Freitag, 2. Dezember 2022

Plastikmüll: Kann ein historisches Abkommen die Müllflut in den Ozeanen stoppen?

 Spektrum   hier   Meera Subramanian

In diesen Tagen wird in Uruguay über einen globalen Vertrag gegen Plastikverschmutzung verhandelt. Forscher warnen, dass die Umsetzung an fehlenden Daten scheitern könnte.

An einem warmen, etwas windigen Tag im Frühjahr steigt Jace Tunnell am Morgan's Point in Houston, Texas, aus seinem Auto. Die Landzunge ragt in die Hafenzufahrt der US-amerikanischen Stadt hinein. Tunnell, Meeresbiologe und Direktor des Instituts für Meeresschutz an der University of Texas, stellt seine Uhr und macht sich an die Arbeit. Während er die Linie aus Dreck entlangläuft, die die letzte Flut im Sand hinterlassen hat, sammelt er jedes Plastikkügelchen auf, das er darin entdecken kann.

Die winzigen Kügelchen, auch Pellets genannt, sind der Rohstoff der Plastikindustrie. Aus ihnen entstehen all die vielfältigen Kunststoffprodukte, die den gesamten Globus umspannen. Tunnell macht einen Schritt, bückt sich und füllt seine Hand mit Mikroplastik, so wie er es schon an Stränden landauf, landab getan hat. Jedes dieser Teilchen ist ein Plastikdatenpunkt. Es gesellt sich zu den anderen Informationen, die zusammenkommen, wenn Studierende Netze in die Gewässer des Nordatlantiks tauchen, wenn Satelliteninstrumente die Lichtreflexionen von Plastikabfall im Ozean vermessen und Forscherteams Flaschen mit GPS-Sendern in Indiens Ganges versenken.

Zusammen helfen all diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das komplexe und stetig wachsende Problem der Plastikverschmutzung zu ergründen, das das Leben auf dem gesamten Planeten beeinflusst. Von den 9,2 Milliarden Tonnen nicht recycelter Kunststoffe, die zwischen 1950 und 2017 produziert wurden, entstand mehr als die Hälfte in diesem Jahrtausend und nur weniger als ein Drittel davon wird noch genutzt. Von den Abfällen endeten fast 80 Prozent auf einer Deponie oder gelangten in die Umwelt. Klägliche 8 Prozent wurden recycelt. Bis 2060 könnte sich die Menge der Kunststoffabfälle gegenüber 2019 verdreifachen. Die Kohlenstoffemissionen, die über den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen entstehen, werden sich voraussichtlich mehr als verdoppeln. Das zeigt ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2022. Bis zur Mitte des Jahrhunderts könnte fast die Hälfte des zusätzlich nachgefragten Erdöls auf die Produktion von Kunststoffen zurückzuführen sein. Auf der ganzen Welt sagen Menschen jedoch: »Es reicht.«

Infografik: Die Plastikwelle

© Nature, nach Letcher, T.M. (Hg.): Plastic waste and recycling: Environmental impact, societal issues, prevention, and solutions. Academic Press 2020; Subramanian, M.: Plastics tsunami: Can a landmark treaty stop waste from choking the oceans? Nature 611, 2022 (Ausschnitt)

Die Plastikwelle | Die globale Produktion von Primärkunststoff (nicht aus recycelten Materialien hergestellt) steigt drastisch an. Der Großteil wird entsorgt oder verbrannt.

Nachdem Forscherinnen und Forscher fast 30 Jahre lang davor gewarnt hatten, dass Kunststoffe ein wachsendes globales Problem darstellen, stimmten im März 2022 in Nairobi die Vertreter von 175 Staaten endlich dafür, ein rechtsverbindliches internationales Abkommen über Kunststoffe zu schaffen. Die Verhandlungen dazu haben am 28. November in Uruguay begonnen. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), nennt es »die wichtigste Abmachung seit dem Übereinkommen von Paris«. In der Nairobi-Resolution wird eine Bewertung des gesamten Lebenszyklus gefordert – von den Bohrlöchern für fossile Brennstoffe (wo 99 Prozent der Rohstoffe für Plastik herkommen) bis zur finalen Beseitigung. Außerdem sollen Maßnahmenpläne entwickelt werden, um auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene Plastikverschmutzung zu vermeiden, zu verringern und zu eliminieren.

    »Es ist die wichtigste Abmachung seit dem Übereinkommen von Paris«
António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen

Doch damit so ein Abkommen auch wirksam ist – bis Ende 2024 soll es in Kraft treten –, muss von Anfang bis Ende klar sein, woher das Plastik stammt, wohin es geht und wer dafür verantwortlich ist. »Ohne eine Datengrundlage haben wir keinen Maßstab für den Fortschritt«, sagt Kara Lavender Law, Ozeanografin bei der Sea Education Association (SEA) in Falmouth, Massachusetts. Die Organisation überwacht die Plastikverschmutzung der Ozeane bereits seit 1986.

