RND hier Jan Sternberg 15.09.2023
Interview mit DIW-Chef Marcel Fratzscher
Im RND-Interview erklärt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warum er mit Fridays for Future gemeinsame Sache macht, aber dennoch nicht zum Klimastreik am Freitag geht.
Herr Fratzscher, warum haben Sie sich zu Fridays for Future vors Kanzleramt gesetzt? Sind Sie jetzt als Wissenschaftler auch Klimaaktivist geworden?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eine Bringschuld. Sie haben die Verantwortung, sich aus ihrem Elfenbeinturm heraus zu bewegen, und den Auftrag, die gesellschaftspolitischen Diskurse auf Grundlage ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse zu informieren und mitzugestalten. Als Leiter eines öffentlichen Wirtschaftsforschungsinstituts gehört zu meinen Aufgaben, unsere Erkenntnisse an Gesellschaft und Politik zu kommunizieren und Lösungen aufzuzeigen. Das erfordert, mit allen relevanten Gruppen in den Diskurs zu gehen – nicht nur mit Entscheiderinnen und Entscheidern in Politik und in Wirtschaft, sondern auch Gruppen der Zivilgesellschaft, so wie Fridays for Future. Ein solcher Diskurs macht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht zu Politikerinnen und Politikern, Wirtschaftslobbyisten oder Aktivistinnen und Aktivisten.
Verkehrsminister Volker Wissing bezeichnet Fridays for Future als Lobbygruppe. Sehen Sie das auch so?
Fridays for Future ist eine Gruppierung, die sich für die Gesellschaft als Ganzes einsetzt, nicht für ein bestimmtes Interesse einer kleinen Gruppe. Wenn Sie Lobby als Gruppe definieren, die Einzel- und Gewinninteressen vertritt, wie etwa die Tabakindustrie und ihre Lobbyverbände, dann ist Fridays for Future sicher keine. Für uns ist entscheidend: Fridays for Future beruft sich auf wissenschaftliche Zahlen, Fakten und Studien. Es argumentiert wissenschaftsbasiert, hat gut begründete Anliegen. Daher halte ich die Gruppierung für einen seriösen Teil der Zivilgesellschaft, mit dem es sich für die Wissenschaft lohnt, in den Diskurs zu gehen.
Wo ist die Grenze für einen Wissenschaftler zum Aktivismus überschritten? Bis zu welchem Punkt kann Wissenschaft noch neutral sein?
Wissenschaft ist neutral, wenn sie sauber arbeitet und ihre Arbeit überprüfbar ist. Ihre Frage ist ja eigentlich: Soll Wissenschaft mit Politik, mit Wirtschaftsentscheidern, mit gesellschaftlichen Gruppen in den Diskurs gehen und auf Veranstaltungen auftreten?
Das ist explizit unser Auftrag! Wir müssen raus aus dem Elfenbeinturm. Wir machen seit fast 60 Jahren halbjährlich die Wirtschaftsprognose für die Bundesregierung. Andere Studien machen wir auch mit Verbänden oder mit Gewerkschaften oder eben mit zivilgesellschaftlichen Gruppen.
Wir argumentieren auf der Grundlage wissenschaftlicher Zahlen, Fakten und Erkenntnisse und bringen diese in die Debatte ein. Die Grenze zum Aktivismus ist klar: wenn das wissenschaftliche Fundament fehlt oder ignoriert wird. Deshalb müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, was sie nicht wissen, aber eben auch laut und deutlich, was sie wissen.
Fünf Jahre Fridays for Future
Die Forderung nach einem Klimageld ist ja auch alles andere als radikal. Sie erinnern die Regierung an ihren eigenen Koalitionsvertrag, in dem das Klimageld drinsteht – doch nun fehlen die Mittel dafür. Warum vernachlässigt diese Regierung die soziale Abfederung von Transformation, Verkehrswende und Wärmewende derart?
