Samstag, 21. September 2024

Die größte Freiheit im 21. Jahrhundert ist, wenn du da, wo du bist, bleiben kannst.

Der erste Text aus der Zeit gibt ein Interview wieder mit 2 bekannten Personen: Maria Furtwängler und Eckart von Hirschhausen. Es werden interessante Aspekte geteilt.

Im 2. Text geht es um die Biodiversitätsinitiative in der Schweiz. Dort wird am 22.9.24 abgestimmt. Sehr aufschlussreich sind die Zahlen, mit denen sogar von staatlicher Seite argumentiert wird.
Es wird spannend werden!

 Zeit hier  Interview: Dr.Sibylle Anderl  15. September 2024

Biodiversität: "Naturschutz ist nicht irgendein Luxus, kein ‘nice to have’"

Drängt Migration mehr als Klima und Artensterben? Ein Gespräch mit Maria Furtwängler und Eckart von Hirschhausen darüber, was unsere Lebensgrundlage wirklich gefährdet

In München haben sich gerade Politiker, Forschende, Künstlerinnen und Unternehmer getroffen, um auf der Konferenz DLD Nature über Artenvielfalt, die Zerstörung von Ökosystemen und Lösungen für die Zukunft zu diskutieren. Die Schauspielerin und Ärztin Maria Furtwängler und der Moderator und Wissenschaftsjournalist Eckart von Hirschhausen waren Gastgeber der Konferenz. ZEIT ONLINE hat sie gefragt, warum ihnen der Kampf für die Biodiversität so wichtig ist, warum sie uns näher ist, als wir glauben, und was ihnen Hoffnung gibt.

ZEIT ONLINE: Frau Furtwängler, Herr von Hirschhausen, auf der Konferenz hat die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, eine Keynote gehalten und beschrieben, wie ihre Sorge um die Zukunft ihrer Enkel ihren Kampf für besseren Schutz der Natur motiviert. Warum setzen Sie beide sich für die Natur ein?

Maria Furtwängler: Ich bin schon immer sehr naturverbunden gewesen, und in den vergangenen Jahren habe ich noch einmal mit einer neuen Schärfe und Klarheit erkannt, was gerade verschwindet. Das hat mit Insekten, mit Vögeln, mit Fledermäusen zu tun. In diesem Jahr nistet zum ersten Mal keine Fledermaus mehr in meinem Haus. Für mich geht auf diese Weise ein Stück Heimat und Identität verloren. Jeder Mensch, der die Natur liebt, sieht, was sich hier gerade verändert. Der Klimawandel spielt dabei eine Rolle, aber auch die Art wie wir Land nutzen, in der Landwirtschaft oder beim ungebremsten Versiegeln von Flächen.

Eckart von Hirschhausen: Ich bin Berliner und da vergisst man ja schnell, dass nichts von dem, was wir im Supermarkt kaufen, im Supermarkt gewachsen ist. Unsere Eltern nahmen uns in den Urlauben und Radtouren mit in die Natur, mein Vater kannte wahnsinnig viele Pflanzen und Tiere. Mich hat das Thema Biodiversität in einem Gespräch mit der Primatenforscherin Jane Goodall gepackt. Sie stellte mir die ikonische Frage: "Wenn wir Menschen wirklich die intelligenteste Art sind, warum zerstören wir unser eigenes Zuhause?"

Biodiversität: Maria Furtwängler
ist Ärztin und Schauspielerin. Zusammen mit ihrer Tochter gründete sie 2016 die MaLisa Stiftung, die sich für eine freie, gleichberechtigte Gesellschaft und seit 2022 auch für Klima- und Artenschutz einsetzt. In der TV-Doku Das Ende der Insekten, die am 30.9. um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt wird, geht Furtwängler der Frage nach, warum sich die Zahl der Insekten so dramatisch verringert hat.

ZEIT ONLINE: Sie sind beide Ärzte. Dass der Klimawandel unsere Gesundheit gefährdet, merken wir spätestens wieder bei jeder weiteren extremen Hitzewelle. Kann auch der Verlust von Biodiversität uns krank machen?

Hirschhausen: Ja, direkt und indirekt. Geschätzt 70 Prozent aller Medikamente stammen aus der Natur. Mit jeder Art verlieren wir auch dieses heilsame Wissen. Wir verbrennen das Buch des Lebens, bevor wir es gelesen haben, so nennt der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber das. Und ein aktuelles Beispiel für den indirekten Einfluss: In einigen Regionen der USA begannen 2006 Fledermäuse aufgrund einer Pilzinfektion zu sterben. Daraufhin gab es dort plötzlich sehr viel mehr Insekten, die die Ernte zerstört haben und einen Schaden von fast 27 Milliarden Dollar verursachten – dazu gab es Anfang September in der Fachzeitschrift Science eine Studie. Die Antwort der Landwirte dort war, mehr Pestizide einzusetzen. Und jetzt kommt das Medizinische: Plötzlich ist dort die Säuglingssterblichkeit gestiegen. Das sind indirekte Effekte auf die Gesundheit, die bislang nie wirklich einkalkuliert wurden.  

Furtwängler: Ein anderes Beispiel: Parkinson ist seit März dieses Jahres als Berufskrankheit bei Bauern anerkannt, weil sie Pestiziden ausgesetzt waren. Das muss man sich mal vorstellen! Nach wie vor werden unfassbar große Mengen Glyphosat ausgebracht. Das ist nicht einmal das giftigste Mittel, aber auch das wird von der WHO als wahrscheinlich krebserregend eingestuft – ein Mittel, das in 98 Prozent der Urinproben hierzulande zu finden ist. Mit welcher Sicherheit kann man sagen, dass wir nicht in zehn Jahren auch dieses Mittel als sicher schädlich einstufen? Was wir wissen: In Deutschland findet man im Pollen von Honigbienen eine große Zahl verschiedener Pestizide. Das ist die Babynahrung der Bienen. Niemand hat die Wechselwirkung auf den Organismus dieser und anderer Insekten untersucht, wie auch! Und was macht das mit uns?  

Biodiversität Eckart von Hirschhausen
ist Arzt, Moderator und Wissenschaftsjournalist. Mit seiner 2020 gegründeten Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen engagiert er sich für den Schutz der planetaren Gesundheit. Sein Buch Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben, 2021 erschienen bei dtv, erklärt die Zusammenhänge zwischen unserer Gesundheit, dem Klimawandel und dem Verlust von Biodiversität.

ZEIT ONLINE: Warum wissen wir über die Folgen so wenig?
Hirschhausen: Das Weltbild der Medizin ist bis heute sehr auf den einzelnen Patienten zugeschnitten, da finden die Wechselwirkung mit der Umwelt und langfristige und systemische Dynamiken kaum statt. Es muss ja in eine Multiple-Choice-Frage passen: XY ist die Ursache von Z. Und wenn Laborwert A erhöht ist, gib’ Medikament B, dann ist alles wieder gut. Im 21. Jahrhundert funktioniert das nicht mehr.  

ZEIT ONLINE: Warum nicht?  

Hirschhausen: Wir müssen anerkennen, dass wir verletzlicher sind, als wir dachten, das hört niemand gern. Wir sind aber nicht Krone der Schöpfung, sondern Teil von ihr. Mit jedem Atemzug atmen wir eine Kombination von Substanzen ein: Reifenabrieb, Rußteilchen, dann setzt sich da noch eine Polle drauf, die unter Hitze noch aggressivere Proteine hat als sonst, und ein Virus fährt auf diesem Taxi in die Tiefe der Lunge und ins Blut. Deshalb war Corona so schlimm in Gebieten mit viel Luftverschmutzung. Und deshalb nehmen auch Allergien so rasant zu. Feinstaub und Mikroplastik sind heute in jedem Neugeborenen nachzuweisen, in jedem Hirn, was dieses Gespräch verfolgt, und wir wissen heute, wie das zu Demenz, Herzinfarkt und Schlaganfall beiträgt. Solche Kombinationen aus Stoffen, die automatisch in unseren Körper gelangen, gab es früher nicht. Und auch da brauchen wir Natur, denn Bäume und Grünflächen in Städten kühlen nicht nur und halten Wasser zurück, sie sind auch sehr effektive Luftfilteranlagen.  