Die Forschung zur Plastikverschmutzung hat im zurückliegenden Jahrzehnt explosionsartig zugenommen. Es gibt eine wachsende Anzahl von Studien, die zeigen, welche biologischen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen Produkte aus synthetischem Polymer haben, die es vor einem Jahrhundert so gut wie gar nicht gab. Allein in den letzten Jahren erschien eine Reihe von Berichten, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Plastikverschmutzung befassen, darunter jene von den US National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (NASEM) und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). In den Berichten wird ähnlich wie auch in Nairobi gefordert, ein besseres Verständnis für den Lebenszyklus von Plastik zu entwickeln. »Es geht darum, das gesamte Ausmaß der Auswirkungen von Kunststoffen zu erfassen«, sagt David Azoulay, Leiter des Bereichs Umwelt und Gesundheit und geschäftsführender Anwalt des Zentrums für Internationales Umweltrecht im schweizerischen Genf, das bereits mehrere Berichte über Kunststoffe erstellt hat.

Der NASEM-Bericht, der Anfang 2022 veröffentlicht wurde, plädiert dafür, dass die USA bis Ende des Jahres eine Strategie entwickeln sollten, um Plastikmüll im Ozean zu reduzieren, und zwar auf sechs Ebenen: von der Produktion über das Produktdesign bis hin zur Entsorgung. Zudem werden Wissenslücken auf jeder Stufe aufgezeigt und der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft empfohlen, in der Materialien wie Kunststoffe wiederverwendet und nicht weggeworfen werden. »Wie definieren wir vermeidbare, unnötige und problematische Kunststoffe, um ihre Beseitigung voranzutreiben?«, fragt Margaret Spring, Leiterin der Abteilung Naturschutz und Forschung am Monterey Bay Aquarium in Kalifornien und Mitglied im Vorstand des Komitees, das den Bericht veröffentlicht hat.

Dies erfordert eine noch nie da gewesene Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Bürgern, politischen Entscheidungsträgern und Geschäftsführern, denn die Daten von Regierungen und Unternehmen über die Produktion und den Transport von Plastik sind lückenhaft. Forscherinnen und Forscher werden eine besonders wichtige Rolle bei der Erhebung der Basisdaten spielen, die notwendig sind, um die Ziele eines globalen Kunststoffabkommens messbar zu machen. »Man kann nichts kontrollieren, was sich nicht messen lässt«, sagt Kara Lavender Law.

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Es mangelt an Transparenz

Oben bei der Plastikproduktion anzusetzen, stellt für Forscher eine weitere Herausforderung dar. Der Mangel an transparenten Produktionsdaten ist dem NASEM-Bericht zufolge eine der größten Wissenslücken. Zwar geht es in dem Papier vor allem um die Rolle der USA bei der Verursachung globaler Plastikabfälle in den Ozeanen. Dieser enge Fokus hat jedoch seine Berechtigung, denn das Land produziert mehr Plastikmüll als jedes andere und übertrifft sogar die gesamte Europäische Union.

Infografik: Die Müll-Spitzenreiter

© Nature, nach: Reckoning with the U.S. role in global plastic waste. National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine 2021; Subramanian, M.: Plastics tsunami: Can a landmark treaty stop waste from choking the oceans? Nature 611, 2022 (Ausschnitt)

Auch wenn Firmendaten geschützt sind, haben einige Forscher versucht auszuwerten, was in den Abfallstrom gelangt. 

Jenna Jambeck, eine Umweltingenieurin an der University of Georgia in Athens, veröffentlichte 2015 eine bahnbrechende Studie, in der sie schätzte, dass jedes Jahr acht Millionen Tonnen Plastik in die Weltmeere gelangen. Die Studie habe jedoch ihre Grenzen, räumt Jambeck ein, zum Teil wegen des Mangels an Transparenz. Sie und Margret Spring kritisieren, dass es etwa kaum möglich sei, genaue Daten zu Polyethylenterephthalat (PET) zu erfassen, dem allgegenwärtigen Kunststoff, der in Getränkeflaschen und anderen Alltagsprodukten zum Einsatz kommt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind besorgt darüber, dass sich die öffentliche Diskussion nur ums Recycling und den Umgang mit Plastik dreht, nachdem es die Konsumenten erreicht hat. Dieser Diskurs wird von der Industrie befeuert. Dabei sollte es primär darum gehen, wie all diese Kunststoffe erzeugt werden und wo sie am Ende landen. Daher wird im NASEM-Bericht und in den weltweiten Gesprächen der Schwerpunkt auf Strategien für eine Kreislaufwirtschaft gelegt, die sich mit der ersten Phase des Lebenszyklus von Kunststoffen, der Produktion, befassen.

»Wir beschäftigen uns sehr stark mit dem Material, sobald es in der Umwelt gelandet ist – das ist der Moment, in dem wir wütend werden«, sagt Jambeck. »Aber wir kümmern uns nicht um die Zeit davor. Wenn wir verhindern wollen, dass es in die Umwelt gelangt, müssen wir jedoch am Anfang ansetzen und die Produktionsdaten verfolgen.«

Sobald Plastik in den Abfallstrom gelangt, stützen sich die Forscher stark auf die UN-Datenbank Comtrade. Darin werden öffentlich verfügbare Daten zu Plastikabfällen erfasst, um sie zu messen und nachzuverfolgen, wo sie landen. Doch die Comtrade-Daten geben keine Auskunft darüber, welche Umweltauswirkungen das Plastik am Ende hat. Die Datenlage ist nur so aufschlussreich wie die offiziellen staatlichen Handels- und Zollinformationen, auf denen sie basiert.

