Republik hier
Warum ein einseitiger Fokus auf die Klimakrise vom wahren Ausmass der Probleme ablenkt und Wähler ein garantiertes Recht auf Fakten haben sollten. Transformationsforscherin Maja Göpel blickt auf einen deutschen Wahlkampf zurück, in dem der Kampf um Privilegien Zukunftsfragen verdrängt hat.
Frau
 Göpel, vergangenes Jahr äusserten Sie in einem Interview die Hoffnung, 
dass die Wahlen 2021 in Deutschland fair ablaufen und die Spaltung der 
Gesellschaft nicht noch weiter befeuern. Stattdessen wurde der 
Wahlkampf richtig schmutzig: Es ging weniger um Inhalte als um Angriffe
 auf den politischen Gegner bis hin zu Lügen. Was ist passiert?
Die
 alte Normalität wird zwar noch immer beschworen, aber sie greift nicht 
mehr. Das löst wahnsinnige Verunsicherung aus. Die Hälfte der 
Bundesrepublik sagt: Es ruckelt gerade wie verrückt, jetzt müssen wir 
da durch und dann bauen wir Neues auf. Die andere Hälfte will das 
Versprechen hören, dass wir uns das Bekannte nun zurückholen und wieder
 etablieren. Es ist ein Ringen um die Deutungshoheit darüber, was jetzt
 ansteht. Ein Richtungsstreit. Das ist eine Erklärung, warum der 
Wahlkampf derart eskaliert ist.
Maja Göpel ist Politökonomin, Transformationsforscherin und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. 2016 veröffentlichte sie das Buch «The Great Mindshift», das auf Forschung zu Systemtransformationen, politischer Ökonomie und Veränderungsmanagement beruht. Bis Juli 2021 war sie wissenschaftliche Direktorin der Denkfabrik The New Institute. Sie ist unter anderem Mitglied des Club of Rome und des World Future Council. Maja Göpel ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt mit ihrer Familie in Werder bei Potsdam.
Eine
 junge Kandidatin tritt für das Bundeskanzleramt gegen zwei ältere 
Kandidaten an: Ringt hier der «alte weisse Mann» als Bild etablierter 
Macht um seine Vormachtstellung?
Das ist nicht die erste 
Perspektive, mit der ich darauf schaue. Alter und Geschlecht dürfen 
nicht zu überstrapazierten Filtern werden. Aber wir haben in diesem 
Wahlkampf gesehen, dass die patriarchale Struktur wankt. Mir ist es 
wichtig, diese Struktur nicht mit «Mann» gegen «Frau» gleichzusetzen. 
Ich meine damit Dominanzstrukturen, sehr hierarchische 
Machtverhältnisse, die oft mit einer Kultur des Misstrauens und der 
Überheblichkeit einhergehen.
Was meinen Sie damit?
Der
 Habitus, den wir oft, aber nicht nur, in wenig diversen Männerrunden 
beobachten, ist schon länger ins Rutschen geraten, weil alles einfach 
sehr viel bunter, sehr viel femininer, sehr viel gemischter, sehr viel 
offener geworden ist. Und die Sicherheitsanker für diejenigen, die 
vorher privilegiert waren, sind dadurch ins Rutschen gekommen, inklusive
 Identitäten und Machtpositionen. Der Kampf um diese Privilegien, 
dieses Nicht-loslassen-Wollen, ist in diesem Wahlkampf jetzt besonders 
sichtbar geworden. 
Hat die Corona-Krise diese Entwicklung verstärkt?
Am
 Anfang der Krise in Deutschland haben wir mit sehr viel Solidarität 
reagiert. Da kam ganz viel Vokabular nach vorne, wo man dachte: Was ist 
denn jetzt passiert? Auf einmal wurde die Gemeinschaft in den 
Vordergrund gestellt, die systemrelevanten Jobs. Es wurde gesagt: Uns 
ist da etwas entglitten. Wir haben die Menschen nicht gesehen, die uns 
die ganze Zeit überhaupt ermöglichen, dass Versorgungssicherheit 
gewährleistet ist. Es wurde gefragt: Was ist uns wirklich wichtig?