Furtwängler: Wir müssen uns auch bewusst machen, wie nah die Biodiversität an uns dran ist. Man nimmt an, dass 40 Billionen Mikroorganismen unseren Körper ihr Zuhause nennen. Bakterien, Viren, Milben, Pilze. Wir denken immer, es gebe eine klare Trennung zwischen uns und der Natur. Das ist eine Idee, die aus dem westlichen Denken kommt. So sehr wir von dieser Diversität in uns abhängig sind, so sehr sind wir von der Vielfalt in der Natur um uns herum abhängig, und die nimmt gerade extrem ab.

Was meint Biodiversität alles?
Auch wenn man beim Begriff der Biodiversität meist zuerst an Artenvielfalt denkt: Biodiversität bedeutet mehr. Genetische Vielfalt ist ebenfalls ein Teil davon. So kommen sehr kleine Populationen von Pflanzen, Tieren und Insekten in der Regel mit Klimaveränderungen, Viren oder Bedrohungen sehr viel schlechter zurecht. Das liegt daran, dass es nur eine geringe Wahrscheinlichkeit gibt, dass Exemplare einer Population eine geeignete genetische Disposition besitzen, um mit solchen Herausforderungen zurechtzukommen. Für das Überleben einer Art ist genetische Vielfalt daher zentral wichtig. Ein dritter Aspekt von Biodiversität ist zudem die Vielfalt von Ökosystemen: verschiedene Lebensräume wie Wälder, Seen, Sumpfgebiete oder Meere stehen untereinander in Wechselwirkung und sind somit aufeinander angewiesen.

ZEIT ONLINE: Die Abnahme der Biodiversität betrifft uns Menschen und unsere Gesundheit also sehr direkt. Gleichzeitig ist dieses Problem in der Öffentlichkeit deutlich weniger präsent als das des Klimawandels. Wie kommt das? 

Hirschhausen: Der Treibhauseffekt durch CO₂ wurde schon vor mehr als 150 Jahren beschrieben, die Physik ist klar: Jede Tonne CO₂ macht mehr Hitze. Aber dass eine zurückgehende Fledermauspopulation zur Säuglingssterblichkeit beiträgt, ist deutlich komplexer. Ich glaube, wir brauchen wieder mehr Demut gegenüber dem Netzwerk des Lebens. Dieses Netzwerk trägt uns. Aber mit jeder Art, die verloren geht, geht ein Knotenpunkt darin verloren, und wir fallen ins Bodenlose.

Biodiversität: "Wir denken immer, es gebe eine klare Trennung zwischen uns und der Natur", sagt die Schauspielerin Maria Furtwängler. Doch das stimme nicht.

Furtwängler: Wir haben das Artensterben mindestens um den Faktor 100 beschleunigt. Das letzte große Artensterben war das Verschwinden der Dinosaurier und das hat wohl 30.000 Jahre gedauert. Wäre das zu unseren Lebzeiten passiert, hätten wir das also wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen. Heute geht man davon aus, dass täglich 150 Arten aussterben.

ZEIT ONLINE: Wie können wir etwas gegen den Verlust der Biodiversität ausrichten?

Furtwängler: Es gibt noch zu wenig Bewusstsein dafür, wie sehr dieser Verlust unsere Lebensgrundlage gefährdet. Wir müssen Wege finden, die Menschen zu erreichen. Ich glaube an die Kraft des fiktionalen Erzählens. Wir entwickeln gerade Stoff für eine Klima-Komödie, die wir im nächsten Jahr drehen werden. Aber wir müssen auch über andere Formate nachdenken, TikTok, Comedy, aber auch historische Erzählungen. Ich möchte unbedingt die Geschichte von Maria Sibylla Merian erzählen, der ersten Insektenforscherin. Sie war die Erste, die die Verbindung zwischen der Raupe und ihrer Futterpflanze hergestellt hat. Ich glaube, die allermeisten Menschen haben eine Biophilie, eine Liebe zur Natur, und diese Menschen kann man auch erreichen.

