23. Juni 2021, in der Süddeutschen Zeitung hier
Ingo Blechschmidt (vorne) besetzt Wälder, weil sie fürs Klima wichtig sind. Als Mathematiker rechnet er vor, wie lange es dauert, bis das durch Rodungen freigesetzte CO2 wieder eingespart ist. Die Baumhäuser sind für ihn gewaltfreier, ziviler Ungehorsam.
Von David Wünsche
Als Ingo Blechschmidt am vergangenen Samstagmorgen in den Forst Kasten marschiert, weiß er schon, dass er ihn womöglich in Gefangenschaft wieder verlassen wird. Seinen Personalausweis hat er griffbereit. Eine Telefonnummer für den Notfall wird er sich in den kommenden Stunden noch einprägen. Und falls es ganz schlimm kommt, hat er einen Kollegen gebeten, seine Vorlesung zu übernehmen. Blechschmidt sagt: "Wenn es darum geht, Wälder zu schützen, darf es keine Kompromisse geben."...
Der 32-Jährige ist Teil einer Gruppe von Aktivisten, die seit einiger Zeit dagegen protestieren, dass im Forst Kasten südwestlich von München bis zu 10 000 Bäume einer riesigen Kiesgrube weichen sollen. Der Sozialausschuss der Stadt München hat die Rodung bereits genehmigt. Weil es sich bei dem Waldstück um besonders schützenswerten Bannwald handelt, könnte das Landratsamt die Entscheidung noch kippen. ..
Natürlich heißen alle anders. Aber sie reden sich mit ihren "Waldnamen" an. Viele kennen die echten Namen der anderen gar nicht. Was sich nach einer kindsköpfigen Eigenart anhört, hat einen ernsten Hintergrund: Manche Aktivisten wollen nicht von der Polizei identifiziert werden. Sie sind alle junge Menschen zwischen 18 und 32. Ein Eintrag im Führungszeugnis oder auch der eigene Klarname in der Presse könnte Konsequenzen haben.
Nur Blechschmidt schert sich nicht darum; er heißt hier ganz normal: Ingo. Wegen seines Abschlusses hat er keine Existenzängste. Blechschmidt ist Doktor der Mathematik. Seine Vorlesungen hat er schon per Zoom aus dem Baumhaus gehalten. Trotzdem setzt der 32-Jährige für den Aktivismus seine akademische Karriere aufs Spiel. Denn während seine Kolleginnen und Kollegen an der Universität neben der Lehre forschen, nutzt der Augsburger seit etwa zwei Jahren fast seine gesamte Freizeit, um für mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen.
Der Wandel kommt, ob ihr wollt oder nicht
Es war eine Rede von Greta Thunberg, die ihn zum Umdenken brachte. "Change is coming, whether you like it or not", sagte die junge Schwedin auf einem UN-Klimagipfel. Der Wandel kommt, ob ihr wollt oder nicht. Dieser Satz rüttelte Blechschmidt auf. Da habe er gemerkt, dass seine mathematischen Beweise im unbekannten Teilgebiet der Topostheorie die Gesellschaft wenig kümmern. Danach demonstrierte er zunächst bei "Fridays for Future", dann organisierte er ein Klimacamp und zeltete monatelang vor dem Augsburger Rathaus. Jetzt besetzt er Wälder. Zunächst den Dannenröder Forst in Hessen, wo eine Autobahn gebaut werden sollte. Und nun also den Forst Kasten. "Ich bin niemand, der Bäume umarmt und barfuß durch die Gegend läuft", sagt Blechschmidt. Aber mit der Physik der Klimakrise könne man nicht verhandeln. "Meine mathematische Identität zwingt mich, diese Sachen zu machen."
Sein Protest folgt einem einfachen Kalkül: Wälder sind gigantische CO2-Speicher; und wenn sie abgeholzt werden, dauert es viele Jahrzehnte, bis das CO2 durch Aufforstungen wieder eingespart werden kann. Weil Demonstrationen gegen Rodungen bisher wenig wirksam waren, plädiert Blechschmidt dafür, die Wälder zu besetzen: gewaltfreier, ziviler Ungehorsam also. Denn er glaubt: Wenn solche Besetzungen Alltag werden, überlegen die Behörden künftig länger, ob es sich wirklich lohnt, den Wald für eine Autobahn oder eine Kiesgrube abzuholzen. Im Dannenröder Forst hat die Räumung der Baumhäuser durch die Polizei über die Monate mehr als 30 Millionen Euro gekostet. Geht es nach Blechschmidt, soll es auch im Forst Kasten teuer werden. Es sind immense Kosten, die er und seine Mitstreiter der Allgemeinheit aufbürden - in der Überzeugung, dass die Gesellschaft letztlich profitiert.
Während Blechschmidt über Emissionen und Kippelemente des Klimasystems spricht, hängen zehn Meter über ihm Legolas und Legolas wie zwei Spinnen in einem Netz aus Kletterseilen. Ein Legolas ist eine Frau und heißt so, weil sie den Elfen aus Herr der Ringe toll findet. Der andere Legolas ist ein Mann und heißt so wegen seiner langen blonden Haare. Zwischen den beiden schwingt die Baumhaus-Plattform hin und her, einige Fichtennadeln rieseln herunter, dann fliegen ein toter Ast und zwei Plastikplanen durch die Luft. Die beiden Legolasse arbeiten unbeirrt weiter. Die weibliche Legolas bedient einen Flaschenzug, an dessen einem Ende die Plattform hängt. Ans andere Ende klammert sich der männliche Legolas als Gegengewicht. Mehr als zwei Stunden sind die beiden damit beschäftigt, das Baumhaus auf 15 Meter Höhe zu ziehen: Dorthin, wo die Polizisten mit ihren Leitern nicht hinkommen.
Die beiden Legolasse sind mit 18 Jahren die jüngsten Mitglieder der Truppe. Einer von ihnen ist noch Schüler. Außerdem sind hier ein Kunstschlosser, ein Software-Entwickler, eine Sozialarbeiterin, eine Studentin und ein Physik-Promovend. Die meisten von ihnen kommen aus München oder der Umgebung. Sie alle haben unterschiedliche Beweggründe, warum sie hier sind. Mücke sagt: "Wir schaffen Sichtbarkeit für den Wald." Merlin sagt: "Ich habe irgendwann den Grundsatz gefasst, dass das Gemeinwohl wichtiger ist als mein eigenes." Und die weibliche Legolas sagt: "Ich habe eine persönliche Beziehung zu diesem Wald. Wenn man dann mitbekommt, dass er gerodet werden soll, ist das besonders schlimm."
Legolas ist in einem Dorf wenige Kilometer entfernt aufgewachsen. Im Forst Kasten geht sie joggen und spazieren, manchmal sitzt sie hier auch mit Freundinnen und Freunden am Lagerfeuer. Sie arbeitet als Zimmerin und hat an der Baumhaus-Plattform mitgebaut. Wie Blechschmidt kam die 18-Jährige vor etwa zwei Jahren durch "Fridays for Future" zum Aktivismus. "Ich hatte das Gefühl: Die Klimakrise ist eine krass wichtige Sache und wir müssen etwas tun." Von einem Tag auf den anderen wurde Legolas Veganerin und schwänzte freitags die Schule, um auf die Straße zu gehen. Irgendwann reichte ihr das nicht mehr aus. In der Nähe von Ravensburg nahm sie an einer Waldbesetzung teil und lebte mehrere Wochen lang zwischen den Baumwipfeln. Dort lernte sie, welche Kletterknoten wie viel Gewicht aushalten und wie man ein Baumhaus baut, ohne den Baum zu beschädigen. Als dann bekannt wurde, dass im Forst Kasten fast zehn Hektar Wald abgeholzt werden sollen, war für sie klar: Damit die Leute das mitbekommen, müssen auch hier Baumhäuser hin. Als vor zwei Wochen das Spezialeinsatzkommando den Wald räumte, berichteten viele Zeitungen darüber. "Dieses krasse Medienecho hätten wir mit einer Kundgebung in Stockdorf nicht erreicht."
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