Weder
 die Solidarität noch die Reflexion hat in der Krise lange gehalten. Was
 glauben Sie, wo und warum ist die Gesellschaft falsch abgebogen?
Die
 Solidarität kam in den Vordergrund, als der Lockdown für alle galt, 
also wirklich alles runtergefahren wurde bis auf das Allernötigste. 
Alle sassen in einem Boot. Dann ging es über den Sommer mit dem 
Vorwahlkampf los: Die Bundesländer setzten auf unterschiedliche 
Corona-Strategien, aber nicht in kooperativem Lernen, stattdessen setzte
 sich der eine gegen den anderen ab, und dann ist alles aus dem Ruder 
gelaufen.
Inwiefern aus dem Ruder gelaufen?
Plötzlich
 gab es viele schlecht begründete Ausnahmen für Teile der Gesellschaft. 
Warum sind die gleicher als wir? Das Gefühl kam auf, dass es jene, die 
näher dran sind an der Macht, besser haben. Zum Beispiel die grossen 
Konzerne mit ihren sehr organisierten Interessen. Und den kleinen 
Betrieben, den Soloselbstständigen und den Künstlerinnen hat der Staat
 angeboten: Ihr könnt ja in Hartz IV
 gehen. Das war eine Ansage, die sehr starke Verärgerung ausgelöst hat 
und durch die Dividendenauszahlungen der Konzerne in Zynismus 
umgeschlagen ist. Und dann waren da auch noch die Maskendeals der 
Politik: Da wurde deutlich sichtbar, dass da einiges in der Entflechtung
 von politischer und privatwirtschaftlicher Macht falsch läuft.
Abgeordnete der CDU haben einem Unternehmen einen Maskendeal für 60 Millionen Euro Steuergeld vermittelt und Provisionen in Höhe von 11,5 Millionen Euro kassiert.
Dass
 sich auch in einem Moment der akuten Krise die Vetternwirtschaft Bahn 
bricht, ist natürlich toxisch gewesen. Darauf folgte die nächste Phase 
des Wahlkampfs: die Suche nach einem starken Mann, der Angela Merkel 
beerben könnte. Diese Stärke wird nicht dadurch gesucht, dass auch mal 
Fehler eingestanden werden und Massnahmen zur Überwindung des 
Misstrauens in die Unabhängigkeit von Politikerinnen und Parteien 
vorgeschlagen werden – sondern indem Kritikern mangelnde Kompetenz oder
 Mitbewerberinnen Aussagen unterstellt werden, die sie nie getätigt 
haben. Anstatt die Transparenz zu erhöhen, nimmt man es lieber mit der 
Wahrheit weniger ernst. Das empfinde ich als sehr besorgniserregende 
Entwicklung.
Dass
 Politiker unangenehmen Wahrheiten ausweichen, gab es schon immer. Dass 
nun aber offen und oft unwidersprochen Unwahrheiten gesagt werden, ist 
im Wahlkampf besonders grell sichtbar geworden. Wie kann verhindert 
werden, dass das der neue Standard wird?
Die Welt hat sich seit der Verabschiedung der Menschenrechtscharta
 deutlich verändert. Wir brauchen neue individuelle Grundrechte und die
 Möglichkeit, sie auch auf europäischer Ebene einzufordern. Deshalb 
unterstütze ich die Kampagne von Ferdinand von Schirach, die genau dies fordert.
Was genau?
Zum
 Beispiel das Recht auf eine intakte Umwelt. Oder das Recht, nicht von 
Algorithmen ausspioniert zu werden. Eines war in der öffentlichen 
Debatte über diese Kampagne besonders umstritten: das Recht auf 
Wahrheit. Dass wir ein Recht darauf haben sollen, dass in politischen 
Ämtern die Wahrheit gesagt wird. Wie soll das denn bitte gehen, hiess 
es. Wir haben das ein halbes Jahr diskutiert, darüber auch mit 
Juristinnen gesprochen – und der Punkt ist folgender: Es geht nicht 
darum, nie Informationen vorzuenthalten oder auch mal eine Lüge 
verwenden zu dürfen. Es geht um das systematische Lügen als Strategie. 
Wir konnten in den USA sehr gut beobachten, was mit einer Demokratie 
passiert, wenn der Faden zwischen realem Geschehen und den Aussagen von 
Amtsträgerinnen reisst.
Wir sollten ein Recht haben auf Fakten? Auf Transparenz?
Es
 geht nicht darum, dass man in Fragen der nationalen Sicherheit 
Staatsgeheimnisse offenlegt. Es geht darum, dass in dem Moment, wo ein 
Politiker an die Öffentlichkeit tritt, ich mich darauf verlassen kann, 
dass er mich nach bestem Wissen und Gewissen informiert und nicht 
einfach Sachen erfindet. Die Offensichtlichkeit der Lügen bei einigen 
prominenten Kandidatinnen im Wahlkampf hat mich da wirklich sehr 
verstört.
Immerhin lassen sich diese Lügen leicht entlarven, die Wahlprogramme sind ja kein Geheimnis.
Aber
 wir möchten doch Führungsfiguren, denen wir vertrauen können. Wenn 
ständig mehr Unsicherheit gestreut wird, was jetzt wirklich wahr ist und
 was nicht, nähern wir uns dem, was Hannah Arendt über die Gesellschaft 
im Totalitarismus sagt: Das Problem ist nicht, dass die Leute was 
Falsches glauben, sondern dass niemand niemandem mehr glaubt. Dabei ist 
gerade in Umbruchzeiten die Sehnsucht nach einem Anker, nach einer Form
 von Wahrhaftigkeit und Orientierung, sehr ausgeprägt. Wir können nicht 
einerseits die kollektive Identität und den Zusammenhalt beschwören und
 andererseits die Grundlagen für vertrauensvolles Miteinander 
verweigern.
Wie meinen Sie das?
Neben
 Transparenz über die Wirkung politischer Entscheidungen braucht es auch
 eine Verantwortungsübernahme privilegierter Personen. In diesen 
Kreisen findet sich zum Teil ein sehr aggressiver Ton mit dem Anstrich 
eines vulgär ausgelegten Liberalismus: «Lass mich bloss in Ruhe in 
meinem Lebensstil! Ist mir total egal, was die Konsequenzen meines 
Handelns sind. Und wenn du mir das vorhalten willst, dann bist du der 
Moralapostel.» Hier wird die zweite wichtige Hälfte der liberalen 
Freiheit, nämlich die Übernahme von Verantwortung für Entscheidungen, 
schlicht gestrichen.
Wie äussert sich das?
Weil
 man es kann, externalisiert man die Folgen von Entscheidungen auf 
andere. Freiheit ist gesellschaftlich betrachtet immer relativ. Auch bei
 der Verteilung von Chancen. Wenn durch vorherige Politik eine starke 
Schieflage entstanden ist, dann gilt es diese zu korrigieren. Das hat 
dann nichts mit Kommunismus zu tun, sondern damit, dass wir einige 
Effekte von Politik erst mit der Zeit beobachten können – oder manchmal 
eben auch damit, dass sich die sowieso Privilegierten vorteilhafte 
Gesetze geschaffen haben. 
Über
 eines sind sich fast alle einig: Es steht bei dieser Wahl zum Deutschen
 Bundestag extrem viel auf dem Spiel. Der Klimawandel muss aufgehalten
 werden. Welche Partei ist Ihrer Ansicht nach für diese Herausforderung
 am besten aufgestellt?
