Samstag, 1. Februar 2025

Merz hat wissentlich die Brücken zu SPD und Grüne in Brand gesetzt

Wie konnte es dazu kommen, dass diese Migrationsdebatte heute alles bestimmt? Alle anderen Themen sind tot, nur die AFD jubelt, weil sie es geschafft hat ihr Thema überall zu platzieren. Das ist das eigentliche Drama hinter Allem: der Verlust an Seriosität ist der Sieg der Populisten. Denn  Migration ist längst nicht das Thema, das die Deutschen am meisten berührt.

NTV hier Von Volker Petersen  01.02.2025

Wie Merz ins offene Messer lief

Gemeinsam mit der AfD wollten CDU und CSU im Bundestag ein Gesetz für eine strengere Migrationspolitik beschließen. Anders als am Mittwoch kommt keine Mehrheit zustande. CDU-Chef Merz hat viel riskiert und nichts gewonnen.


Als Friedrich Merz am frühen Abend vor die Journalisten tritt, gibt er sich gelassen, fast heiter. "Ich verlasse die Stadt Berlin mit einem sehr guten Gefühl", behauptet der CDU-Chef. Er gehe davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland der Union nun wirklich glauben würden, "dass wir es ernst meinen mit der Wende in der Asyl- und Einwanderungspolitik", sagt er. Sieger des Tages sei der Parlamentarismus.

Er selbst war sicher nicht der Sieger. Gerade hatte er die seit Tagen mit Spannung erwartete Abstimmung verloren. Gemeinsam mit AfD, FDP und BSW wollte er das Zustrombegrenzungsgesetz beschließen und so nach dem tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg ein Zeichen raus ins Land senden: Seht her, wir reden nicht nur, wir handeln.

Bundestag stimmt gegen CDU-Gesetz: Merz' Gesetzentwurf wird zu Showdown heißer Wahlkampfphase

Das ist Merz nicht gelungen. Anders als noch am Mittwoch, als Union, FDP und AfD gemeinsam einen Antrag von CDU und CSU beschlossen, kam diesmal die Mehrheit nicht zustande. 338 Abgeordnete stimmten dafür, 350 dagegen. Zwölf Abweichler, zwei davon krankheitsbedingt, gab es in den eigenen Reihen, sie stimmten gar nicht erst ab. Bei der FDP waren es 16, beim BSW 3. Sie wollten offenbar nicht gemeinsam mit der AfD ein Gesetz beschließen.

Immerhin, die Bilder jubelnder und feixender AfD-Politiker blieben CDU und CSU und dem Rest des Bundestages erspart. Doch wie ein Gewinner fühlte sich die AfD dennoch. Sie stellt sich nun als einzige Kraft dar, die kompromisslos für eine strengere Migrationspolitik ist. Genau das wollte eigentlich Merz für die Unionsparteien erreichen. Sein Wortbruch, niemals auch nur zufällige Mehrheiten mit der AfD in Kauf zu nehmen, sollte ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit verschaffen. Nach dem Motto: Uns ist es so ernst, dass wir sogar mit denen da von der AfD abstimmen.

Eigene Reihen falsch eingeschätzt

Auch das ist ihm nicht gelungen. Stattdessen ist nun ein Riss in der Fraktion offenbar geworden. Die Abweichler kommen hauptsächlich aus dem liberalen Flügel der CDU. Deren Vertreter tragen Merz' Forderungen nach einer strengeren Einwanderungs- und Asylpolitik eigentlich mit. Aber genauso meinen sie es ernst mit der Abgrenzung zur AfD. Schon die gemeinsame Abstimmung am Mittwoch für einen folgenlosen Antrag kostete viele Überwindung. Schon da gab es acht Abweichler. Dieses Ergebnis machte deutlich, dass es an diesem Freitag knapp werden würde. Zumal es in der FDP ähnlich rumorte. Die Intervention Angela Merkels am Donnerstag war da nur eine Warnung mehr.

