Montag, 25. November 2024

"Wenn wir es schaffen, hier im Mittelmeer etwas zu verändern, dann schaffen wir es überall."

hier Von Anne Backhaus und Maria Feck Aus der ZEIT Nr. 48/2024   23. November 2024

Seegraswiesen: Gegen die Ohnmacht

Seegraswiesen schützen das Klima – und verschwinden aus dem Mittelmeer. Der Meeresbiologe Manuel Marinelli möchte sie retten, Büschel für Büschel.


Manchmal fragt sich Manuel Marinelli, ob all seine Mühe irgendetwas bringt. Ob die ganze Arbeit überhaupt Sinn macht. Ob er genug erreicht. Er darf sich das nicht allzu oft fragen, denn deprimiert zu sein, kann er sich nicht leisten. Zu wenig Zeit, zu viel zu tun: Er will das Mittelmeer retten.

Auf den ersten Blick gibt es stressigere Arbeitsplätze als seinen. Neben Marinelli wippt sacht die Küstenlinie im Nordosten von Malta auf und ab. Am Strand liegen Touristen in der Sonne. Marinelli, 41, sitzt barfuß, in Shorts und T-Shirt auf einer Holzbank am Heck seines Segelboots. Von dort ist durch das türkisblaue Wasser gut zu erkennen, was den Meeresbiologen und Aktivisten antreibt: der Meeresgrund. Heller Sand, wie im Urlaubsprospekt. "Terrible", sagt Marinelli, "schrecklich". Er lehnt sich an die Reling, zeigt mit ausgestrecktem Arm auf einen grün-braunen Fleck etwas weiter weg. "Da hinten, da wächst noch was", sagt Marinelli. Er macht mit dem Arm eine ausladende Bewegung zurück zum Boot. "Es müsste aber eigentlich bis hier alles voll damit sein." Voll mit Seegras.

Die Büschel des Neptungrases, Posidonia oceanica, wachsen ähnlich wie Wiesen auf dem Meeresgrund. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war ein großer Anteil der mehr als 40.000 Kilometer Küstenline des Mittelmeers mit Seegraswiesen besiedelt. Heute ist mindestens ein Drittel davon verschwunden. Marinelli geht sogar von mehr aus. In der Ägäis oder Kroatien seien gut 80 Prozent zerstört.

Manuel Marinelli
41, Meeresbiologe, ist seit sieben Jahren mit seinem Segelschiff "Waya Waya" auf dem Mittelmeer unterwegs. Er setzt sich für den Meeresschutz ein, und sein Schiff stellt er Interessierten als Forschungsschiff für Projekte zur Verfügung.

Als er vor gut zehn Jahren vor der kroatischen Stadt Pula ins Wasser sprang, sah er einen leer gefegten Meeresgrund. Dort, wo er nur wenige Jahre zuvor über "endlose, wunderschöne Seegraswiesen" getaucht war und ihm Fischschwärme entgegenkamen. "Es war schmerzhaft", sagt Marinelli. "Und keiner wusste, was passiert war. Keiner interessierte sich dafür."

Das Seegras wird oft von Ankern herausgerupft, durch Schleppnetze geradezu abgemäht. Es wird bei Bauprojekten zerstört, wenn zum Beispiel Häfen vergrößert werden. In einigen Buchten entfernen Anwohner auch alles an Seegras, damit das Wasser für die Touristen besser aussieht. Türkis eben.

Der Verlust ist tragisch: Seegraswiesen sind wichtige Ökosysteme, eine Art Superkraft im Meer. Sie sichern Küsten, bremsen Wellen und stabilisieren sandigen Grund mit ihren Wurzeln. Sie bieten unzähligen Meerestieren Schutz und Nahrung. Und sie tragen erheblich zur Bekämpfung des Klimawandels bei, indem sie große Mengen an Kohlenstoff speichern und Sauerstoff ins Meer abgeben. "Lunge des Meeres" werden sie genannt.

Rund um das Mittelmeer gibt es einige Vorhaben, um Seegras zu erhalten und wachsen zu lassen – teilweise von der EU mit Millionenbeträgen gefördert. Der Österreicher Marinelli, der nach seinem Tauchgang in Kroatien das gemeinnützige "Project Manaia" gründete, erhält nicht annähernd so viel Geld, er wird unter anderem von Greenpeace und der Deutschen Stiftung Meeresschutz gefördert. Er verabscheut die Bürokratie, im Wissenschaftsbetrieb wie in Umweltorganisationen. Zu oft habe er erlebt, dass mit viel Geld kaum etwas erreicht werde. Seine Organisation agiert auf Mikroebene.

.... In dieser Saison hilft ihm außerdem Alexia Kalosaka. Die Griechin, 22, hat als Kind selbst erlebt, wie das Seegras an ganzen Küstenabschnitten aus dem Meer gerupft wurde. Heute ist sie Biologin und studiert in Utrecht Meereswissenschaften. Seit Wochen wohnt sie auf Marinellis Boot, hat mit Tauchern haufenweise Müll aus dem Meer geholt. Viel Plastik und viele Autoreifen, außerdem Waschmaschinen, Staubsauger, Bettgestelle. Und sie hat immer wieder Fischern, NGOs und Anwohnern erklärt, warum der Seegrasschutz wichtig ist.

"Wenn keiner mehr etwas verändern will,
ist die Menschheit verloren"


....Auf einem Planeten, vor dessen Zerstörung permanent gewarnt wird, auf dem das Ausmaß der Katastrophe so groß ist, wirkt das eigene Handeln schnell viel zu klein. Gegen dieses Gefühl sucht Marinelli Mitstreiter.....

Dem Mittelmeer geht es zu schlecht, es erwärmt sich schneller als andere Meere. Der Sehnsuchtsort von Millionen von Urlaubern macht Schlagzeilen mit Feuerfischen oder giftigen Hasenkopf-Kugelfischen aus dem Roten Meer, die sich in dem wärmeren Wasser wohlfühlen und den einheimischen Ökosystemen schaden. Das Mittelmeer ist überfischt. Es hat eine der weltweit höchsten Konzentrationen an Plastikmüll.

....
Hin und wieder taucht sie gemeinsam mit Marinelli. Der war früher stundenlang im Wasser, heute bleibt er meist an Bord. Er kann sich nicht mehr so gut über Schnecken oder Fische freuen, er weiß ja, wie es früher einmal aussah. Trotzdem ist Marinelli so etwas wie die Antithese der Ohnmachtsgefühle, die all jene Menschen kennen, die mit dem Handy auf dem Sofa liegen, durch die Nachrichten scrollen und Klimaangst spüren. Die "Solastalgie" empfinden, das Gefühl des Verlustes angesichts der schmerzvollen Erkenntnis, dass die Erde zerstört und nie mehr dieselbe sein wird.

Aktivisten und Wissenschaftler aus aller Welt können mitreisen
.....
Aufhören? "Für mich keine Option"


...Die Mannschaft wechselt permanent. Gegen eine Unkostenpauschale können Aktivisten und Wissenschaftler aus aller Welt mitreisen. Viele Studierende arbeiten hier zum ersten Mal auf dem Meer. Die Segeljacht ist über Monate ausgebucht. Die Saison hat Marinelli in elf Abschnitte à zwei Wochen eingeteilt. Die meisten Teilnehmenden bleiben für einen Abschnitt, manche länger. In dieser Woche leben neun Frauen, die Jüngste 18 und die Älteste 66 Jahre alt, und ein Skipper mit an Bord.

Auf der Waya Waya gibt es kaum Privatsphäre und keine Süßwasserdusche. Gekocht wird vegetarisch und möglichst mit Lebensmitteln, die lokal angebaut werden. Marinelli denkt bei allem, was er tut, an das Wohl des Planeten. Manchmal hat er deshalb mit seinen Mitreisenden zu kämpfen. Zum Beispiel wenn einige selbst aus nahe gelegenen Ländern mit dem Flugzeug anreisen. Oder wenn sie nicht verstehen, dass sie ihr Handy nicht immer aufladen können......

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen