Dienstag, 21. September 2021

Duell im «Himmelreich des Barock»

 Neue Züricher Zeitung   hier  von Hansjörg Friedrich Müller, Balingen 

In Oberschwaben könnten die Grünen der CDU den Rang ablaufen

Der Süden Württembergs galt einmal als Erbhof der deutschen Christlichdemokraten. Nun könnte erstmals ein Grüner einen Wahlkreis gewinnen: Johannes Kretschmann, der Sohn des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Impressionen aus einem Landstrich, in dem alte Gewissheiten nicht mehr gelten.

Wer aus der Grossstadt anreist, den beeindruckt der Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen allein schon durch seine blosse Grösse: Eine knappe Stunde braucht, wer die siebzig Kilometer von Bad Saulgau im Osten nach Balingen im Westen zurücklegt. Ohne Auto geht hier wenig, und auf den grossen Durchgangsstrassen schieben sich die Lastwagen zäh dahin. Kreuze am Wegesrand zeugen von der katholischen Prägung der Region, aber auch davon, dass so mancher hier im Strassenverkehr sein Leben lässt.

Am Auge des Fahrers ziehen Bauernhöfe und grüne Hügel vorbei, barocke Kirchen mit Zwiebeltürmen, aber auch Gewerbegebiete und Industriestädtchen, denen man den Wohlstand ansieht. In Oberschwaben, «dem Himmelreich des Barock», «dem gottgesegneten Landstrich», wie man früher im Württembergischen sagte, herrscht Vollbeschäftigung. Vor den Gasthöfen der Dörfer stehen Autos mit Nummernschildern aus dem sächsischen Erzgebirge oder der Magdeburger Börde: Pendler aus dem deutschen Osten, die am schwäbischen Wohlstand teilhaben.

Die Dominanz von CDU, Kirche und Adel ist vorbei

Bis vor zwei Jahrzehnten befand sich die Region fest in der Hand der Christlichdemokraten. Spuren davon sind noch heute zu sehen. Im Frühstücksraum des Gasthofs «Engel» in Herbertingen liegt die «Schwäbische Zeitung» auf, das regionale Monopolblatt: «Unabhängige Tageszeitung für christliche Kultur und Politik» heisst es im Untertitel, wobei die Unabhängigkeit des Blattes von denen in der Gegend, die nicht der CDU nahestehen, immer wieder bestritten wird. Im Leitartikel auf der Frontseite gibt eine Redaktorin den Politikern im fernen Berlin den Tarif durch: «Mit Linken kein Bündnis möglich.»

Seit der ersten Bundestagswahl 1949 haben die Kandidaten der CDU hier stets das Mandat geholt: 2013 erreichte der Christlichdemokrat Thomas Bareiss 60 Prozent der Stimmen; vor vier Jahren immerhin noch 45 Prozent. Nun deuten die Umfragen darauf hin, dass Bareiss seinen Parlamentssitz verlieren könnte: Jeweils um die 30 Prozent erreichen er und der grüne Kandidat Johannes Kretschmann derzeit.

Für Bareiss geht es um viel: Er hat darauf verzichtet, sich über die Liste seiner Partei abzusichern; gewinnt er den Wahlkreis nicht, muss sich der 46-Jährige aus dem Bundestag verabschieden. Früher, so spottet ein langjähriger Kenner der Region, hätten die Christlichdemokraten in Oberschwaben auch einen Besenstiel aufstellen können. Das funktioniere jetzt nicht mehr. Vorbei seien die Zeiten, als Kirche, CDU und Adelsfamilien wie die Waldburg-Zeil in der Region den Ton angegeben hätten. Bareiss, der innerhalb seiner Partei zu den Konservativen zählt, habe den Schuss nicht gehört.

Er wirkt, als wäre er aus der Zeit gefallen

Auf dem Fachwerk-Marktplatz von Bad Saulgau wirbt Johannes Kretschmann um Stimmen. Ein Mann mit Zwirbelbart kommt auf den Kandidaten zu: «Der Junior vom Senior!», ruft der Passant. Kretschmann ist der Sohn von Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs. Auf den Vater wird der Sohn, der auch schon 43 ist, häufig angesprochen. Seine Reaktion darauf wirkt, als hätte er sie sich längst sorgsam zurechtgelegt: Man müsse als Sohn eines berühmten Vaters mehr leisten als andere, um aus der unverdienten Aufmerksamkeit eine verdiente zu machen.

Winfried Kretschmann ist eine Symbolfigur für den politischen Wandel in Baden-Württemberg: Seit 2011 ist der Grünen-Politiker Ministerpräsident des Landes. Davor regierte in Stuttgart 58 Jahre lang die CDU.

Arnulf Hettrich / Imago

Der junge Kretschmann ist eine originelle Erscheinung: Oberschwaben mag konservativ sein, doch auch hier wirkt er, als wäre er aus der Zeit gefallen, und dies, obwohl er an diesem Vormittag für einmal ohne Gilet, Hemdkordel und Edelweissbrosche auftritt. Mit seinem wallenden schwarzen Haar changiert Kretschmann irgendwo zwischen Räuberhauptmann und Freischärler.

Sein Werdegang lässt darauf schliessen, dass er nicht in jeder Phase seines Lebens allzu zielstrebig vorging: Nach ausgedehnten Studien in Berlin arbeitete er acht Jahre lang als Redaktor für das Schweizer Onlineportal bluewin.ch. Derzeit schreibt Kretschmann einen Roman. Es handle sich um eine längere dystopische Erzählung, deren Fertigstellung sich leider wegen des Wahlkampfs ein wenig verzögere, sagt er.

Der Mann hat etwas von einem Bohémien an sich, man kann ihn sich aber auch politisierend am Stammtisch in einer Dorfbeiz vorstellen oder als Sänger in einem Kirchenchor. Vielleicht ist Kretschmann sogar der bessere Konservative als mancher Christlichdemokrat: An seinem Revers trägt er das Wappen des Landes Hohenzollern, eines Fürstentums, das längst von der politischen Landkarte verschwunden ist. Wer erkennt so ein Wappen heute überhaupt noch? Johannes Kretschmann sieht darin «ein Bekenntnis zur Kleinräumigkeit».

Von schwäbischen Katholiken und Pietisten

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Die Grünen scheinen hier mehr auf Solidität bedacht zu sein als in den grossen Städten: «Wenn ich als Handwerksmeister sehe, dass in einem Lebenslauf etwas nicht stimmt, stelle ich den Bewerber nicht ein», sagt Karl Hertkorn, 65, der seit 1998 Mitglied der Partei ist, mit Blick auf deren Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.

Kretschmann äussert sich freundlicher über die Parteiführung: «Ohne Baerbock und Robert Habeck hätte ich gar keine Chance auf einen Sitz im Bundestag», meint er. «Ich bin voller Dankbarkeit und Loyalität.» Er sei ein «Grün-Grüner», antwortet er auf die Frage, ob er sich einem Parteiflügel zurechne, «aber ich bin schon bürgerlich geimpft».

Im Tonfall des Predigers hört man den Vater heraus

Ein grosses Thema im Wahlkampf ist die Verkehrssituation: Während manche einen Ausbau der Strassen fordern, setzen die Grünen auf mehr Busse und Bahnen. Der Bau von Windkraftanlagen, von denen es hier anders als in vielen Regionen Norddeutschlands nur sehr wenige gibt, sei hoch umstritten, berichtet Kretschmann. Zudem klagten die Leute über langsames Internet und machten sich Sorgen darüber, dass die Spitäler in ihrer Nähe geschlossen werden könnten.

Den Mittelstand für sich zu gewinnen, der hier wie vielerorts in Süddeutschland das ökonomische Rückgrat darstellt, ist vielleicht die grösste Herausforderung, vor der Kretschmann steht. Am Abend haben sich die Vertreter der lokalen Wirtschaft in einem Festsaal am Rand eines Balinger Gewerbegebiets versammelt. «Der Mittelstand spricht Klartext!» heisst das Format, in dem die Kandidaten der CDU, der Grünen, der Sozialdemokraten und der FDP Rede und Antwort stehen.

Bareiss, der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium ist und so gesehen bei den Unternehmern ein Heimspiel absolviert, redet einem Abbau der Bürokratie das Wort. Auch Kretschmann klagt über «überbordenden Bürokratismus». Doch auch die Bürokratie gehöre zur Demokratie, doziert der Grüne. Im dialektal gefärbten Tonfall des Predigers, den er nun anschlägt, meint man den Vater herauszuhören. Bareiss steht mit verschränkten Armen da, wenn sein Kontrahent redet; gelegentlich dreht er auch an seinem Ehering und wirkt dadurch nervös.

Der CDU-Mann versucht, seine Erfahrung auszuspielen: «Ich bin schon länger im Parlament und weiss, wie riesig der Apparat ist», erklärt er, der seit sechzehn Jahren im Bundestag sitzt. Die Zahl der Abgeordneten könne man um die Hälfte kürzen. Das hätte die grosse Koalition aus Union und SPD doch längst tun können, kontert Kretschmann. «Nun werden den Abgeordneten stattdessen Büros und Mitarbeiter gekürzt, danke dafür», sagt er sarkastisch. Der Mann mit dem Gestus des Rebellen tönt nun, als wäre er es, der bereits in Berlin sässe und seine Privilegien verteidigte.

Thomas Bareiss hofft auf die Treue der Wähler

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