Merz geht "all in" und verliert

Auch wenn es "nur" zwölf Abweichler waren, zwölf von 196, so dürften viele mit der Faust in der Tasche abgestimmt haben, etwa Armin Laschet. Der liberale und soziale Flügel ist zwar seit dem Ende der Ära Angela Merkels nicht mehr die dominante Kraft. Er ist aber noch da. Darauf war die CDU immer stolz: Volkspartei mit verschiedenen Strömungen zu sein. Ein Vorsitzender muss diesen Laden zusammenhalten. Das ist ihm nicht gelungen.

Nun kann die AfD sagen: Die Union ist gar nicht geschlossen für eine andere Migrationspolitik. Merkel hat immer noch das Sagen. So wie sie es am Freitagabend getan hat. Die Geschlossenheit der Union und ihre Rückendeckung für Merz, vielleicht das kostbarste Gut im Wahlkampf, stehen jedenfalls infrage. Merz hat den Bogen überspannt, die eigenen Reihen falsch eingeschätzt.

Brücken zu SPD und Grüne in Brand gesetzt

Und wie soll es eigentlich nach der Wahl am 23. Februar weitergehen? Dann wird die Union einen Koalitionspartner brauchen. Wenn es nicht die AfD sein soll, bleiben noch SPD und Grüne. Mit dem Kurs der vergangenen Woche zwingt Merz sie geradezu, Wahlkampf gegen ihn persönlich zu machen. Wie sehr Merz vor allem SPD- und Grünennahe Wähler aufregt, hat sich an den Demonstrationen seit Mittwoch gezeigt. Auch hier hat er einige Brücken in Brand gesetzt.

Union scheitert mit Gesetz zur Migrationsbegrenzung

Einen größeren Gefallen hätte er den beiden Parteien mit seinem AfD-Flirt jedenfalls nicht tun können. Die nun gewonnene "Klarheit" wird ihm auch nicht viel nützen. Denn wenn er weiter eine Koalition mit der AfD ausschließt, muss er ja mit SPD oder Grünen regieren. Aus der Nummer kommt er nicht heraus. Ein Parteivorsitzender muss die strategische Lage der eigenen Partei stärken. Das ist ihm ebenfalls nicht gelungen.

Merz hat in einer Woche viel von dem eingerissen, was er in drei Jahren mühevoll aufgebaut hat: Eine konservativere Ausrichtung der CDU, insbesondere in der Migrationspolitik bei ebenso konsequenter Abgrenzung zur AfD. Das war der Deal: konservativ, aber nicht rechtsextrem. Migration begrenzen, Abschiebungen forcieren, aber aus der Mitte heraus. Ohne rhetorische Baseballschläger.

Nur die Wahl zwischen zwei Übeln

Merz nimmt das immer noch für sich in Anspruch. Er wirft jetzt Rot-Grün vor, nicht zu einer Migrationswende bereit gewesen zu sein. Aber hinterher die Schuld anderen zuweisen, das kann jeder. Er hat nicht bewiesen, unter Hochdruck schwierige Verhandlungen über die Parteigräben hinweg führen zu können. Er hat sich hinreißen lassen, den Weg mit der AfD zu nehmen, den sich die Partei selbst verboten hatte. Er hat viel riskiert und nichts gewonnen.

Vor allem aber hat er die Partei in eine Lage geführt, in der sie nur noch zwischen zwei Übeln wählen konnte: Augen zu und durch und mit der AfD stimmen - entgegen allen vorangegangenen Beteuerungen - oder im letzten Moment einen Rückzieher machen und die eigene Glaubwürdigkeit auf die Art beschädigen. Um es mal so zu sagen: Alternativlos war das nicht.



Merz hoffte darauf, mit seinem Vorpreschen den Unionsparteien noch einmal richtig Schwung im Wahlkampf zu geben. Vielleicht gelingt das sogar. Vielleicht schätzen die Wähler ja tatsächlich die neu gewonnene "Klarheit". Möglich ist alles. Wenn er Pech hat, läuft es aber so: Die einen desertieren zum Ausländer-raus-Original AfD, die anderen fühlen sich abgestoßen und suchen sich eine andere Partei, die FDP vielleicht. Oder gleich zu SPD und Grünen. Immerhin: Langweilig ist der Wahlkampf jedenfalls nicht mehr.


Zeit hier  Von Fabian Reinbold, Erfurt •1. Februar 2025

Friedrich Merz: Merz lacht, er prustet fast

Am Ende einer denkwürdigen Woche schaut Friedrich Merz wie ein Entertainer auf die Geschehnisse im Bundestag zurück. Er glaubt noch immer: Seine Wette kann aufgehen.

Am späten Freitagabend, nach seiner Niederlage im Bundestag, am Schluss der wohl entscheidenden Woche in seiner politischen Karriere, tritt ein ganz anderer Friedrich Merz auf eine Bühne. Gegen 18 Uhr hat der Kanzlerkandidat der Union das Reichstagsgebäude verlassen. Ausgelaugt, verschwitzt gab er ein letztes Statement ab, in dem er seinen neuerlichen Tabubruch im Parlament noch einmal zu erklären versuchte.

Dann ist Merz weg und taucht dreieinhalb Stunden später wieder auf. 300 Kilometer südwestlich, ein Saal im Kongresszentrum Erfurt: ein paar Hundert Leute in Stuhlreihen, Einmarsch zu rhythmischem Applaus, bisschen Händeschütteln, ein lange geplanter Wahlkampfauftritt. Und Friedrich Merz, der die Woche in der Pose des Kompromisslosen ausharrte, fällt sogleich in einen Plauderton: "Ich lass Sie mal am Tag teilhaben", beginnt Merz, Hand in der Hosentasche. "Ich hatte heute ein Erlebnis der besonderen Art." 

Der Mann, der die Grundfesten der deutschen Politik erschüttert hat und dabei die halbe Nation gegen sich aufgebracht hat, wirkt tatsächlich gelöst, mit sich im Reinen. Dabei ist seine Autorität erschüttert. Der CDU-Chef wollte "All-in" gehen bei seiner Migrationsoffensive und drehte den Wahlkampf nach dem Messerangriff von Aschaffenburg auf das Thema Asyl. Dann verzockte er sich auf spektakuläre Art und Weise. 

Am Freitag Tabubruch Nummer zwei

Am Mittwoch stand die erste Mehrheit im Bundestag mit der AfD – allein um einen symbolischen Fünf-Punkte-Plan zu beschließen, der keinerlei rechtliche Folgen hat. 

Am Freitag dann Tabubruch Nummer zwei, der Kampf für eine Mehrheit für sein sogenanntes Zustrombegrenzungsgesetz mit FDP, AfD und BSW – den er dann auch noch verliert. Ein Tag, an dem sich die Parteien der Mitte, ausgelöst durch Merz' Manöver, öffentlich zerlegen.  Und sonst? Zehntausende Menschen demonstrieren vor den Büros der CDU im Land, die Altkanzlerin rügt seinen Wortbruch, Michel Friedman tritt aus der Partei aus – seinetwegen. Und nun stehen Friedrich Merz, dem der Einzug ins Kanzleramt kaum noch zu nehmen war, und seine Zukunft infrage.

Auch in Erfurt wird vor der Halle protestiert, auf Plakaten dominieren die Wortspiele von "SchMerz" bis "Akutes Merzrasen", doch als der Kandidat mit zwei Stunden Verspätung aus Berlin eintrifft, ist der Protest schon vorbei. Drinnen, auf der Bühne, wirkt die Lage des Kandidaten Merz wenig bedrohlich, denn er selbst gibt jetzt einen Schwank zum Besten von dem dramatischen Tag im Bundestag, an dem die politische Mitte daran scheiterte, zusammenzukommen – und die AfD schon wieder frohlocken durfte. 

"Ich hatte ja Besuch von den Fraktionschefs", plaudert Merz über die Gespräche, in denen man doch noch eine Lösung zum Gesetzentwurf finden wollte, ohne die AfD. "Und als ich die alle zusammen bei mir hatte, habe ich verstanden, warum die Ampel nicht überlebt hat." Er hält sich vergnügt die Hand über den Bauch. "Ich habe so was noch nie erlebt." Gejohle im Saal. "Da war nur Gift, da war ein normales Gespräch überhaupt nicht möglich." Merz lacht, er prustet fast.

