FAZ hier Artikel von Kira Kramer 30.12.24
Twitter ist tot – einen Nachfolger wird es wohl nie geben
Die Begrüßung bei Bluesky ist herzlich. „Willkommen“, schreibt ein Nutzer mit Profilbild und Klarnamen, grauem Haarschopf, schwarzer Hornbrille und breitem Fotogrinsen. Als X-Spätaussiedler ist man überrascht von so viel Menschlichkeit in Wort und Bild auf der als Alternative angepriesenen Plattform. Es wirkt, als führe man über die Feiertage nach Hause in die alte Heimat, zurück zu Familie und alten Bekannten; an einen Ort, der sich kaum verändert hat, während man selbst und die Welt sich weitergedreht haben.
Viele Accounts, die man noch von damals auf Twitter kennt, als die App ein blauer Vogel war und der Besitzer ein unauffälliger Nerd, tummeln sich heute hier: auf der neuen blauen App mit Schmetterlingslogo. Nach und nach waren sie – wie der blaue Vogel selbst – von Elon Musks Plattform verschwunden. Ihre Stimmen tauchten nicht mehr in der Timeline auf, und neben ihren Bildern hing ein Schloss, das die alten Beiträge vor fremden Augen schützte. Die „Bio“, das Feld für die persönliche Beschreibung, wies die Accounts als stillgelegt aus, dazu ein Hinweis auf die neue publizistische Heimat: @name.bsky.social. Ehemalige Twitter-Profile im Kryoschlaf, wartend auf bessere Zeiten – post-musksche Zeiten.
„Bei Twitter schrieb ich für meine Freunde“
Auf Bluesky, das 2021 als ausgegliedertes Twitter-Modell online ging, ist es ein wenig so, als sei man nie weg gewesen, als sei überhaupt niemand je weggewesen – und die Bots von drüben, bei X, habe es nie gegeben. Unter den Beiträgen diskutieren Publizisten, Vereine und Journalisten miteinander, auch vereinzelte Politiker und Medien sind schon mit von der Partie. Steht hier etwa das alte Twitter von vor zehn Jahren wieder auf?
Der britische Publizist Ian Dunt, der es bei X auf mehr als 386.000 Follower bringt und bei Bluesky auf knapp ein Drittel davon, erklärt auf seinem Blog: „Bei Twitter schrieb ich für meine Freunde in der Kneipe.“ So habe er es sich damals vorgestellt, wenn er einen Tweet absetzte. „Man ist mit seinen Freunden zusammen, möchte plaudern, richtig ausgiebig plaudern, sie zum Lachen bringen, alles sagen, was einem gerade in den Sinn kommt, ob politisch oder nicht, fluchen und dabei kreativ sein und seine tief brodelnde Empörung über den Zustand der Menschen, die uns regieren, zum Ausdruck bringen.“ Mehr noch habe ihm Twitter als Autor geholfen, die Distanz zwischen Geist und Hand zu verringern. Dort habe er gelernt, zu schreiben, wie er spricht. „Das ist wirklich der Schlüssel zum guten Schreiben. Twitter hat mich darin geschult, auch wenn ich es gar nicht bemerkt habe.“
Neben der persönlichen Vernetzung etablierte sich Twitter wenige Jahre nach seiner Gründung 2006 als Netzwerk für Information in Echtzeit. Stunden bevor klassische Medien berichteten, war man auf Twitter mittendrin: bei den Menschen in Ägypten 2011, wo der „Arabische Frühling“ seinen Anfang nahm; bei den Demonstranten auf dem Maidan 2013 und den Protestierenden in Hongkong 2019. Man war so nah dran wie sonst nirgends. Regierungsstürze, radikale gesellschaftliche Umbrüche – und man selbst am Bildschirm hautnah dabei.
Welche Accounts auf X sind noch Menschen?
Den Anfang hatte diese Dynamik laut Benjamin Sandofsky, einem früheren Twitter-Mitarbeiter, 2009 genommen. Damals landete ein Passagierflugzeug auf dem Hudson River not, nachdem die Triebwerke durch einen Vogelschlag ausgefallen waren. Alle 155 Passagiere überlebten – und Twitter trug ihre Stimmen in die Welt.
Seither verzeichnete das Netzwerk großes Wachstum: Die Zahl aktiver Nutzer verzehnfachte sich seit 2010. Laut einer Statista-Auswertung von Februar 2023 brachte es Twitter auf rund 421 Millionen aktive Nutzer; das war bereits nachdem Elon Musk das Netzwerk für die Summe von 44 Milliarden US-Dollar im Oktober 2022 gekauft hatte, aber noch bevor er es im Juli 2023 in „X“ umbenannte. Musk selbst sprach freilich von deutlich mehr Usern. Und dann? Seither ist Twitter zur Desinformationsschleuder eines narzisstischen Milliardärs geworden, der im US-Wahlkampf für Donald Trump trommelte und nun in Deutschland für die AfD wirbt.
Unter dem Deckmantel der „Meinungsfreiheit“ bietet seine Plattform X Rechtsradikalen und Verschwörungsideologen ein Forum und Reichweite. Der Witz ist nur: Elon Musk ist ein Scheinriese, seine Plattform verliert an Nutzern. Nach Schätzungen des Analyseunternehmens Emarketer hat X rund zehn Prozent aktive Nutzer verloren, seit Elon Musk die Plattform übernommen hat. „Forbes“ berichtet unter Berufung auf eine Studie von Edison Research sogar davon, dass die Nutzung 2024 um bis zu dreißig Prozent gegenüber dem Jahr 2023 abgenommen habe. Offizielle Angaben macht das Unternehmen seit Musks Übernahme kaum noch. Elon Musk bläst sich auf, kommt in Regierungsverantwortung, doch X schrumpft, und die Konkurrenten wachsen. Naht etwa das das Ende von X?
Bluesky hat mittlerweile die 25-Millionen-Marke registrierter Nutzer geknackt – ist damit im Vergleich zu X aber ein kleiner Fisch im Teich. Wobei sich bei X die Gretchenfrage stellt: Wie viel Prozent der aktiven X-Nutzer sind denn überhaupt noch Menschen? Musks Netzwerk hat nämlich ein Bot-Problem. Verlässliche Zahlen zum Bot-Aufkommen auf X gibt es keine. Je nach Schätzung variieren die Zahlen zwischen fünf und 80 Prozent – also von kaum Bots bis zur überwältigenden Mehrheit.
Die Abwanderung von „Super-Connectoren“
Aussagekräftig über die vermeintliche oder tatsächliche Bedeutung von X dürfte auch hier die Einschätzung des Ex-Twitter-Mitarbeiters Sandofsky sein, der auf seinem Blog unter dem Titel „Das Ende der Twitter-Ära“ die Kipppunkte analysiert, vor denen Musks Desinformationsnetzwerk steht. Die nackten Nutzerzahlen, schreibt Sandofsky, seien irreführend. „Wenn eine App viral geht, können sich Millionen von Menschen anmelden, sie fünf Minuten lang ausprobieren, dann aber mit einem Achselzucken weiterziehen und nie wiederkommen.“
Er rät, in Anlehnung an den Ethernet-Erfinder Bob Metcalfe, nicht auf die Zahl der Konten, sondern auf die Zahl ihrer Verbindungen zueinander zu schauen. Denn auch auf einer Plattform mit mehreren Millionen Nutzern sind diese nahezu stumm, wenn ihre Beiträge niemanden erreichen. In einem Netzwerk sind nicht alle Konten mit gleich vielen anderen Konten verbunden. Es gibt einige reichweitenstarke Großaccounts mit Millionenfollowerschaft; Accounts, die Sandofsky „Super-Connectoren“ nennt. Diese stellen die entscheidenden Knotenpunkte einer Plattform dar.
Wandert ein „Super-Connector“ ab, kann dies das Netzwerk viel empfindlicher treffen als der Exodus vieler Nutzer mit geringer Reichweite. „Wenn wichtige Konnektoren im Diagramm gehen, zerfällt das Netzwerk in kleinere, schwächere Subnetze“, schreibt Sandofsky. Super-Connectoren sind die Schwachstelle von X. Einige von ihnen haben Musks Plattform mittlerweile mit großem Tamtam verlassen, etwa der britische „Guardian“ mit mehr als 10 Millionen Followern oder der amerikanische Bestsellerautor Stephen King mit rund sieben Millionen Anhängern. Die Großen haben viele Kleine zum Umzug motiviert. Die bekommen als Handreichung sogenannte „Starterpacks“ – thematischen Listen mit verschiedenen Accounts, denen man mit nur einem Klick folgen kann.
Zwei weitere Aspiraten auf die Twitter-Nachfolge
Neben Bluesky gibt es zwei weitere X-Konkurrenten. Deutlich größer als der direkte Twitter-Klon ist „Threads“ aus dem Hause Meta, das dank der mit Instagram verknüpften Konten auf rund 275 Millionen aktive Nutzer kommt. Allein in den ersten fünf Tagen nach dem Start verzeichnete das Netzwerk mehr als 100 Millionen Anmeldungen und überholte damit sogar ChatGPT als die am schnellsten wachsende App. Doch auch hier sind die Nutzerzahlen nur ein Teil der Wahrheit.
