verlängern die Reise um drei, vier Minuten, als wenn sie ihren Anschluss verpassen und eine halbe Stunde auf den nächsten Zug warten müssen. Die Kunden wollen ein absolut zuverlässiges System. Sie wollen ohne Risiko fahren.

Was unternehmen Sie noch, um auf Ihre hohen Pünktlichkeitswerte zu kommen?
Auch die Fahrzeugflotte muss man in einem guten Zustand halten. Als ich gekommen bin, hatten wir alle 10.000 Kilometer ein Vorkommnis, das eine Verspätung von drei oder mehr Minuten verursacht hat. Jetzt sind wir auf 15.000 Kilometer. Diese Zahl bekomme ich jeden Morgen um fünf Uhr, immer aktuell.

Akribisch planen wir auch die Baustellen im Netz. Wir überlegen vorher: Wie viel Zeit darf eine Baustelle in Anspruch nehmen, ohne dass sie den Fahrplan durcheinanderbringt? Manchmal scheitert das an fünf Sekunden. Wir haben an dieser Stelle 15 Sekunden Reserve, aber die Baustelle würde den Zug um 20 Sekunden verlangsamen – dann geht die Planung zurück zum Bauleiter und er muss sie überarbeiten. Wir können den Betrieb perfekt am Computer simulieren, inklusive der Baustellen, sogar inklusive des Wetters, denn auch das hat einen Einfluss. Ich kann Ihnen heute vorhersagen, wie pünktlich wir morgen fahren werden.

Und?
Heute regnet es, wir liegen bei 91 Prozent. Morgen ist etwas besseres Wetter, da werden wir auf 92 oder 93 Prozent raufkommen.

Wenn Sie sagen, Baustellen dürfen den Fahrplan nicht stören: Wäre es für Sie denkbar, wie ab jetzt in Deutschland wichtige Strecken ein halbes Jahr komplett zu sperren?
Das wäre schwierig. Bei uns ist das Maximum sechs, sieben Wochen in den Sommerferien.

Halten Sie dann das deutsche Sanierungskonzept für einen Fehler?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt einen Moment, wo Prävention nicht mehr genügt, wo man kurativ vorgehen, wo man behandeln muss. Wenn der Zustand der Strecke zu schlecht ist, hat man keine andere Wahl.

Was ist in Deutschland schiefgelaufen?
Man hat zu wenig für das Netz getan. Das rächt sich heute. Bei uns in der Schweiz hat der Unterhalt und die Modernisierung des bestehenden Netzes Vorrang vor dem Streckenausbau.
Das ist seit 2014 sogar gesetzlich festgelegt. Praktisch alle Stellwerke wurden automatisiert, in Deutschland dagegen werden viele noch manuell betrieben. Bei uns wird der Verkehr von vier Betriebszentralen gesteuert. Schweizweit ist das europäische Zugsicherungssystem ETCS installiert, wir haben in den 90er Jahren damit angefangen. Andere Länder sind erst jetzt daran, dies zu tun. Auf unseren Hauptstrecken kann alle zwei Minuten ein Zug fahren. Ausbauprojekte werden dagegen mit dem Geld finanziert, das nach dem Bestandserhalt noch übrig bleibt. Auch das Volk hat damals diesem Gesetz zugestimmt, darum genießt es eine große Akzeptanz.

Ist die Versuchung für die Politik zu groß, statt dieser konstanten Erhaltung im Kleinen auf schicke Großprojekte zu setzen?
Ja, klar. Auch bei uns. Aber das Gesetz ist klar. Ein weiterer Unterschied zu Deutschland: Unsere Finanzierung ist stabil. Rund sechs Milliarden Franken im Jahr – ein festgelegter Anteil vom Bund, von den Kantonen, aus der Mineralölsteuer, der Mehrwertsteuer und der Lkw-Maut. Dieser Bahninfrastrukturfonds ist gesetzlich geschützt vor Sparmaßnahmen und Regierungswechseln.

Anders als in Deutschland …
Schauen Sie sich nur die jetzigen Diskussionen bei Ihnen an. Zuerst gab es viel Geld für die Bahn, dann wurde der Plan gekippt, jetzt versucht man krampfhaft neue Mittel zu finden. Man muss das langfristig absichern. Ständiger Wechsel ist für ein Unternehmen anspruchsvoll.

Sie meinen den Klima- und Transformationsfonds, dessen Finanzierung vor dem Bundesverfassungs-gericht gescheitert ist?
Genau.

Ihr Vor-Vorgänger Benedikt Weibel schrieb mal, die „Liberalisierungs- und Deregulierungswelle der 1990er Jahre“ habe die Deutsche Bahn in die Krise geführt. Stimmen Sie zu?
Mehr noch als die Marktöffnung war es die Trennung von Infrastruktur, Personenverkehr und Güterverkehr in verschiedene Gesellschaften. Das ist nur nachvollziehbar, dass man dann weniger miteinander spricht und zuerst für sich selber schaut. Auch auf dem Netz der SBB fahren verschiedene Bahnunternehmen, fast 40 Unternehmen des Personen- und Güterverkehrs: Das funktioniert bestens. Zum Beispiel involviert die Infrastruktur-Abteilung die Bahnunternehmen. Sie können sich dazu äußern, wenn eine Baustelle zu große Probleme im Betrieb bereiten würde. Bei einer größeren Störung entscheidet man gemeinsam, was man tut. Das ist ein großer kultureller Unterschied.

Ende vergangenen Jahres wurde eine neue DB-Infrastrukturgesellschaft gegründet, die gemeinwohlorientiert arbeiten soll. Reicht das?
Wichtig ist: Alle Sparten müssen Hand in Hand zusammenarbeiten.

In den Nullerjahren waren Sie SBB-Fernverkehrschef und kümmerten sich etwa um den Gotthard- und den Lötschberg-Basistunnel unter den Alpen, die binnen 20 Jahren fertiggestellt wurden. Deutschland wird wohl 50 Jahre für den Ausbau zwischen Karlsruhe und Basel benötigen – in ebener Fläche. Was denken Sie da?
Das Problem war, dass lange nicht genügend Geld für das deutsche Projekt zur Verfügung stand. In der Schweiz gibt es eine sehr strikte Kontrolle durch die Politik. Wir müssen einmal im Jahr im Parlament berichten: Wo stehen die Projekte? Wenn wir dem Zeitplan hinterherhinken, wird es ungemütlich.

Vielerorts in Deutschland protestieren Anwohner gegen neue Strecken …
… das kennen wir auch. Wir rechnen mit viel Zeit, um mit Anwohnern zu diskutieren, und manchmal geht das vor Gerichte. Das können zwei, drei Jahre Verzögerung sein.

Manche deutsche Bahnstrecken werden seit den 90er Jahren geplant und sind immer noch nicht im Bau.
Unsere Bevölkerung hat eine andere Beziehung zur Bahn. Das gilt auch für die Politik. Ich war heute bei Litra, einer Vereinigung, die sich stark für Bus und Bahn einsetzt. Präsident ist ein wichtiges Nationalratsmitglied, im Vorstand sitzen etwa 20 Politiker. Der öffentliche Verkehr wird politisch unterstützt. Vor Wahlen wollen Politiker Flyer am liebsten in Bahnhöfen verteilen und sich dort fotografieren lassen.

Anders als Deutschland hat die Schweiz nur wenige Hochgeschwindigkeitsstrecken. Für die 350 Streckenkilometer von Basel nach Chiasso brauchen Ihre Züge dreieinhalb Stunden. Ist die Schweiz trotz Ihrer Pünktlichkeit ein Bremsklotz für den europäischen Verkehr – etwa von Deutschland nach Italien?
Eine schnelle Strecke bringt nichts, wenn sie nur wenigen Kunden dient. Wir haben uns entschieden, ein anderes System zu entwickeln. Die Schweiz hat neun Millionen Einwohner, die SBB befördert pro Tag etwa 1,34 Millionen Reisende. Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat ein Abo für den öffentlichen Verkehr. Wir garantieren unseren Kunden 120.000 Anschlüsse im Land – pro Tag. Die Städte und Gemeinden stimmen ihre Verkehre darauf ab. Wenn ich in Bern ankomme, fährt in drei oder vier Minuten ein Bus oder eine Tram in fast jedes Stadtviertel. Das ist die Philosophie in der Schweiz. Die Taktung ist wichtiger als das Tempo. Künftig wollen wir einen Viertelstundentakt im Fernverkehr anbieten.

Bei einer Fahrtdauer unter vier Stunden steigen in der Regel viele Flugkunden auf die Bahn um. Doch schon von Basel nach Mailand braucht man mit der SBB länger. Wie wollen Sie dem Flugzeug jemals Konkurrenz machen?
Wir beobachten, dass die Marktanteile noch bis sechs Stunden Fahrtdauer etwa 50 zu 50 zwischen Bahn und Flugzeug stehen. Manchmal möchten wir auch gern schneller fahren. Aber für schnelle internationale Verbindungen haben wir gar keine Kapazität. Und unser Hauptkonkurrent ist nicht das Flugzeug, sondern das Auto.

Der Deutschen Bahn fehlen 3700 Lokführer, auch die SBB musste schon oft Züge wegen Lokführermangels ausfallen lassen. Anfang des Jahres forderte die deutsche FDP den verstärkten Einsatz von KI, um Menschen zu ersetzen. Ist das eine realistische Option?
Wir hatten vor einigen Jahren ebenfalls einen Mangel an Lokpersonal, weil zu wenig neue Lokführer ausgebildet wurden. Diesen Rückstand haben wir aufgeholt. Für mich ist Lokführer ein Beruf mit Zukunft. Die Technik wird uns Menschen zunehmend unterstützen. Der Beruf wird sich weiterentwickeln. Aber es wird auch in Zukunft Menschen brauchen, die im Zug die Fahrt überwachen und bei einer Störung eingreifen können.

In den neuen SBB-Fernzügen, die ab 2026 auch nach Deutschland fahren sollen, gibt es erstmals getrennte Männer- und Frauentoiletten. Ein Zugeständnis an den konservativen Schweizer Zeitgeist?
Das sind mehr praktische Gründe, die Männertoilette verfügt auch über ein Pissoir. Den Giruno haben wir vor mehr als zehn Jahren geplant. Wir haben Marktforschung gemacht, geschlechtergetrennte Toiletten waren ein Kundenbedürfnis. Deshalb sind einige der zahlreichen Toiletten im Giruno geschlechtergetrennt.

Züge in Europa werden heutzutage auf die Sekunde genau überwacht; es gibt in vielen Modellen immer mehr Sitze pro Wagen und damit immer weniger Platz; die letzten Bordrestaurants, in denen wirklich gekocht wird, wie etwa im tschechischen „Knödelzug“, werden eingespart. Geht uns die Romantik des Bahnfahrens verloren?
Auch in unseren Speisewagen wurde früher noch gekocht. Aber damals dauerten die Reisen auch noch viel länger. Die Fahrt von Bern nach Zürich dauert heute nicht einmal eine Stunde, in dieser kurzen Zeit können Sie keine 20 Reisenden à la carte bekochen. Aber sie können vorbereitete Menüs erhitzen und schön anrichten.

Haben nicht auch Verspätungen einen Wert? So hat man mehr Zeit, seine Mitreisenden kennenzulernen.
Bei uns braucht es wohl eine längere Verspätung, bis wir eher zurückhaltenden Schweizer ein längeres Gespräch beginnen. Aber tatsächlich hatten wir 2005 einen großen Stromausfall, alles stand still. Da mussten sich die Menschen zusammenzutun und Fahrgemeinschaften bilden, damit sie es nach Hause schafften und nicht irgendwo strandeten. Und tatsächlich kamen an diesem Tag sogar Paare zusammen.