Ich möchte hier keine Wahlwerbung 
für eine Partei machen. Ich glaube ausserdem, es würde uns sehr guttun, 
wenn wir nicht beim Klima blieben. Wir haben weitere grosse ökologische 
Herausforderungen vor uns: die Frage der Biodiversität und der 
Landnutzung. Es bleibt uns nur noch eine Dekade, um nature positive
 zu werden, also auf Regeneration, Widerstandsfähigkeit und 
Kreislaufwirtschaft zu setzen, um den wahnsinnigen Verfall von 
ökologischem Kapital aufzuhalten und Resilienz dauerhaft zu stärken. 
Der politische Fokus auf das Klima ist zu eng gefasst?
Ja. Diese Jagd nach dem CO2
 besorgt mich etwas, weil wir ganz schnell Problemverschiebungen in 
Kauf nehmen, weil wir den Fokus darauf, welches Problem wir lösen 
müssen, sehr eng machen. Es ist wichtig, dass wir diese Fragen immer 
systemisch betrachten, das Ökologische gemeinsam mit dem Sozialen. Lange
 haben wir von den trade-offs gesprochen. Dann würde ein 
höherer Umweltschutz die Armen negativ belasten. Das wird auch aktuell 
extrem gegeneinander ausgespielt, insbesondere von denjenigen, die sich
 vorher nie für Arme und deren Lebensbedingungen interessiert haben und
 sich bei Fragen zu Mindestlohn oder Mietbremse nicht sehr generös 
zeigen.
Was ist die Alternative?
Zukunftspolitik muss zu den trade-ins
 finden und Umweltmassnahmen sozial progressiv gestalten, aber nicht 
die Lösung aller sozialen Fragen an die Umweltpolitik delegieren. Im 
Endeffekt sind es oft ärmere Haushalte, die durch ihre Wohnlagen und 
Jobs von Umweltbelastungen am stärksten betroffen sind, also von einem 
sauberen Wirtschaftsmodell profitieren. 
Heisst: Es braucht mehr als einen Preis für CO2?
Wenn
 es primär über Preise geregelt wird, können diejenigen mit viel Geld 
sich weiter ihre Lebensstile finanzieren und dafür Ablasshandel 
betreiben. Doch die Frage nach dem Lebensstil wird sich bald sehr stark 
stellen. Hier geht es um Klima- und Ressourcengerechtigkeit. Auf der 
internationalen Ebene ist das schon lange ein brennendes Thema. Bei uns 
ist diese Frage in der öffentlichen Debatte noch stark unterbelichtet.
Was bedeutet das dann konkret für unseren Lebensstil?
Dass
 wir auch bei Ressourcen klare Grenzen der Nutzung brauchen. Finnland 
zum Beispiel hat den Verbrauch an Primärressourcen gedeckelt, er darf 
bis 2035 nicht über den Wert von 2015 steigen. Und wenn wir die CO2-Reduktionen
 ernst nehmen, werden wir um Fragen der Suffizienz und der Einsparung 
von Energie über Effizienzgewinne hinaus nicht herumkommen. Dafür 
lassen sich andere Strategien der Bedürfnisbefriedigung entwickeln, das
 Stichwort ist nutzen statt besitzen. Ein Industriesystem der Zukunft 
sieht ganz anders aus. Das hat auch die Wirtschaft selbst erkannt. Die 
Umbauphase wird einige tiefe Veränderungen mit sich bringen, die 
anstrengend und kostenintensiv sind. Das kann man als Zumutung 
beschreiben oder aber als Lernprozess.
Verstehe
 ich Sie richtig: Wir müssten eine temporäre Durststrecke des viel 
beschworenen Verzichts durchlaufen, aber mittelfristig wäre es am Ende 
dadurch letztlich billiger für alle?
Ja, wir werden auf 
Dinge, die wir heute haben, verzichten müssen. Ob das dann gut oder 
schlecht ist, bleibt auszuhandeln. Berechnungen zeigen, dass wir in der 
aktuellen Wirtschaftsweise bis zu 19 Prozent des Bruttoinlandprodukts 
als ökologische, gesundheitliche und gesellschaftliche Kosten abziehen 
müssten. Eine Wirtschaft sollte dem Wohlergehen der Menschen dienen und
 das langfristig, sprich innerhalb dessen, was der Planet zur Verfügung 
stellen kann. Solange wir mit unzureichenden Daten arbeiten, sollten wir
 vorsichtig sein damit, den Verzicht auf einige Gewohnheiten und 
Produkte mit einer Verschlechterung der Lebensumstände gleichzusetzen. 
Von welchen Daten sprechen Sie?
Das
 geht los beim Bruttoinlandprodukt. Deutschland hat 30 Milliarden Euro 
an Ausgaben für die Aufräumarbeiten nach den Überschwemmungen im Juli.
 Sie werden sicher das BIP positiv beeinflussen, da ja ökonomische 
Transaktionen notwendig werden. Aber ist das ein Erfolg? Und sind 
Ausgaben in die Vermeidung einer höheren Frequenz von Flutkatastrophen –
 also Klimaschutz – wirklich Schulden? Oder doch Investitionen? Das 
Gleiche muss auf Unternehmensebene korrigiert werden: 
Geschäftsmodelle, die soziale und ökologische Kosten externalisieren, 
sind finanziell erfolgreicher.
Wie lässt sich das ändern?
Unter true cost accounting
 wird an der Erneuerung der Rechnungslegung gearbeitet. Dann können wir
 sehen, welche kurzfristig kostenintensiven Aufwände auch wieder 
Wachstum ermöglichen – Wachstum von ökologischem und sozialem Vermögen. 
Das wird auch von einem zunehmenden Teil von Unternehmen unterstützt, 
die transformativ budgetieren und damit gestrandete Vermögenswerte – 
zum Beispiel technische Anlagen oder Rohstoffvorräte, die unerwartet 
drastisch an Ertrags- oder Marktwert verlieren – vermeiden können. Das 
heisst konkret, sie arbeiten nicht erst dann an der Tilgung von 
ökologisch schädlichen Anteilen in ihrer Wertschöpfungskette, wenn 
dann die Regulierung kommt.
Um Regulierung geht es auch bei den Digitalkonzernen, die sich bisher kaum an Regeln halten. Wieso passiert da so wenig?
Ich
 weiss nicht, warum wir da so lange fackeln. Die Geschäftsmodelle der 
grossen internationalen Konzerne entsprechen nicht den Vorsätzen oder 
Vorschriften, die wir uns im deutschen Recht gewohnt sind. Hierzulande 
gilt: Im Geschäftsmodell steckt auch ein sozialer Kontrakt drin, also 
hinterzieht man keine Steuern. Man reinvestiert auch durch die 
Steuerzahlungen vor Ort. Es gibt Arbeitnehmerverhältnisse, denen man 
nicht systematisch auszuweichen versucht. Und ja, man muss nicht so tun,
 als wäre das Einfordern dieses Verhaltens von Konzernen ein Verhindern 
des Fortschritts.
Sondern?
Es
 nicht einzufordern, ist ein Verlust von tief konservativen Werten. 
Insofern verstehe ich nicht, warum die Parteien hier nicht 
zusammenfinden. Der ehrbare Kaufmann, die ehrbare Kauffrau ist eine 
zentrale Figur in der sozialen Marktwirtschaft. Ich muss doch mit 
Integrität ein erfolgreiches Unternehmen leiten können und nicht 
bescheissen müssen, weil andere es auch tun. 
Solche zentralen Themen wurden im Wahlkampf kaum verhandelt.
Nein.