Denn inhaltlich interessieren sich die Nutzer, die zum Großteil über Instagram kommen, nicht für die gleichen Themen wie die ehemaligen Twitter-Nutzer. Während im Dezember 2023, wenige Monate nachdem der Dienst an den Start gegangen war, der Algorithmus über Wochen in großem Stil Hetze, Antisemitismus und frauenfeindliche Beiträge in die Feeds spülte und daraufhin offenkundig angepasst wurde, ist die Timeline mittlerweile voll von eher unpolitischen Gags und lustigen Bildchen. Von Echtzeitberichterstattung wie auf Twitter vor Musks Übernahme fehlt hier bisher jede Spur. Threads ist auf Politikvermeidung getrimmt worden.
Und Mastodon? Das Netzwerk mit dem flauschigen Elefanten als Maskottchen, benannt nach der Mammut-Gattung? Es hatte in seiner Hochphase, kurz nach Musks Twitter-Übernahme im Oktober 2022, 2,5 Millionen monatlich aktive Nutzer. Seit Dezember 2022 ist diese Zahl kontinuierlich auf etwa 900.000 zurückgegangen, während die Zahl der registrierten Nutzer bei 15 Millionen liegt. Das Netzwerk hat bislang wenige echte Bigplayer angezogen, aber es hat den Vorteil, dass es durch seine dezentrale Organisation nicht so leicht Gefahr läuft, von jemandem übernommen zu werden, wie es bei Twitter geschehen ist. Mastodon wird nicht von einer einzigen Firma, von einem Standort aus kontrolliert. Mastodon läuft auf vielen unabhängigen Servern, die verschiedene Menschen oder Organisationen betreiben. Das scheint vor allem Tekkies zu gefallen: Überdurchschnittlich viele Posts beziehen sich hier auf Technikfragen.
Warum es keinen Ersatz geben wird
Was Threads und Mastodon inhaltlich abgeht, nämlich politisches Geschehen in Echtzeit, scheint Bluesky zunehmend zu bieten. Als am Morgen des 8. Dezember syrische Aufständische den Sturz Assads und die Befreiung Damaskus’ verkünden, ist all das (wenn auch in eher geringem Umfang) auf Bluesky zu erfahren. Und doch stellt sich ein Störgefühl ein beim Wechsel zu Bluesky und der Quasi-Rückkehr in die alte Heimat, die Twitter war, bevor es zu X mutierte. Die Zeit nämlich lässt sich nicht zurückdrehen. Bluesky mag für den Moment den Eindruck erwecken, all die Probleme, mit denen X behaftet ist, lösen zu können. Doch wissen wir Nutzer inzwischen, dass gezielte Desinformationskampagnen und Bot-Armeen bloß im richtigen Moment losgelassen werden müssen, um maximalen Schaden anzurichten.
Das geschieht auf X fortwährend, und das könnte auch bei Bluesky passieren. Keine Plattform, kein Netzwerk, auf dem jeder Accounts erstellen kann, der einen einigermaßen glaubwürdigen Vor- und Nachnamen mit einem Bild aus dem Internet kombiniert, ist vor solchen Angriffen gefeit. Wir wissen auch, dass die Scheine, mit denen irgendein Milliardär wedelt, bloß groß genug sein müssen, damit ein soziales Netzwerk den Besitzer wechselt – und dass kein Algorithmus sicher ist vor Manipulation zur politischen Meinungsmache.
Twitter, heute X, ist zwar immer noch groß und als Meinungsmaschine nicht zu unterschätzen, als „soziales Netzwerk“ aber ist die Plattform tot. Elon Musk hat sie vergiftet. Das dürfte inzwischen allen klar sein; denjenigen, die X verlassen haben, und denen, die trotz Bedenken bleiben. Publizisten, Politiker und Medien, die nach einer würdigen, demokratischen Plattform im Netz suchen, dürfte dämmern, dass es diese nicht nur bisher nicht gibt – sondern vielleicht auch niemals geben wird. Trollarmeen und Botfarmen existieren heute nicht nur auf dem Nährboden von X, sondern überall im Internet, wo Kommunikation stattfindet. Die medialen Umwälzungen durch KI, die in der Lage ist, täuschend echt Wirklichkeit vorzugaukeln, kommen hinzu. Diejenigen, die sich auf derlei Anwendungen verstehen, vertiefen die gesellschaftspolitischen Gräben immer weiter.
Wer sich heute auf Bluesky und vergleichbaren Plattformen so einrichtet, als gäbe es das alles nicht, macht einen Fehler und verschließt die Augen vor der Realität. Lieber sollten wir den Blick nach vorne richten: Mit Technikfragen können wir uns in unseren kleinen Communities auf Mastodon beschäftigen, durch Threads scrollen, wenn wir eine Auszeit von der politischen Realität suchen, und durch Bluesky, um eine Zeitreise ins vergangene Jahrzehnt zu simulieren. Nur sollten wir den Zombie X, der noch eine ganze Weile umherwanken wird, nicht aus den Augen verlieren und gegen all das, was dort an Realitätsverzerrung, Fake News, Hass und Hetze stattfindet, antreten.
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