hier Anja Martin 22.09.2023
Der Sichtbarmacher
In Neukölln gibt es Deutschlands einzigen Armutsbeauftragten: Thomas de Vachroi will, dass Menschen, die am gesellschaftlichen Leben nur schwer teilnehmen können, gesehen werden – und dass sie satt werden
Die Sommersonne brennt auf den Bürgersteig in der Weisestraße und auf die Köpfe der Menschen vor der Hausnummer 34. Manche wollen noch schnell eine rauchen, andere müssen erst mal in den „Alkomat“ pusten, der anzeigt, ob jemand getrunken hat. Wer hier mit über einem Promille aufkreuzt, kommt gar nicht erst rein in die Tee- und Wärmestube. Hier verteilt man Essen an die, die es brauchen – egal, ob sie obdachlos sind oder sich schlicht den Einkauf im Supermarkt nicht mehr leisten können.
Und das sind viele: Denn Armut ist allgegenwärtig in Deutschland. Im Jahr 2021 waren laut Paritätischem Wohlfahrtsverband 16,9 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, lagen also mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens.
Für Alleinlebende hieß das, dass sie nicht mehr als 1.148 Euro im Monat zur Verfügung hatten, bei zwei Erwachsenen mit zwei Kindern unter 14 Jahren waren es unter 2.410 Euro. In Neukölln trifft das auf über 29 Prozent der Bevölkerung zu. Es ist damit der Berliner Stadtteil, in dem die meisten armen Menschen leben. „Armut kann eine ganze Nation kaputtmachen“, sagt Thomas de Vachroi. Wer nicht materiell teilhaben könne, fühle sich ausgeschlossen, abgehängt, missverstanden. Und gehe auch oft nicht mehr wählen.
De Vachroi, 63 Jahre alt, ist der erste und einzige deutsche „Armutsbeauftragte“. Seine Stelle teilen sich die evangelische Kirchengemeinde und das Diakoniewerk Simeon, das auch die Tee- und Wärmestube betreibt. Weil Armut so real wie übersehen ist, soll er ihr Gesicht und ihre Stimme sein. Jetzt steht er gerade vor der Teestube und grüßt in alle Richtungen. Hallo, hallo. Alles gut? Muss ja, muss ja. „Ich lebe streng nach Psalm 23!“, ruft ihm ein Stammgast zu. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Sehr viele Menschen kommen hierher, um zu essen. „Am Sonntag mussten sie hier zumachen wegen Überfüllung“, sagt de Vachroi. „Die haben die Einrichtung gestürmt. Vor lauter Hunger!“
De Vachroi findet es schlimm, wenn Ärzte Obdachlose abweisen, weil sie stinken würden. „Ja, warum stinken sie denn?“, fragt er und gibt gleich die Antwort: „Weil sie sich nirgends waschen können. Weil die Gesellschaft wegschaut. Dabei haben sie das Recht, mit Würde behandelt zu werden.“
Er sieht sich als eine Art Botschafter der Armen. Für ihre Anliegen spricht er mit Behörden und Menschen, die helfen können. Er springt von einer Sitzung im Rathaus zum Sommerfest eines Kirchenordens und zu einem Plausch mit Politikern. Manchmal führt er Fernsehteams durch Neukölln, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. „Es geht mir darum, dass die Armut sichtbar bleibt.“
Er möchte, dass die Politik mehr Geld für die Armen ausgibt. Denn ohne Ehrenamtliche gehe schon jetzt nichts mehr: „Man muss immer betteln gehen.“ Entsprechend kennt er keinen Feierabend und netzwerkt bis spätabends. So ist er in der Tee- und Wärmestube zwar nur für die Außenwirkung zuständig, bindet sich aber trotzdem einmal im Monat die Kochschürze um und macht Kartoffelsalat und Buletten. Jetzt spricht er aber erst mal über die Gentrifizierung in manchen Kiezen und dass die Teestube nach 40 Jahren rausmuss, weil der Vertrag bald ausläuft und sie sich die neue Miete nicht mehr leisten kann. Aber er hat schon einen Plan: Eine Folgeeinrichtung soll eine Ecke weiter entstehen, auf einem Kirchengrundstück. Mit großer Kleiderkammer, Umkleiden, Duschen und Apartments. Ein bisschen Spenden sammeln muss er dafür noch, aber damit kennt er sich ja aus.
Bis 2030 soll niemand mehr auf der Straße leben, das ist das Ziel der EU. „Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll“, sagt de Vachroi, der sich einen Armutsbeauftragten für die ganze Hauptstadt wünscht. Momentan sieht es allerdings eher so aus, als würde Berlin noch ärmer: Die Stadt muss sparen, und erste Streichlisten kursieren. In Neukölln trifft das wahrscheinlich auch die, denen man eigentlich gar nichts mehr wegnehmen kann: die Obdachlosen.
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