 Deshalb arbeite ich viel an der Diskurshoheit, weil wir merken, dass 
diese Fehlentwicklungen immer deutlicher zutage treten; und damit ist 
die Hegemonie des vorherigen Fortschrittsmodells gebrochen, diese 
Geschichte, mit der wir viele politische Entscheidungen legitimiert 
haben.
Welche Geschichte?
Dass
 Wirtschaftswachstum entkoppelt ist vom Umweltverbrauch. Mindestens die
 Hälfte der Gesellschaft glaubt das nicht mehr. Oder nehmen wir den 
Trickle-down-Effekt. Selbst wenn ihn einige Parteien wieder bemühen: 
Ausgerechnet jetzt, wo reiche Menschen 0,1 Prozent Zinsen zahlen, 
brauchen sie Steuererleichterungen, damit sie anfangen zu investieren? 
Das ist absurd. Auch die Erzählung, dass es gut für die reale Wirtschaft
 ist, wenn die Finanzmärkte immer freieres Spiel kriegen, überzeugt 
überhaupt nicht, solange nicht auch bei Investitionen ökologische und 
soziale Effekte und langfristige Auswirkungen berücksichtigt werden.
Sie
 warnen vor Kipppunkten, die irreversibel sind, beim Klima, bei der 
Biodiversität, bei den Ozeanen. Gibt es so einen Kipppunkt eigentlich 
auch beim Menschen?
Für mein kommendes Buch haben wir bei 
Goldman Sachs recherchiert, wo die jungen Bankerinnen sagen: «Eine 
100-Stunden-Woche und jede Nacht nur vier, fünf Stunden schlafen. Ich 
habe bald nichts mehr, was ich Leben nennen würde.» Diese Maschine läuft
 sich ja wahnsinnig heiss. Ich sehe es als Chance, wenn selbst bei den 
«Gewinnern» des Systems die Unterstützung für diese Form des 
Wirtschaftens erodiert. Die Menschen merken, dass sie auch mal schlafen 
müssen, weil sie sonst nicht nur weniger effektiv arbeiten, sondern vor 
allem auch ihren Optimismus verlieren. Schlaf darf dabei nicht bedeuten,
 dass dann keine Freizeit oder kein Sport mehr möglich ist. Es ist ein 
wichtiges Kriterium für Lebensqualität und individuelle 
Widerstandsfähigkeit, in Beziehungen zu stehen, die einen tragen. All 
die tragischen Analysen über die Einsamkeit, all die Studien über 
Depressionen und Anspannung – vor allem in angelsächsischen Ländern, 
welche die Freizeit der Menschen weit weniger geschützt haben –, sollten
 wir ernst nehmen. 
Wenn Sie für die Zeit nach der Wahl in Deutschland eine Utopie formulieren müssten, wie würde sie lauten?
Die
 Hoffnung, dass wir aufhören, uns gegenseitig die Schuld zuzuschieben, 
und stattdessen sagen: Lasst uns die veralteten Strukturen ändern, dann 
können wir auch gemeinsam wieder nach vorne kommen. Dass wir wirklich 
auf die kulturell, sozial und ökologisch destruktiven Strukturen schauen
 und sie integrativ, partnerschaftlich, kooperativ und chancengerecht 
neu ausrichten. Dass wir aus einer systemischen Perspektive heraus 
sagen: Lasst uns mit rechts, links, grün, rot, oben, unten, mit diesen 
vorgefertigten Meta-Konzepten wie Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus
 aufhören und ganz konkret die Überzeugungen, Anreize, 
Beziehungsmuster, Regeln und Institutionen transformieren, die ein 
wertschätzendes und regeneratives Wirtschaften und Zusammenleben 
künstlich schwer machen. Dass wir also fragen: Welche Lösungen dienen 
dem Schutz des Lebendigen, der Diversität und der 
Versorgungssicherheit – und nicht dem Mammon, der technischen 
Machbarkeit und der Macht?
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