ZEIT ONLINE: Trotzdem sehen viele Menschen bereits das sehr viel bekanntere Problem des Klimaschutzes als nachrangig an. In einer aktuellen Umfrage im Auftrag der ZEIT kommt es in der Liste der wichtigsten Herausforderungen erst an Platz drei nach Migration und Inflation.

Hirschhausen: Wir tun gerne so, als wären das abgetrennte Schubladen, obwohl sie zusammenhängen. Treibende Kräfte von Inflation und Migration sind aber die Klimakrise und der Verlust an funktionierenden Ökosystemen und damit von Nahrungsmitteln und Wasser. Ich mag den Begriff der 'Bleibefreiheit' der Philosophin Eva von Redecker. Sie weist darauf hin, dass wir Freiheit bisher verstehen als 'Ich kann so schnell fahren, wie ich will' oder 'Ich kann reisen, wohin ich will'.
 
Die größte Freiheit im 21. Jahrhundert ist,
wenn du da, wo du bist, bleiben kannst.
Sollten wir diese Freiheit nicht endlich verteidigen?

ZEIT ONLINE: Wenn all diese Probleme so eng zusammenhängen, müsste es nicht auch im Interesse der Wirtschaft liegen, die Natur als wirtschaftlich nutzbare Ressource zu erhalten?
Hirschhausen: Naturschutz ist nicht irgendein Luxus, kein 'nice to have'. Das Teuerste, was wir jetzt tun können, ist, nichts zu tun! Klingt paradox, dreht aber die Perspektive. Also wie stark verschulden wir uns, wenn wir weiter machen wie bisher? Dazu gibt es viele Studien von Rückversicherern, vom World Risk Report, von den großen Beratungsunternehmen, allesamt nicht im Verdacht, links oder grün zu ticken. Unterm Strich ist der sicherste Weg, unseren Wohlstand abzuschaffen, jetzt nicht in den Erhalt unserer Lebensgrundlagen massiv zu investieren. Sonst verlieren wir bereits in den nächsten 25 Jahren 20 Prozent unserer Wirtschaftskraft. Es ist also völlig unökonomisch, was wir gerade tun, auch weltweit. Was die Natur uns 'schenkt', ist ein Vielfaches des globalen Bruttosozialproduktes wert.

ZEIT ONLINE: Sieht auch die Politik das Potenzial?

Furtwängler: Ich glaube schon, dass Politiker wie Ursula von der Leyen oder der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst das europäische Potenzial sehen. Die Erhaltung der Schöpfung ist ja auch ein konservatives Thema und der Green Deal der EU ist der mit Abstand umfangreichste Plan, wie unsere Wirtschaft in einem nachhaltigen Sinne umgebaut werden kann. Absurderweise erfährt er im Moment furchtbar viel Widerstand. Es ist eine echte Chance für Europa, dass wir dort deutlich weiter sein können als viele andere Länder. China investiert bereits unfassbare Summen, genauso die USA mit ihrem Inflation Reduction Act. 
Ein "Weiter So" können wir uns nicht leisten, auch wirtschaftlich nicht.

Hirschhausen: Wir erleben gerade eine Umbruchphase, in der auch das politische System überfordert ist. Politik kann gut mit einer Krise pro Legislaturperiode umgehen, aber sehr schlecht, wenn viele Dinge gleichzeitig Aufmerksamkeit verlangen. Auch die Öffentlichkeit und die Medien diskutieren an den zentralen Herausforderungen vorbei. Das europäische Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist eines der wichtigsten Gesetze der EU der vergangenen fünf Jahre und kam medial kaum vor.

ZEIT ONLINE: Das Gesetz wurde am 17. Juni nach monatelangem Streit mit nur einer Stimme Mehrheit verabschiedet.