Die Politik hat sich zu sehr zum Spielball mächtiger wirtschaftlicher Lobbyinteressen gemacht. Die Wirtschaft und vor allem die mächtigen Industriekonzerne haben eine Vollkaskomentalität angenommen. Sie erwarten, dass die Politik fast jegliches Risiko für sie übernimmt und mit riesigen Subventionen hilft, wenn etwas schiefgeht. Es wurden zahlreiche Wirtschaftshilfen aufgelegt.
Auch von einem Industriestrompreis profitieren wieder diejenigen Industrieunternehmen, die besonders viel fossile Energie verbrauchen. Es gibt eine große Schieflage bei den staatlichen Hilfen zwischen Industriekonzernen und Bürgerinnen und Bürgern. Meine Sorge ist, dass die Bundesregierung den großen Fehler macht, die soziale Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen zu verspielen. Es werden noch immer Ängste geschürt, zum Teil von der Wirtschaft, zum Teil von Politikerinnen und Politikern und politischen Parteien, die dazu führen, dass die soziale Akzeptanz in der Bevölkerung für jegliche Veränderung immer weiter schrumpft. Wir sind dabei, große Teile der Bevölkerung zu verlieren für jegliche Veränderung.
Jede Veränderung erscheint mindestens teuer – oder gleich bedrohlich. Ist das auch ein deutsches Mentalitätsproblem?
Es sind politische und wirtschaftliche Partikularinteressen, die zum Teil bewusst Ängste schüren wollen. Wenn Ängste entstehen, führt das dazu, dass die Akzeptanz für Veränderungen schrumpft. Und Deutschland war vor den Corona-, Inflations- und Energiekrisen in einem sehr erfolgreichen Jahrzehnt. Wir haben heute immer noch heute die größte Beschäftigung, die höchste Anzahl von Menschen in Arbeit, die wir jemals hatten. Jetzt kommen die Ängste: Verlieren wir, was wir da erreicht haben? Gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Und wer ängstlich ist, will keine Veränderung.
Wie berechtigt sind denn diese Abstiegsängste? Es ist wieder die Rede von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“ – zu Recht? Woran liegt es, dass Deutschland langsamer als andere OECD-Länder aus der Krise kommt?
Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas. Die Wirtschaft wird in diesem Jahr um 0,4 Prozent schrumpfen, aber ohne Rückgang der Erwerbstätigkeit. Die Menschen werden Arbeit haben oder können leicht einen neuen Job finden. Für nächstes Jahr rechnen wir wieder mit einem ordentlichen Wirtschaftswachstum. Die Erklärung für die heutige Schwäche ist gut nachvollziehbar.
- Erstens schwächelt die Weltwirtschaft, das trifft eine offene Volkswirtschaft wie die deutsche viel härter, weil unsere Exporte eben stärker einbrechen.
- Zweitens sind die Energiekosten in Deutschland höher als anderswo, weil wir eine höhere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl hatten. Das sind die zwei Hauptfaktoren.
- Aber Deutschland könnte wieder zum kranken Mann Europas werden, wenn wir diese Reserve, die wir im Augenblick haben, auch an Wettbewerbsfähigkeit und Überzeugungskraft immer noch im globalen Wettbewerb, nicht jetzt klug nutzen, um auf die neuen Entwicklungen einzugehen. Das sind drei Transformationen: die ökologische, die digitale und die Neugestaltung der Globalisierung über eine Diversifizierung der Lieferketten. Wir haben alle Möglichkeiten, die Stellschrauben richtig zu setzen.
Werden Sie am Freitag auf die Klimademo gehen, um der Forderung nach einem Klimageld Nachdruck zu verleihen?
Nein, ich werde arbeiten.
Aber Demokratie funktioniert nur dann, wenn alle Stimmen gehört werden
und Berücksichtigung erhalten.
Und hier haben wir eine riesige Unwucht.
Die Wirtschaftslobby setzt ihre Interessen massiv durch und erhält gigantische staatliche Hilfen – weiterhin auch für klimaschädliches Verhalten, das alle schädigt und hohe Kosten verursacht.
Die Zivilgesellschaft und vor allem die junge Generation werden kaum gehört. Dies schädigt unsere Demokratie und wird die Transformation scheitern lassen,
mit einem ultimativ hohen Verlust von Wohlstand.
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