15 neue Tätigkeiten hat der ehemalige deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger seit Ende seiner Amtszeit aufgenommen. Darunter: Seine eigene Wirtschafts- und Politikberatung, samt Eintrag im Brüsseler Lobbyregister. Aber auch Beratungstätigkeiten für Lobbyagenturen und die Unternehmensberatung Deloitte sowie ein Aufsichtsratsposten beim badischen Tunnelbohrer Herrenknecht. Aber nicht nur die Spitzen der Politik, auch zahlreiche Beamte wechseln fröhlich zu Lobbyakteuren, die sie explizit wegen ihrer internen und detaillierten Kenntnisse ihres Politikfelds sowie ihrer Kontakte zu sich holen. Die Cheflobbyistin von Facebook in Brüssel arbeitete vorher in der EU-Kommission zu Desinformation und Einmischung in Wahlen, der Cheflobbyist der größten EU-Finanzlobbygruppe war zuvor Exekutivdirektor der Bankenaufsichtsbehörde. Und im EU-Parlament wurde zwar immer wieder gegen Ethik- und Transparenzregeln verstoßen, aber nie wurde auch nur eine einzige Sanktion verhängt.
Das EU-Parlament hat
gestern einen sehr wichtigen Entschluss gefasst. Wie Sie wahrscheinlich auch,
fand eine Mehrheit der Abgeordneten, dass diese Situation nicht länger
hinnehmbar ist. Zwar gibt es Regeln, zum Teil auch gar keine
schlechten. Aber die kontrollierenden Gremien, die im Falle eines Verstoßes
Sanktionen verhängen, stehen den Betroffenen viel zu nahe, um neutral zu
urteilen: Im EU-Parlament beraten aktive Abgeordnete, ob Sanktionen nötig sind.
Und selbst wenn sie sich einmal dafür entscheiden würden: Am Ende hat der
Parlamentspräsident das letzte Wort, und der will sein eigenes Haus nicht mit
dem Fehlverhalten seiner Abgeordneten in Verruf bringen. In der EU-Kommission
liegen die Dinge ähnlich.
Deshalb hat das Parlament der EU-Kommission gestern einen Vorschlag unterbreitet: Zukünftig soll eine unabhängige Ethikbehörde über die Einhaltung der Regeln für Integrität und Unabhängigkeit wachen. Die neun Ethikwächter:innen sollen sich zum Beispiel aus früheren Abgeordneten, Richter:innen, Bürgerbeauftragten oder Rechnungshof-Mitgliedern rekrutieren und möglichst alle EU-Institutionen kontrollieren. Anders als bisher sollen sie bei Hinweisen auf Fehlverhalten auf eigene Initiative mögliche Regelverstöße untersuchen können, im Moment werden ihnen Fälle überwiesen - oder auch nicht. Zwar hätten Kommission und Parlamentspräsident immer noch das letzte Wort, aber die Empfehlung des Gremiums würde veröffentlicht. So würde eine Entscheidung, die an dieser Empfehlung völlig vorbeigeht, die Verantwortlichen ganz schön unter Rechtfertigungsdruck setzen.
Die EU-Kommission ist grundsätzlich auch schon im Boot. Sie steht unter Zugzwang, denn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte eine solche Behörde bei ihrer Bewerbung selbst vorgeschlagen. Umso schlechter sieht es jetzt aus, dass sich ihre Partei – die Union – gestern bei der Abstimmung enthalten hat, so wie die ganze europäische christlich-demokratische Parteienfamilie. Mehr noch: Bei den Verhandlungen hatte die CDU versucht, die geplante Ethikbehörde an entscheidenden Stellen zu schwächen. Als diese Schwächungsversuche nicht aufgingen, hat sie gegen den ganzen Vorschlag gestimmt. Anstelle von zwei zahnlosen Gremien wollte die Union eines setzen, das weiterhin nichts ausrichten kann.
Es ist schon bemerkenswert: Gerade hatte die Union in Deutschland noch gemeinsam mit den anderen Fraktionen für entscheidende Verbesserungen bei den Ethik- und Transparenzregeln für den Bundestag gestimmt. Nach Maskendeals, Aserbaidschan-Skandal und anderen Fällen von Fehlverhalten war dies zur Wiedergewinnung von Vertrauen auch dringend nötig. Und nun stemmt sie sich auf EU-Ebene gegen die Einführung eines Gremiums, dass dafür sorgen würde, dass derartige Regeln auch durchgesetzt werden? Vielleicht dachte man in der Union, dass das, was auf EU-Ebene passiert, sowieso keiner mitbekommt.
Sie will nämlich auf keinen Fall, dass eine solche Behörde Schule macht. Denn die EU ist – wie bei allen Lobbyregeln – der Bundesebene mal wieder ein gutes Stück voraus. Die Durchsetzung von Ethikregeln gegen Interessenkonflikte ist auf Bundesebene mindestens ebenso schwach wie in Büssel. Und hier wollen wir ansetzen: Auf europäischer Ebene werden wir uns für ein starkes und unabhängiges Gremium für alle EU-Institutionen einsetzen. Und die nächste Bundesregierung kann damit rechnen, dass wir ihr mit diesem Vorbild Druck machen werden – damit wir nicht nur deutlich verbesserte Lobbyregeln haben, sondern diese auch angewandt werden, um Integrität und Unabhhängigkeit in der Politik zu schützen und zu erhalten.
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