Hirschhausen: Josef Settele, einer der wichtigsten Insektenforscher der Welt und Verhandler für Deutschland bei den Biodiversitätszielen, erzählte hier auf der Konferenz, wie er zum niederösterreichischen Jagdverband aufs Podium ging, um auch dort zu sagen, dass es bald nichts mehr zu schießen gibt, wenn die Insekten weg sind. 

Das habe ich hier gelernt: Wissenschaftler müssen sich öffentlich und politisch Gehör verschaffen, denn wir wissen genug, es braucht politische Rahmenbedingungen. 

Wenn wir der Natur wieder die Chance geben, sich zu erholen, können wir uns wieder in der Natur erholen.
Win-win für die körperliche und seelische Gesundheit. 

Dass diese Umsetzung einer internationalen Vereinbarung fast an einer Stimme gescheitert wäre, ist so absurd. Wir müssen viel stärker darüber reden, welche Kräfte gegen positive Veränderungen stehen, welche egoistischen maßgeblich fossilen Lobbygruppen in der Vergangenheit Politik beeinflusst haben. Denn: Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören.

ZEIT ONLINE: Auf welchen Widerstand der Green Deal stößt, haben wir auch Anfang des Jahres auf den Straßen erlebt – in den Protesten von denjenigen, die in besonderer Abhängigkeit von der Natur leben, den Landwirten.

Furtwängler: Ja, das ist ein schwieriges Thema. Die Landwirte haben sich in eine große Abhängigkeit der Agrarchemie begeben. Die Europäische Kommission hat festgestellt, dass über 60 Prozent unserer Böden in einem schlechten Zustand sind. Der strategische Dialog Landwirtschaft, den die Kommission ins Leben gerufen hat, betont daher die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung. Landwirte brauchen ein faires Einkommen und müssen dafür honoriert werden, wenn sie etwas für die Verbesserung der Bodenqualität und die Biodiversität insgesamt tun.
Sie sind die Hüter dieser kritischen Infrastruktur 'fruchtbare Böden', von der unsere Ernährung abhängt. Bodenerosion, Versalzung und Kontamination durch Schadstoffe führen heute weltweit zu weniger Erträgen. Wir müssen uns endlich befreien aus dem Irrglauben, wir müssten diese zunehmende Vergiftung in Kauf nehmen, weil wir sonst verhungern!

ZEIT ONLINE: Sehen Sie denn die Lösung eher darin, dass man mit künstlicher Intelligenz und datengetriebenen Verfahren die Landwirtschaft optimiert? Oder sollte man sich auf das althergebrachte Agrarwissen besinnen?

Furtwängler: Ich glaube, man braucht beides. Ich habe in Kalifornien die größte Avocado-Plantage Amerikas besucht. Und die nutzen Dendrometer am Stamm der Bäume, um den Fluss des Saftes zu messen, Hydrometer im Boden für die Feuchtigkeit und Sensoren auf den Früchten zur Überwachung des Wachstums. Zudem setzen sie Drohnen ein. So konnten sie den Wasserverbrauch um 30 Prozent senken, genauso den Einsatz von Pestiziden. Solch moderne Technologien werden und müssen kommen. Auch bei der mechanischen Bekämpfung von Unkraut. Gleichzeitig sind wir hierzulande sehr weit, was das Wissen rund um nachhaltige Landwirtschaft angeht.

Diesen Vorsprung könnten wir ausbauen. Und wir müssen weg von Monokulturen, wenn wir den Artenschwund aufhalten wollen, wir brauchen wieder mehr Struktur in der Landschaft, Hecken, Blühstreifen, Tümpel und auch brachliegende Flächen. 70 Prozent der Flächen werden nur für Tierfutter und Diesel genutzt. Das Argument, wir müssten mit unserer Landnutzung den Hunger in der Welt bekämpfen, hinkt also gewaltig.

Hirschhausen: KI ist nicht das Allheilmittel, vor allem deshalb nicht, weil es unglaublich viel Strom verbraucht. Wo soll der herkommen? Wenn man KI aber intelligent einsetzt, kann sie uns helfen, Biodiversität zu analysieren und zu sehen, wo wir stehen. Mit Projekten wie der Landbanking Group wird Artenvielfalt weltweit mit Satellitendaten erhoben, kartiert und damit auch investierbar. Es braucht neue Möglichkeiten, unternehmerisch die Aufwertung von Naturflächen auch in der Bilanz auszuweisen. Ursula von der Leyen nannte das: "Put nature back on the balance sheet."