Er wirkt in diesen Minuten wie einer dieser amerikanischen Late-Night-Hosts, die ebenfalls in Anzug und Krawatte, Hand in der Hose, in einem Monolog über die schlimmen Nachrichten des Tages scherzen und sie so etwas erträglicher machen. Mit dem Unterschied, dass Merz selbst Dreh- und Angelpunkt der schlimmen Nachrichten des Tages ist.

Friedrich Merz: "Mir macht das mit der AfD ja auch keinen Spaß, aber Tor zur Hölle?": Friedrich Merz 

In seinen Erzählungen in Erfurt wirkt das Drama in Berlin wie eine putzige Anekdote. Der Kollege Mützenich, erzählt Merz weiter und fällt jetzt in eine übertrieben düstere Tonlage, "hat das Tor zur Hölle geöffnet, heieieieiei".  Tatsächlich hatte der SPD-Fraktionschef die drastische Metapher benutzt, um Merz davor zu warnen, noch einmal mit der AfD abzustimmen. 

"Kann es nicht ein bisschen kleiner sein", sagt Merz nun belustigt. "Mir macht das mit der AfD ja auch keinen Spaß, aber Tor zur Hölle?" Mützenich und Merz, die Chefs der beiden großen Bundestagsfraktionen, hatten ein gutes Verhältnis, das nun womöglich auch Teil der Schadensbilanz dieser Tage ist.

Erst nach zehn Minuten geht Merz in seine übliche Wahlkampfrede über, in der es um Leistungsbereitschaft und Wettbewerbsfähigkeit geht, darum, dass er das Wort Bürgergeld abschaffen und Donald Trump mit Selbstbewusstsein gegenübertreten will.

Doch kann sein Wahlkampf überhaupt wieder in eine Normalität finden – nach dieser Woche? Mit dem Satz "Wir müssen diesen Sturm jetzt aushalten" schwor er seine Abgeordneten frühmorgens am Freitag noch einmal ein. Da sollte auch Hoffnung mitschwingen, dass bald andere Witterung aufziehen könnte. Elf Abgeordnete folgten dem Fraktionschef bei der Abstimmung über seinen Gesetzentwurf dann nicht. Dreimal tagte die Fraktion allein am Freitag, um zu beraten. 

Auch manche Unterstützer in der Fraktion finden es schwierig, eine überzeugende Strategie des Chefs zu erkennen. Andere sind erleichtert, dass Merz Tatkraft gezeigt habe. Der Worst Case, sagt einer, wäre gewesen, man hätte zurückgezogen und nicht gehandelt. Und in Erfurt unterstützt ihn der neue Ministerpräsident Mario Voigt, der einst ins TV-Duell mit dem rechtsextremen AfD-Chef Björn Höcke ging: "Der Konflikt heißt CDU oder AfD", sagt Voigt. "Wir sind diejenigen, die die AfD kleinkriegen werden."  

Wohl unwiderruflich im Migrationswahlkampf

Am Montag trifft sich die CDU in Berlin zu einem Parteitag, dort soll die Wirtschaftspolitik wieder ins Zentrum gerückt werden – dies sollte schließlich auch der ursprüngliche Schwerpunkt für diesen Wahlkampf werden, weil der Union bei diesem Thema die höchste Kompetenz zugesprochen wird. Doch Merz hat die Kampagne wohl unwiderruflich zum Migrationswahlkampf umgebogen. Die Woche, in der er um jeden Preis ein Signal in der Asylpolitik setzen wollte, wird seine Kandidatur definieren, womöglich seine politische Karriere.

Merz argumentiert stets, damit dem Wunsch einer Mehrheit in der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Die große Frage bleibt, ob das Manöver, das im Bundestag so großen Schaden angerichtet hat, bei den Wählerinnen und Wählern verfängt. Die Union hofft weiterhin darauf, der AfD noch ein paar Prozentpunkte abnehmen zu können. Nur dann könnte man das Manöver des Kandidaten als gelungen bezeichnen.

Bislang liefern die Erhebungen der Demoskopen dazu keine klaren Aussagen, erst die kommende Woche dürfte deutlichere Tendenzen zeigen. Zumindest was die Umfragen angeht, ist der Ausgang der großen Wette des Friedrich Merz offen. 

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