»Es gibt viel unsichtbares Plastik«, sagt David Azoulay. Australien zum Beispiel habe den Export von Plastikabfällen verboten. Dennoch erlaubt das Land weiterhin die Ausfuhr von gepressten Abfällen, die für Zementöfen in Asien bestimmt sind und als Brennstoff eingestuft werden. »Das taucht in den Comtrade-Daten nicht auf«, sagt er.

2018 durchlief die Plastikindustrie einen tief greifenden Wandel: China führte sein National-Sword-Programm ein und verbot den Import der meisten Plastikabfälle. Seit 1992 hatte das Land 45 Prozent des globalen Plastikmülls aufgenommen. Damit ist nun Schluss. Über Nacht wurde der globale Kunststoffverkehr neu organisiert, indem die endgültigen Bestimmungsorte für Abfälle nach Malaysia, Vietnam, Thailand, Indonesien und Indien verlegt wurden. Die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine erschwerten die Produktion und den Transport von Kunststoffen weiter. Und Länder, die sich auf einmal von Plastikmüll überschwemmt sehen, weil sie keine Anlagen für seine Verarbeitung haben, führen oft Verbote ein, deren Durchsetzung fraglich bleibt.

Illegaler Handel mit Plastik nimmt zu

Vor dem Hintergrund dieser Kluft spielt laut der internationalen Polizeibehörde Interpol die organisierte Kriminalität eine zunehmende Rolle beim Handel mit illegalen Plastikabfällen. Dadurch wird es noch komplizierter, Daten zu erheben. Plastik wird falsch deklariert, versteckt oder umständlich verschifft, um nicht erfasst werden zu können. So wird der sowieso schon erhebliche CO2-Fußabdruck des Plastiks um ein Vielfaches erhöht.

Um diese Flut einzudämmen, wurde das Basler Übereinkommen zur Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (kurz: Basler Abkommen) im Jahr 2019 verschärft. Dem Beschluss zufolge gilt Plastik als gefährlicher Abfall, der verfolgt und dokumentiert werden muss. Eine Schwachstelle des Abkommens ist die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten mit ihren enormen Mengen an Kunststoffabfällen nicht zu den Unterzeichnern gehören. Innerhalb der Landesgrenzen stuft die US-Umweltschutzbehörde Kunststoff als festen Siedlungsabfall und nicht als gefährlichen Stoff ein, so dass nur eine minimale Verfolgung erforderlich ist. Es gibt jedoch Bestrebungen, Kunststoffe als giftig einzustufen und damit dem Beispiel des Basler Übereinkommens und Ländern wie Kanada zu folgen, das dies 2021 geändert hat. Auch Bauabfälle aus Kunststoff werden in der Buchführung nicht berücksichtigt.

Bei all den Unklarheiten füllen manchmal Aktivisten vor Ort die Datenlücken. Dazu gehört zum Beispiel die Person, die herausfand, dass eine vermeintliche Papierlieferung, die in einem Hafen in der indonesischen Provinz Ostjava ankommen sollte, in Wahrheit mit Kunststoff durchsetzt war. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die bei einer Presseveranstaltung im Juni 2022 zur Sprache kamen, bei der die Non-Profit-Organisation Basel Action Network (BAN) ihren Bericht zum ersten Jahr nach der Verschärfung des Basler Abkommens vorgestellt hat. Der Überwachungsbeauftragte für Kunst- und Giftstoffe aus Seattle zog dabei eine düstere Bilanz. Wie BAN-Gründer und -Geschäftsführer Jim Puckett berichtete, weigerten sich etliche Länder, die neuen Regeln umzusetzen oder durchzusetzen. Die Verstöße, sagte er, »bedrohen die Integrität des Abkommens«.

    »In Afrika gibt bereits einen wahren Plastik-Tsunami«
Leslie Adogame, Geschäftsführerin eines nigerianischen Thinktanks

Die falsch deklarierte Lieferung nach Indonesien war nur ein Hinweis auf die Plastikflut, die das Land heimsucht. Die Menge an Plastikabfällen, die der Inselstaat importiert, hat sich im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 mehr als verdoppelt. Südostasien ist nur eine von vielen Regionen, die in Plastikmüll ertrinken, was das globale Ungleichgewicht bei der Umweltverschmutzung noch verstärkt. Das betrifft den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen – von der Öl- und Gasförderung über die Standortauswahl von Fabriken bis hin zur Abfallwirtschaft. »In Afrika gibt bereits einen wahren Plastik-Tsunami«, sagt Leslie Adogame, Geschäftsführerin des Thinktanks »Sustainable Research and Action for Environmental Development Nigeria« in der Metropole Lagos.

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