Eine Erholung der Natur bis 2050 sei möglich,
sagt der Klimawissenschaftler Johan Rockström

ZEIT ONLINE: Frau Furtwängler, was war für Sie der zentrale Satz dieser Konferenz, was hat Ihnen Hoffnung gegeben?

Furtwängler: Wir können etwas bewirken, das macht mir Hoffnung. Und das ist bei der Biodiversität einfacher als beim Klimawandel, der fortschreiten würde, selbst wenn wir sofort aufhören würden, fossile Energieträger zu verbrennen. Der Klimawissenschaftler Johan Rockström hat in seiner Präsentation hier auf der Konferenz gezeigt, dass wir bis 2050 eine Erholung der Natur erreichen können, wenn wir nur wollen. Und mir macht es Mut zu sehen, dass viele Unternehmerinnen und Unternehmen das Potenzial sehen, das darin liegt. Natürlich gehört dazu auch, dass wir darüber nachdenken, was eigentlich ein lebenswertes Leben ist. Was brauche ich für ein erfülltes Leben?

ZEIT ONLINE: Was gibt Ihnen Hoffnung, Herr von Hirschhausen?

Hirschhausen: Ich glaube an die Kraft von Netzwerken, an neue Allianzen, unerwartete Verbindungen zwischen Menschen mit besonderer Expertise, einer Innovationsidee, Öffentlichkeit, Politik oder auch denen, die mit ihrem eigenen Geld Pionierarbeit leisten. Zum Verzweifeln haben wir keine Zeit. Das Wichtigste, was ein Einzelner tun kann, ist nicht alleine zu bleiben. So halte ich mich mit meiner Stiftung Gesunde Erde-Gesunde Menschen und bei Konferenzen wie der DLD Nature daran: Du kannst jeden Tag jemanden bewegen, der mehr bewegen kann als du selbst.


NZZ hier  Hansueli Schöchli  14.09.2024, 

Biodiversität ist auch für die Wirtschaft wichtig – sie ist natürliches Kapital

Die Volksabstimmung zur Biodiversitätsinitiative richtet den Fokus auf den Wert der biologischen Vielfalt. Diese Vielfalt hat einen hohen ökonomischen Nutzen.

Biodiversität? Der Begriff hat in der Schweiz politische Prominenz erhalten. Gemeint ist die Vielfalt von Arten und von Lebensräumen (Ökosystemen) sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Prominenz erhielt die Biodiversität vor allem durch die Volksinitiative, über welche die Urnengänger in knapp zehn Tagen befinden.

Der Vorstoss heisst in der abgekürzten Fassung «Biodiversitätsinitiative». Die Initiative geht weit über das Thema Biodiversität hinaus und fordert zum Beispiel auch verstärkten Schutz für Ortsbilder und das «baukulturelle Erbe». Das liefert viel Angriffsfläche für Kritiker.

Doch unabhängig von der Initiative: Die Bedeutung der Biodiversität auch als Wirtschaftsfaktor ist heute weit über Umweltorganisationen hinaus anerkannt. Viele Fachleute betonen zudem, dass die biologische Vielfalt auf globaler Ebene wie auch in der Schweiz abgenommen habe – und dass dies für den Menschen keine gute Sache sei.

Die Botschaft des Bundesrats von 2022 zur Volksinitiative und ein Bericht des Bundesamts für Umwelt von 2023 nannten einige Zahlen zur Schweiz. So sind zum Beispiel gut ein Drittel aller bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten vom Aussterben bedroht («mehr Arten als je zuvor»). Zudem sei die Artenvielfalt in rund 30 Prozent der Schweizer Fliessgewässer mangelhaft. Und fast die Hälfte der bewerteten Lebensräume, wie etwa Flüsse und Bäche, Seen, Ufer, Grünland und Wälder, gälten als gefährdet.

Als wesentliche Ursachen nennt der Bund etwa die intensive Landwirtschaft mit dem Einsatz von Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln, die Ausdehnung der Siedlungsflächen, die Verkehrsinfrastruktur, die Trockenlegung von Gewässern und Mooren sowie die Verbauung von Flüssen und Bächen.

«Existenzgrundlage»
Der Bundesrat nennt die Entwicklung «besorgniserregend». Die Biodiversität ist aus Sicht des Menschen kein Selbstzweck, sondern eine Basis für Wirtschaft und Gesellschaft. «Biodiversität bedeutet Naturkapital und damit Chancen und Risiken für die längerfristige wirtschaftliche Entwicklung», betonte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse schon 2020 in einer Analyse. Laut dem Bundesrat ist die Biodiversität die «Existenzgrundlage für den Menschen und die Wirtschaft».

Ökonomischer Nutzen entsteht unter anderem durch: fruchtbaren Boden für die Land- und Forstwirtschaft; sauberes Wasser; die Reinhaltung der Luft; die Bestäubung nützlicher Pflanzen; Schutz vor Naturkatastrophen wie Lawinen; natürliche Schädlingsbekämpfung; die Natur als Erholungsgebiet und Tourismusattraktion. Die Vielfalt macht die Natur zudem robuster gegenüber Änderungen des Umfelds.

Zahlen schinden Eindruck
Es geht nicht um Kleinkram. Auf globaler Ebene hängen auch wirtschaftlich orientierte Organisation das Thema ziemlich hoch. Gemäss dem jüngsten Bericht des Weltwirtschaftsforums von 2024 zu den globalen Risiken haben fünf der zehn meistgenannten Risiken mit der Natur zu tun, und der Verlust der Biodiversität steht auf Platz 3.

Der Länderverein OECD, dem knapp 40 relativ reiche Volkswirtschaften angehören, erklärte 2019 in einem Bericht, dass der geschätzte Wert der Biodiversitäts-Dienste global etwa 125 000 bis 140 000 Milliarden US-Dollar pro Jahr entspreche – bei einer offiziellen jährlichen Wirtschaftsleistung der Welt von zuletzt etwa 100 000 Milliarden Dollar. Laut Schätzungen der Weltbank könnten die Wohlfahrtseinbussen durch Biodiversitätsverluste schon 2030 global über 2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmachen.

Viel zitiert ist die von der EU-Kommission bestellte Studie einer internationalen Forschergruppe von 2008. Die Forscher gingen von den damaligen Projektionen für das längerfristige Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum aus und leiteten daraus Annahmen über den Einfluss auf die Biodiversität ab. Aufgrund von Literaturanalysen und eigenen Schätzungen rechneten sie die erwarteten Biodiversitäts-Effekte in Geldwerte um. Die Kernbotschaft: Ohne Kurswechsel der Politik würden die Wohlfahrtseinbussen als Folge des Biodiversitätsverlusts jährlich steigen und 2050 rund 14 000 Milliarden Euro ausmachen – etwa 7 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung von jenem Jahr.

Auf Basis jener Studie hat das Berner Büro Ecoplan 2010 im Auftrag des Bundes versucht, die Kosten des künftigen Biodiversitätsverlusts auf die Schweizer Verhältnisse herunterzubrechen. 2050 wäre für die Schweiz laut der Ecoplan-Studie mit Wohlfahrtseinbussen von 2 bis 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu rechnen – in absoluten Zahlen etwa 14 bis 16 Milliarden Franken. Diese Zahlen werden seither auch vom Bund zitiert. Das Ecoplan-Papier macht aber deutlich, dass der geschätzte Verlust angesichts enormer methodischer Unsicherheiten nur als «illustrativer» Eindruck einer groben Grössenordnung zu verstehen ist.

Wacklige Grundlagen
Globale Schätzungen hätten einen «Aufmerksamkeitswert», sagt Bernd Hansjürgens, Professor für Umweltökonomie an der Universität Leipzig. Aber die Schätzunsicherheiten seien so gross, dass man den Fokus wohl besser auf Studien zu den einzelnen Diensten des Ökosystems wie zum Beispiel den Lawinenschutz richte. Auch zwei andere befragte Fachleute betonen, dass zuverlässige Schätzungen zum gesamten ökonomischen Wert der Biodiversität zurzeit kaum zu machen seien.

Die Literaturübersicht einer internationalen Forschergruppe von 2023 förderte fast 140 Studien zum Wert einzelner Biodiversitäts-Dienste in Europa zutage. Etwa die Hälfte der Analysen wagte konkrete Zahlenschätzungen. Gängige Schätzmethoden beruhten auf Marktpreisen (wo solche existieren), Einschätzungen des Werts vergleichbarer Ökosysteme an anderen Orten oder Befragungen zur Zahlungsbereitschaft von Bürgern. Eine Gesamtsumme der geschätzten ökonomischen Werte legte das Papier indes nicht vor. Ein Beispiel aus einer Schweizer Analyse lieferte der Bundesrat: Demnach liege der Wert der Bestäubung von Nutzpflanzen durch Bienen hierzulande bei etwa 350 Millionen Franken pro Jahr.

Auch Finanzaufsichtsbehörden werden zunehmend auf die Risiken des Biodiversitätsverlusts aufmerksam. 75 Prozent aller Firmenkredite im Euro-Raum gingen an Unternehmen, die von mindestens einer Ökosystemleistung der Natur abhängig seien, betonte 2023 eine Forschergruppe der Europäischen Zentralbank.

Allmählich scheint auch die Sensibilisierung der Investoren zu wachsen. Eine Studie von 2024, an der auch Forscher der Universität Zürich beteiligt waren, analysierte die Aktienkursentwicklung von über 2000 Firmen. Laut der Analyse haben internationale Ankündigungen zur Regulierung der Biodiversität von 2021 und 2022 in den Tagen danach die Aktienkurse von Firmen mit hohen Biodiversitätsrisiken gedrückt.

Bei diesen Ankündigungen ging es um künftige Berichterstattungspflichten der Firmen sowie um eine Zielvereinbarung von fast 200 Ländern. Eines der vereinbarten Ziele: Bis 2030 sollen total 30 Prozent der Land- und Binnenwasserfläche geschützt sein. Auch die Schweiz hat diese Vereinbarung unterzeichnet. Die Schutzgebiete in der Schweiz umfassen zurzeit knapp 14 Prozent der Landfläche.

Nutzen im eigenen Land
In der Klimapolitik haben die Ökonomen im Prinzip ein zielgerichtetes Mittel: Einbezug der gesellschaftlichen Kosten des Ausstosses von Treibhausgasen in die Preise via Lenkungsabgabe. Bei der Biodiversität gibt es dagegen keine einheitliche «Währung» à la CO2-Abgabe, wie der Umweltökonom Bernd Hansjürgens betont.

Trotzdem spricht er sich auch bei diesem Thema für Lenkungsabgaben aus, wo dies möglich sei – zum Beispiel bei den Preisen für Fleisch, wo die externen Kosten ein Mehrfaches der derzeitigen Marktpreise betragen könnten.

Senkt die Schweiz ihren CO2-Ausstoss, merkt das Land vom Klimanutzen direkt praktisch nichts: Der Nutzen verteilt sich global und ist entsprechend klein. Bei der Biodiversität fällt der Nutzen von Schutzmassnahmen dagegen in vielen Fällen im eigenen Land an.

Die Biodiversität kann aber auch globale Wirkung haben. So können Ökosysteme via CO2-Bindung das Klima beeinflussen. Die Natur ist auch bedeutend als Grundlage für global einsetzbare Medikamente. «Etwa 70 Prozent aller Krebsmedikamente haben einen natürlichen Ursprung», betont ein Bericht der Beratungsfirma PwC und des WWF. Laut Bernd Hansjürgens kaufen westliche Pharma- und Agrochemiekonzerne Land in den Tropen zwecks Erhaltung eines genetischen Pools.
 

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