Europaweit werden immer noch vier von fünf Fahrten mit dem Auto unternommen. Sie sind jetzt 62 Jahre alt. Werden Sie noch erleben, dass die Bahn wirklich aufholt?
Das hängt von der Politik ab. Heute ist Automobilität sehr günstig und wird stark subventioniert. In einigen Städten baut man dagegen Parkplätze ab, bewegt die Leute, auf das Fahrrad oder den öffentlichen Verkehr umzusteigen. Dann nutzen nur noch 30 oder 40 Prozent das Auto. Man kann das beeinflussen.

Welche ist Ihre liebste Bahnstrecke in der Schweiz – und in Deutschland?
Ich reise vor allem in deutsche Städte und mag Bahnhöfe sehr, zum Beispiel denjenigen in Frankfurt. Auf der Schweizer Seite bin ich gerne auf der Gotthard-Bergstrecke oder in Zermatt auf der Gornergrat-Linie unterwegs.



t-online hier  Meinung Florian Harms ,18.09.2024

Deutsche Bahn: CSU-Minister ruinierten Deutschlands Verkehr – Desaster bleibt

Tagesanbruch: Es ist nicht zu fassen

Auch Politiker sind nur Menschen. Mal leisten sie gute Arbeit, mal machen sie Fehler. Manche Politiker machen mehr recht als schlecht, bei anderen ist es umgekehrt. So ist das eben in einer Demokratie, in der sich die Politiker aus der heterogenen Bevölkerung rekrutieren. Deshalb sollte man nicht verallgemeinern oder gar alle Politiker über einen Kamm scheren. Das wäre unfair.

Mit einer Ausnahme allerdings. Einen Politikertypus gibt es, der hat so viel Schlechtes über die Bevölkerung gebracht, dass ein Muster zu erkennen ist. Dieser Politikertypus heißt CSU-Verkehrsminister. Er hat entscheidend dazu beigetragen, die Mobilität im größten EU-Staat Deutschland herunterzuwirtschaften, die Bevölkerung zu frustrieren und das Vertrauen in die Politik zu beschädigen. Peter Ramsauer war von 2009 bis 2013 Verkehrsminister, Alexander Dobrindt von 2013 bis 2017, Christian Schmidt kommissarisch von 2017 bis 2018 und Andreas Scheuer von 2018 bis 2021. 

Alle vier sind CSU-Männer, und zusammen haben sie so viele Schäden angerichtet, dass keine zehn Tagesanbrüche ausreichen würden, um sie alle aufzuzählen. Den riesigen Etat des Verkehrsministeriums verwendeten sie, um schicke Umgehungsstraßen in Bayern zu bauen, wider besseres Wissen die Autobahn-Maut in den Sand zu setzen und teure PR-Termine zu veranstalten. Währenddessen ließen sie unzählige Autobahnbrücken und das 33.000 Kilometer lange Schienennetz der Deutschen Bahn verrotten.

Ihren Karrieren hat das nicht geschadet. Herr Ramsauer sitzt seit seinem Eintritt 1990 bis heute im Bundestag, wo er auf der Liste der Abgeordneten mit den größten Nebenverdiensten stets weit oben auftaucht. Herr Dobrindt hat sich ins Amt des Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe gerettet, Herr Schmidt hat den Posten des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina ergattert. Und Andi Scheuer? Versilbert seine politischen Kontakte als Berater und Vermögensverwalter.

Die Herren sind also fein raus. Ihr kollektives Erbe hingegen ist desaströs. Die Bahn ist heute ein Sanierungsfall. Milliardenverluste reißen Löcher in die Bilanz, tägliche Verspätungen und Zugausfälle nerven die Bevölkerung, immer mehr Bürger wenden sich von der Bahn ab – und das mitten in der Klimakrise.

