Montag, 9. September 2024

Die Folgen des demografischen Wandels werden nicht nur auf dem Arbeitsmarkt deutlich zu sehen sein, aber dort besonders

 Süddeutsche Zeitung hier  Von Leila Al-Serori; 6.9.24

„Die Babyboomer haben Deutschland goldene Jahre beschert – das ist vorbei“

 Wohlstandsverlust, Fachkräftemangel, Pflegenotstand – die Deutschen werden den demografischen Wandel in den kommenden 20 Jahren schmerzhaft spüren. Welche Probleme Experten erwarten und was die Politik jetzt tun müsste.

Die deutsche Gesellschaft überaltert, die Geburtenrate sinkt, und mit den Babyboomern geht die geburtenstärkste Generation gerade in Rente. Nie zuvor und nie wieder danach wurden in Deutschland so viele Kinder geboren wie zwischen 1955 und 1970. 

In den Arbeitsmarkt traten die meisten Kinder dieser Alterskohorten in den 1980ern und Anfang der 1990er-Jahre ein.

Und nun gehen mit ihnen so viele Menschen auf einmal in den Ruhestand wie nie zuvor: etwa zwölf Millionen Arbeitskräfte bis 2030, fast ein Drittel aller heute Erwerbstätigen.

Quelle: destatis

Altern die Babyboomer, wird auch die Zahl der Pflegebedürftigen massiv steigen. Der demografische Wandel wird für alle unübersehbar werden, Deutschland droht ein spürbarer Wohlstandsverlust.

Welche Probleme und Lösungsansätze sehen Experten? Die Süddeutsche Zeitung hat dafür mit Karin Haist, Leiterin der bundesweiten Demografie-Projekte der Körber-Stiftung, und Reiner Klingholz, bis 2019 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, gesprochen.



Wohlstandsverlust

„Dass es Deutschland so gut geht, liegt im Wesentlichen an der wirtschaftlichen Kraft der Boomer. Sie sind besser qualifiziert als alle Jahrgänge davor, haben gute Jobs und Rekordbeiträge an Steuern und Sozialbeiträgen gezahlt“, sagt Reiner Klingholz. „Die Babyboomer haben Deutschland goldene Jahre beschert. Aber das ist nun vorbei.“

Man habe verschlafen, die Zeit danach vorzubereiten, kritisiert der Bevölkerungsexperte. „Deutschland steuert schon jahrzehntelang auf den demografischen Wandel zu aufgrund der sinkenden Geburtenrate, aber unangenehme Reformen wurden aufgeschoben. Nun gefährdet der Renteneintritt der Boomer unsere Wettbewerbsfähigkeit – in einer Zeit, die sowieso schon wegen des Ukrainekriegs, der Pandemie und der Klimakrise schwierig ist.“ Klingholz sieht durch die kommende ungleiche Verteilung der Lasten, da die Jüngeren eine ungleich größere Zahl an Älteren mitfinanzieren müssen, auch mögliche Generationenkonflikte. Der Generationenvertrag, also das Versprechen, dass jede Generation die gleichen Chancen haben müsse, sei gefährdet.

„Die Wohlstandsversprechen, die noch die Babyboomer erlebt haben, gibt es nicht mehr“, sagt auch Karin Haist. Die Experten sehen aber einige Bereiche, wo auch kurzfristig noch reagiert werden kann – vor allem am Arbeitsmarkt. „Wenn wir jetzt alle Hebel in Bewegung setzen“, so Klingholz, „können wir mit einem blauen Auge davonkommen.“

Fachkräftemangel

Die Folgen des demografischen Wandels werden nicht nur auf dem Arbeitsmarkt deutlich zu sehen sein, aber dort besonders. Überall wird es an Personal fehlen, an Busfahrern, Ärzten, Installateurinnen, Pflege- und Reinigungskräften, um nur einige Branchen zu nennen. Besonders folgenreich könnte der Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst werden, sagt Klingholz. „Dann brauchen Genehmigungen noch länger als bisher, das wirkt sich auf andere Branchen aus.“ Die Wirtschaft werde weiter gehemmt, das bedeute weniger Einnahmen für den Staat. Dabei müsse der die steigenden Kosten für Sozialausgaben durch mehr Rentner und Pflegefälle stemmen. „Es ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf“, so der Experte.