Die ehemaligen Verkehrsverhinderungsminister tragen die Hauptschuld an der Misere, aber die wechselnden Bahn-Manager haben eine erkleckliche Mitschuld. Von Mehdorn über Grube bis Pofalla immer dasselbe Muster: Probleme wurden ignoriert oder schöngeredet, während man großspurige Pläne ankündigte, dabei aber die Umsetzung vergaß. Üppige Boni kassierten sie trotzdem.

Die Ampelkoalition hatte geschworen, diesen Augiasstall auszumisten, doch der aktuelle Verkehrsminister Volker Wissing von der FDP hat mittlerweile kapituliert. Für die Generalsanierung der Bahn bräuchte er sehr viel zusätzliches Geld, aber das gibt der Haushalt nicht her, weil sein Chef Christian Lindner auf der Schuldenbremse besteht. Also tut Herr Wissing das, was alle Politiker tun, die sich aus einer Bredouille befreien wollen: Sie schieben den Schwarzen Peter jemand anderem zu und setzen diesen unter Druck. Deshalb hat Wissing den gegenwärtigen Bahnchef Richard Lutz verdonnert, ein großes Sanierungskonzept vorzulegen.

Und Herr Lutz, der bisher nicht durch großartige Management-Leistungen aufgefallen ist, hat gehorcht: Heute präsentiert er dem Aufsichtsrat sein Sanierungsprogramm für den Staatskrisenkonzern. Das 110-seitige Papier hat er in feinster Marketing-Sprache mit dem griffigen Titel "S3" überschrieben. Damit meint er die drei Sanierungsfelder Infrastruktur, Betrieb und Wirtschaftlichkeit; in den kommenden drei Jahren will er die Bahn wieder profitabel und pünktlich machen.

Wer sich das Konzept genauer anschaut, stellt allerdings rasch fest: Fast sämtliche Ziele und auch den Weg dorthin hat Herr Lutz exakt so schon vor fünf Jahren versprochen – und zwar für 2024, also für dieses Jahr. Eingelöst haben er und seine Chef-Kollegen davon jedoch so gut wie nichts. Im Gegenteil: Die Krise der Bahn hat sich verschlimmert.

Das kommt nicht von ungefähr, sondern ist auf handfeste Managementfehler zurückzuführen. Interessiert liest man beispielsweise, dass die Bahn-Häuptlinge sich bei der Personalplanung völlig verkalkuliert haben: Die aktuellen Kosten liegen mehr als sechs Milliarden Euro über der Planung. Deshalb wollen die Manager in den kommenden Jahren mehr als 30.000 Stellen streichen. Wie sich das auf die Qualität und die Pünktlichkeit der Züge auswirkt, können Sie sich denken. Auch die geplante Digitalisierung des Schienennetzes wird wohl auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Stattdessen will man angeblich analoge Technik aus den – halten Sie sich fest – 1990er Jahren einbauen. Einen entsprechenden Bericht hat die Bahn-Chefriege zwar dementiert, allerdings auch keinen Plan vorgelegt, wie sie die notwendigen 54 Milliarden Euro für die digitale Runderneuerung aufzubringen gedenkt. Stattdessen wurde der Manager suspendiert, der das Konzept umsetzen sollte. War er frustriert und hat Interna ausgeplaudert?

Unterm Strich bleibt der Eindruck zurück: Da wird heute kein Sanierungs-, sondern ein Schönwetterkonzept präsentiert. Verkehrsministerium und Bahn-Management brauchen dringend gute Nachrichten, also denken sie sich halt irgendwas Schönes aus. Umsetzen müssen es dann die nächste Bundesregierung und womöglich bald ein neuer Bahnchef. Für Herrn Lutz wird man sicher ein anderes schönes Pöstchen finden.

Falls Sie nun denken: Das ist doch alles nicht zu fassen! Ja, dann sind Sie sicher nicht allein.

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