Klingholz empfiehlt, das Renteneintrittsalter möglichst schnell an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. Es müsse länger gearbeitet werden, auch eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit könne Abhilfe schaffen. Außerdem müsse es attraktiver werden, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Pläne wie die Rentenaufschubprämie von Arbeitsminister Heil zielen in diese Richtung. „Aber die Realität sieht anders aus, die Babyboomer haben vielmehr die Tendenz, früher in Rente zu gehen“, sagt Karin Haist. „Mehr Wertschätzung und flexible Arbeitszeiten könnten aber ein Hebel sein.“

Die Experten fordern auch eine Verbesserung der Kinderbetreuung, um mehr Frauen wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen. Schulabbrecher müssten besser qualifiziert werden, Arbeitslose schneller in Beschäftigung gebracht – und vor allem die Einwanderung und Integration ausländischer Fachkräfte gezielter gefördert werden. „Migration ist ein wesentlicher Faktor“, betont Klingholz. Hier sei allerdings nicht nur die Politik gefragt, sagt Haist. „Oft gehen Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, um in dringend benötigten Branchen wie der Pflege zu arbeiten, wieder zurück, weil sie sich nicht willkommen fühlen. Auch die Zivilgesellschaft muss ihren Beitrag leisten.“

Einsamkeit

Einsamkeit wird ein wachsendes Problem durch die Verrentung von so vielen Menschen werden. Fast jeder dritte Babyboomer ist allein, geschieden oder verwitwet, erläutert Haist. Die Kinder leben oft weit entfernt von den Eltern. Generell sind Familien heutzutage eher kleiner, dadurch wiederum gibt es weniger Menschen, die sich um die Älteren kümmern können. Für die Demografin sind da die Kommunen gefragt, die in innovative Begegnungsorte investieren müssen – für die klassischen „Seniorenzentren“ fühlten sich die Babyboomer zu jung. Aber auch Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften könnten ein Modell sein.

Alternde Gesellschaft

Anteil der Altersgruppen an der deutschen Bevölkerung* in Prozent

Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung

Damit alle weiterhin am täglichen Leben teilhaben können, müssen sich Behörden und Geschäfte zudem auf immer mehr demente Personen einstellen, der Nahverkehr für in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen angepasst werden.....


Wohnen

Beim Thema Wohnen sehen die Experten neue Möglichkeiten. Denn der Großteil der nun in Rente gehenden Boomer besitzt Eigenheime in den Vororten, viele werden auf großer Fläche allein leben. „Eigentlich brauchen sie den Platz gar nicht mehr. Aber verkleinern geht aufgrund der heutigen Wohnungsnot nicht so einfach.“ Erst in ein paar Jahrzehnten werden diese Häuser voraussichtlich vererbt werden.

Wir haben eine Wohnungsknappheit, vor allem aufgrund von ungleicher Verteilung. Denn die jüngeren Generationen haben ja Schwierigkeiten, passenden Wohnraum zu finden.“ Hier sieht Haist Potenzial für neues Gemeinschaftswohnen oder auch für Wohnungstauschbörsen: Ältere können in barrierefreie, kleinere Wohnungen ziehen, eine junge Familie in die dadurch leer werdenden größeren Immobilien. Dafür brauche es aber kommunale Konzepte und Angebote der Wohnungsträger. „Bisher passiert leider kaum etwas“, so Haist.

Populismus

Experte Klingholz appelliert an die Politiker, den demografischen Wandel ernst zu nehmen. Denn der damit verbundene Wirtschaftsabstieg und gesellschaftliche Wandel könnte die Populisten noch erfolgreicher machen. .....

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen